Gesammelte Erzählungen von Jakob Wassermann. Jakob Wassermann

Gesammelte Erzählungen von Jakob Wassermann - Jakob Wassermann


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      Peter schritt rasch und mit angstvollem Herzen weiter. Kein Mensch begegnete ihm; kein Haus, keine Wirtschaft war in der Nähe. So still war es und so voll Frieden wie in einer Kirche. Wenn er innehielt, um Atem zu schöpfen, konnte er weit in der Ferne den Schrei des Käuzchens vernehmen und er fürchtete sich davor. Einmal biß er sich auf die Unterlippe, um nicht laut aufzuweinen. Was wird die Mutter sagen, murmelte er beständig vor sich hin. Da entsann er sich dunkel, daß ein schwerer Traum seinen Schlaf beunruhigt hatte. Aber er wußte nicht mehr, was er geträumt hatte. Er zermarterte sich förmlich, dachte tief und andächtig nach, aber es war, als necke ihn der Traum noch jetzt, je mehr er sich quälte, je ferner fühlte er sich seiner Spur. Doch hatte er die Empfindung, als sei dadurch eine Lücke in seinem Innern entstanden; die Vorstellung des bösen Traums beunruhigte sein Gemüt, und die Furcht vor dem Unbekannten ließ das nur Geträumte zu einer lebendigen Gefahr anwachsen.

      Schon betrat er die Straßen der Stadt, da hörte er elf Uhr vom Rathausturm schlagen. Er seufzte erleichtert auf, denn er hatte geglaubt, es sei schon drei Uhr oder gar vier Uhr. Allerdings, wie einsam war es auch auf all den Gassen! Kaum daß man in den Stockwerken der Häuser noch hie und da ein Licht gewahrte. Keine Laterne brannte. Zauberhaft nahm es sich aus, wenn so die Straße in Licht und Finsternis geteilt schien, auf der einen Seite der Mondschein, der die nüchternen Bauten verschönte und alles Häßliche an ihnen versteckte. Die scharfgeschnittenen Schatten, die es überall gab und dann der tiefgrüne Nachthimmel mit ein paar schüchternen Sternen, die nur wie hingehaucht erschienen ... Über all dem schwebte dieser leise, leichte, duftige Frühlingsnebel, unbeweglich und traumhaft.

      Bald stand Peter am Wohnhaus in der Theaterstraße. Das Thor war versperrt und er mußte läuten. Niemand kam. Sein Herz klopfte zum Zerspringen, als er zum zweitenmal den verrosteten Glockenknopf zog. Ein schriller, zirpender Laut drang bis auf die Straße heraus.

      Endlich wurde oben ein Fenster aufgerissen, und der Kopf der alten Magd wurde sichtbar. Ihre große, weiße Haube ragte weit vornüber. Sie grunzte, rief etwas ins Zimmer zurück, schlug das Fenster wieder zu, und gleich darauf polterte sie die Stiege herab und empfing den Knaben mit jener Flut wohlgemeinter Schmähungen, die oft größere Freudenbezeugungen sind als Küsse. Der Vater sei fort, um ihn zu suchen, und die Mutter weine sich die Augen aus dem Kopf.

      Als er furchtsam die Thür des Wohnzimmers öffnete, sah er die Mutter am Tisch sitzen. Aber sie weinte nicht. Sie blickte den Knaben traurig an, doch so, als ob sie ganz vergessen hätte, daß sie seinetwegen Sorgen gehabt, und als ob ganz andere Bekümmernisse sie jetzt erfüllten, wie eine Frau, welche die Zukunft ihrer Kinder in dunklen Farben sieht. Sie sagte kein Wort zu Peter.

      Der Knabe stand an der andern Seite des Tisches und wagte nicht, die Augen aufzuschlagen. Er heftete seine Blicke auf die Zeitung und immerfort las er die Kapitelüberschrift des Romans. Immerfort las er das: »Achtzehntes Kapitel. Alma wird gerächt.« Dabei aber schlug das Ticktack der großen Wanduhr unaufhörlich an sein Ohr, und sogar das schnelle Ticken der kleinen Taschenuhr vernahm er, die der Mutter gehörte, und die an der Wand über der Kommode hing. Bald darauf begann Barbara in der Küche geräuschvoll mit den Tellern zu hantieren, und diesen Lärm empfand er im Innern wie einen Trost.

      Als sein Blick nach einiger Zeit die Mutter traf, hatte sie sich blaß und abgespannt in den Stuhl zurückgelehnt. Und seltsam, in diesem Moment kam es wie eine Erleuchtung über ihn, und der Traum im Wald stand lebhaft und in aufdringlichen Farben vor seiner Seele. Aber noch immer redete er nicht. Das war ihm unmöglich, hinzugehn zur Mutter, ihre Hand zu nehmen und zu sagen: verzeih mir.

