Gesammelte Erzählungen von Jakob Wassermann. Jakob Wassermann
sich abspielte in Feierlichkeit und in Humor.
Siebentes Kapitel
Vor dem Schulhaus lauerte Apollonius Siebengeist dem Lehrer auf, und unbeschreiblich war sein Zorn, als Philipp Unruh sein Versäumnis eingestand. Er schrie, daß man ihn betrogen und verraten habe. Er sagte Schulmeisterlein, und das in einem Ton, der beleidigend wirkte. Schließlich aber umarmte er den Geschmähten und sagte, daß er ihm danke, denn er liebe seine Zweifel mehr als jene Gewißheit, vor der ihm bangte. Doch wurde sein Wissensdurst noch in der selben Nacht gelöscht. Er suchte die Wirtschaft zum lustigen Pfeifer auf, wo als letzter Gast ein abenteuerlich aussehender Jüngling am Ofen saß. Es war der Komiker des Theaters, wie sich aus einem rasch begonnenen Gespräch ergabt Wie alle Komiker von Beruf war auch dieser nichts weniger als komisch, sondern litt an einer bösartigen Dürre des Witzes, die ihm ein gramvolles und verruchtes Aussehen gab. Siebengeist ließ eine ansehnliche Schar von Flaschen aufmarschieren, denn bis zur Polizeistunde war es noch weit. Der Jüngling erzählte bald von Myra, und es zeigte sich, daß seine Sprache einen Klang ins Böhmische hatte, welcher nicht so sehr die Verständlichkeit als musikalische Wirkungen förderte.
Wiederum stand der Mond in klarer Höhe, als Siebengeist heimwärts kehrte, aber nicht mehr als »sein Feind«. Es herrschte in den Gassen eine Stille, für deren Süßigkeit und Lockung es nicht Worte noch Gedanken gab. Was da zwischen den Häusern zog und ruhte, war wie blaugrünes, zartes Gespinst, Mondrauch; der Schnee glänzte kalt wie weißer Atlas. Eine Nacht für Myra; wenn sie auch litt, er wußte doch wofür und Wahrheit mußte es sei. Trübe Dinge, die ein Komiker erzählt, sind wahr. Sie hatte kein Wanderleben geführt. Die Mutter hatte als Witwe in einer kleinen thüringischen Stadt gelebt, wohin Schmalichs Wandertruppe kam. Lebenslustig und unzufrieden, durch Romanlektüre verdorben und unerfahren, hatte sich die noch junge Frau dem jungen Liebhaber der Schmiere an den Hals geworfen, wollte mit ihm ziehen, der »Kunst« ein Opfer bringen. Und Myra folgte von Ort zu Ort und wurde erst stutzig, als die Mutter im Theater mitzuspielen begann; von da an mußte sie in Wirrheit und Fährlichkeit gerissen worden sein. Der Mutter schwärmerisch zugetan, merkte sie nicht deren wachsende Kälte, spürte zuletzt nicht ihren Haß. Myras Mutter, so sagte der Komiker, war eifersüchtig auf die Tochter, und diese Eifersucht durchtränkte ihre Handlungen bis in den feindseligen Ton eines bloßen Grußes. Myra wußte nicht, wie ihr geschah. Ahnungslos wie bisher folgte sie an der Seite ihrer Mutter dem Wanderleben der Komödianten. Und in Bamberg war sie eines Tages allein, lag sie verlassen in einem armseligen Gasthof und las die dürftigen Abschiedsworte der Mutter. Man erinnerte sich bei der Truppe, sie ohnmächtig im Zimmer des Direktors gesehen zu haben. Sie hatte nicht Geld noch Kleider noch Freunde, nichts, als was sie sich selbst sein konnte. Man erinnerte sich des Tags, an dem sie zum erstenmal im Schauspiel aufgetreten war, ein Gegenstand des Hohns für die genialen Kollegen trotz der stummen Rolle. Aber Herrn Schmalichs Ansicht war, daß ein reisendes Theater hübsche Frauenzimmer brauche, und daß man auch das leidendste Gesicht in ein lustiges umschminken könne. Man hatte Myra niemals anders gesehen, als sie heute war, und heute schon war es, als trüge sie das Bild kommenden Unheils im Herzen. Solchen Augen kann kein Gewordensein die Furcht vor dem Werdenden nehmen. Zwischen Lügen, Schmutz, falscher Heiterkeit und wirklicher Armut lebte sie vielleicht gleichmütig, vielleicht abwartend hin, und Siebengeist sah sich schon als den, welcher erwartet wurde. Zu früh erschien ihm ein Geheimnis gelüftet, das ihm beim Wein offenbart worden. Zu früh nahm er das Geschehene als vergangen, ließ er seiner Hoffnung freien Lauf. Und zwischen ihm und dem andern Einsamen im Schulhaus spann die Nacht die gleichen Fäden der gleichen Gefühle und trieb irgendwo das Verhängnis aus einem abgelegenen Grunde hervor, daß es weiter weben möge, was sie spielerisch begonnen.