      »Wo warst du?« fragte endlich die Mutter mit einem Stirnrunzeln, das so klang, als wäre sie von einer Last schwerer Träume erlöst worden. Dann erst wiederholte sie, gleichsam sich selbst findend, in strengerem Ton und mit drohendem Stirnrunzeln: »Wo warst du?«

      Peters Finger spielten mit den Fransen des Tischtuchs, und seine Blicke suchten am Boden umher. Und so oft auch die Mutter fragen mochte, der Knabe schwieg beharrlich. Nicht aus Trotz, nicht aus Verstocktheit, nicht aus Furcht, sondern nur deshalb, weil er nicht reden konnte. Er vermochte nicht ein einziges Wort zu finden. Er kam sich in diesem Augenblick so schuldbeladen vor und zugleich so arm und weltverloren, daß er sich völlig in diese Vorstellungen voll Schmerz und Trauer vertiefte.

      Da hörte man Schritte auf der Treppe, und die Mutter nahm ihn rasch bei der Hand. »Der Vater kommt,« sagte sie, »er wird dich schlagen. Schnell, geh hinein und schlüpf ins Bett. Ich will ihm sagen, daß du schläfst. Und jetzt mußt du brav sein, und wenn du brav bist, sag ich es Lizzi. Lizzi kommt nämlich morgen. Freust du dich? Du hast sie doch schon lange nicht mehr gesehn? Das ist jetzt ein großes, schönes Mädchen geworden und du mußt recht nett mit ihr sein.«

      Die regelmäßigen Atemzüge der beiden kleineren Geschwister drangen an sein Ohr und vom Wohnzimmer her kam jetzt die sonore Stimme des Vaters in beständigem Gemurmel herüber. Das Mondlicht fiel durchs Fenster und zeichnete vier Parallelogramme auf den Boden, über denen der Schatten des Gardinenmusters wie ein Nebel gebreitet war.

      Da hörte er des Vaters Stimme hart und hastig: »Es muß sein, Agnes. Das Geld muß ich haben. Ich bedaure, daß ich so viel Liebe an dich verschwendet habe, wenn du mir nicht einmal dies kleine Opfer bringen kannst.«

      Darauf erwiderte die Mutter eindringlich und entschieden: »Niemals, Rudolf! Das Geld ist für unsere Kinder deponiert worden und kein Pfennig soll davon genommen werden. Du hast es damals selbst gewollt. Ich erinnere mich noch genau, wie du kamst. Oder soll das auch nur eine von deinen großen Redensarten gewesen sein?«

      »Ich mache keine Redensarten. Du machst Redensarten. Und wenn du eine vernünftige Frau wärst, würdest du wissen, was du jetzt zu thun hast. Du siehst doch, daß ich zu Grunde gehe ...«

      »Du bist ein Egoist,« erwiderte die Mutter so leise und so traurig, daß von diesem Tage an das Wort Egoist in Peters Vorstellungen als etwas Ungeheures und Furchteinflößendes sich entpuppte. »Du hast nie für andere Leute ein Gefühl gehabt. Nur für dich. Man braucht dich ja nur reden zu hören. Selbst wenn du von andern sprichst, sprichst du nur von dir selbst; heut abend, wie Peter nicht kam, hast du nur immer über die Sorge gejammert, die dir der Bub macht, aber ...«

      »Schweig, schweig, du bist lächerlich,« flüsterte der Vater heftig und sehr erregt.

      »Schweigen? Ich hab elf Jahre lang geschwiegen. Ich gebe mein Herzblut für euch hin, sagst du immer. Aber ich, ich für meinen Teil finde gar nichts Besonderes in dem, was du thust. Erstens sitzest du jeden Abend im Wirtshaus und spielst und bist vergnügt und ich bin dir gleichgültig. Es ist dir gleichgültig, was ich treibe. Wir waren eine gute Partie, nun ja, das ist eigentlich alles. Du hast nie gewußt, was eine Frau ist und was sie sonst noch für Sehnsucht haben könnte außer ihrem Wochengeld und ... Ich darf zu Grunde gehen in Langeweile und Einsamkeit, du hast ja deine Gesellschaft beim Kartenspiel, und die ist dir lieber als Frau und Kinder .... nein, nein, denke nur nicht, daß ich was von dir begehre. Ich habe nie was gewollt, aber was du jetzt von mir willst, o ich durchschaue dich. Dich kenn ich!«

      Noch viele Worte hörte Peter, aber es waren nur Worte für ihn. Langsam kleidete er sich aus und kroch ins Bett. Seine Bewegungen waren alle schwer, fast getragen vom Nachdenken. Ja, er kam sich so feierlich vor, so viel würdevoller als sonst und viel männlicher. Und er glaubte alles zu verstehen, was er gehört hatte. Zum erstenmal schaute er in das Leben, das vor ihm lag, hinein wie in ein dunkles Loch. Ein leichter Schreck ergriff seine Seele, und er fühlte etwas wie Schwäche gegenüber den künftigen Tagen. Diese Welt erschien ihm vollgepfropft mit unheimlichen Schicksalen und häßlichen Leiden. Sein Geist flüchtete ängstlich in die alten Zeiten der Sagen und der Heldenthaten und das Übernatürliche und Traumhafte war ihm das allein Begreifliche und Berechtigte. Und er schloß die Augen und Bild auf Bild, blaß und blasser schwebte ihm vorbei, und Märchen und Wunder erfüllten sein Herz und seine Träume waren leicht und golden.

      IV.

       Inhaltsverzeichnis

      Ganz ohne Übergang,


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