Zu Philipp Unruh kam am Morgen der Schulrat. Es handelte sich um eine gewichtige Beschuldigung. Die seltsamen Reden aus der Geschichtsstunde waren beunruhigend zu den Ohren der Schulbehörde gedrungen. Der Herr Schulrat hatte ein Bläschen auf der Nase und außerdem ein Horn auf der Stirn, da er sich im Traum am Bettpfosten verwundet hatte. Beide Verunzierungen jedoch gaben seinem Gesicht einen erhöhten Ausdruck der Amtsgewalt, als könne einzig ein Schulrat darüber entscheiden, ob Ungerechtigkeit auf dem Thron der Welt residiere. Der Lehrer war erstaunt. Er wußte sich seiner Worte kaum zu erinnern, und als er vernahm, was er selber gesagt, fand er es so widersinnig und abgeschmackt, daß er beredter und liebenswürdiger als je den Mann mit Bläschen und Horn vollständig beruhigte. Seiner Leidenschaft für Bücher entsann er sich wie der sonderbaren Torheit eines andern; der Verlust der Kiste kam einem gewöhnlichen Unfall gleich. Die Leute, die ihm begegneten, hatten andere Gesichter, andere Bewegungen, andere Worte als sonst. Die Kinder im Schulzimmer waren nicht mehr so sehr Gegenstände, an denen der Stundenplan erledigt werden mußte. Ihre Augen waren belebt, ihr Ungehorsam schien liebenswürdiger, ihre Unwissenheit begreiflich, ihre Ungeduld gegen das Stillesitzen des Nachdenkens wert.
Als er mittags an der Apotheke vorbeiging, sah er drinnen Siebengeist allein, und er trat ein. Der Provisor war mit leidenschaftlichen Gebärden beschäftigt, in einer kolbenartigen Schüssel eine dicke, weißliche Masse zu zerreiben. Philipp Unruh setzte sich auf die geschnitzte Bank und entschuldigte sein Betragen vom gestrigen Abend. Der Provisor lachte, schalt ihn einen kreuzverkehrten Bruder, machte die lustigsten Grimassen, während er aus Leibeskräften zu reiben fortfuhr. Plötzlich verdüsterte sich sein Wesen, und er erzählte andeutend und abgerissen einiges von dem, was er über Myra erfahren hatte. Es schien, als verlangte ihn selbst nach Rat und Klarheit, doch der Lehrer konnte nicht Einblick gewinnen in das Wirrsal der Erzählung. Er schwieg beharrlich, wünschte, nichts gehört zu haben, und Siebengeist fing wieder an, gesichterschneidend seine Salbe zu reiben. Plötzlich beugte er sich zu Unruh herab, flüsterte, den Mund nahe dessen Ohr und den Arm gegen eine Tür im dunkelsten Hintergrund ausstreckend. »Es steht eine dort auf der Schwelle und lauscht. Bin ich jemand verschuldet, der mir die Taschen mit Geschenken vollstopft? Ich nahm von jeder Dirne im Haus, wie es die Nacht gewollt. Darf man sich darum an meine Schuhe klammern und meine Kraft verringern, das zu erobern, woran mein Leben hängt? Wohlgemerkt, nicht jedes Spänchen Holz macht eine warme Stube!« Er hatte den Lehrer unter den Arm gefaßt und den Verschüchterten scheinbar absichtslos in die Ecke geführt. Nun riß er die Türe auf und sagte die letzten Worte laut, fast schreiend. Vor den beiden stand die Baronin, zitternd, linnenweiß im Gesicht und blickte gemartert den Flurgang hinab gegen die Straße. Siebengeist lachte und schlug die Türe wieder zu.
Es kam nun so viel Schwüles, Überraschendes und Neues, daß die Zeit gewissermaßen ihre Abgemessenheit verlor. Ein Umhertaumeln zwischen Wissen und Erraten, zwischen Angst und Mut, zwischen Fülle und Entbehrung, ein Atmen in zitternder Luft, Reden odne Besinnung, Träumen ohne Schlaf, Bilder, die vom Sturm vorbeigejagt und manche doch dauernder als Stein.
Philipp Unruh saß in der kleinen Schankstube des fränkischen Hofs. Es war wieder kalt geworden; und die Scheiben zeigten Eisfiguren, trotzdem die Sonne vom blauen Himmel schien. Der Wirt und ein Viehhändler aus Nördlingen saßen kartenspielend beim eisernen Öfchen. Aber das Geknister des lustigen Feuers wurde bald übertönt von zornigen und heiseren Männerstimmen aus dem Theatersaal. Es ist eine Schauspielprobe, dachte der Lehrer, jedoch trat alsbald der Bonvivant aus dem Theater in die Schankstube, verlangte grimmig einen Krug Bier und erzählte grimmig in demselben Atem, daß die sentimentale Liebhaberin sich weigere, dem Kritiker ihren Verehrungsbesuch abzustatten. Dergleichen sei noch nicht dagegewesen, so lange man Komödie spiele zwischen Himmel und Erde, und sei um so abscheulicher, als der Doktor Maspero ein charmanter Herr sei, welcher vortrefflichen Schnaps vorzusetzen wisse. Der Wirt hieb mit Geräusch die Trumpf-Aß auf den Tisch; der Viehhändler schielte den Schauspieler bösartig an. Im Saale war es still geworden, und auf einmal kam Myra heraus. Philipp Unruh schaute sie eine Sekunde lang mit blinzelnden Augen an, sah dann feig in eine Ecke, und es schien ihm, als sinken seine Schultern schwer gegen den Tisch. Das Mädchen hatte purpurrote Wangen, doch ihre Stirne war bleich, ihr Blick leer, unsicher, stechend, ihr Rücken ein wenig gekrümmt. Sie ging, als suche sie einen Ausgang, und blieb dann stehen wie in eine Falle geraten. Herr Schmalich kam hinter ihr her, und auf seinen Mienen drückte sich Verlegenheit aus. Sie wandte sich gegen den Direktor und sagte leisen Tones und mit erschreckender Schnelligkeit