Gesammelte Erzählungen von Jakob Wassermann. Jakob Wassermann
über die Stirn, die von wirren, nassen Haaren bedeckt war. Dann griff er nach einem Gegenstand, der auf dem Tisch lag, mitten auf einem weißen Blatt Papier. Es war das Herz mit dem vers Dieu va. Ein Zucken ging über sein Gesicht, und er biß die Lippen zusammen. Das goldne Ding fiel auf die Erde. – »Vielleicht ist sie nach Hause zurück,« flüsterte Siebengeist fragend, und Philipp Unruh gab durch Haltung und Blick seine Willfährigkeit zu allem kund. Auf der Straße trafen sie den Nachtwächter, welcher sehr betrunken war. Er wußte von nichts, nicht einmal ob es Tag oder Nacht war, hatte niemand gesehen. Sie läuteten vor dem Haus, wo Myras Mutter wohnte, und nach einiger Zeit kam eine Person von ungewöhnlicher Beleibtheit zum Vorschein. Diese Person glich einem Laubfrosch; sie trug einen moosgrünen Schlafrock und hatte einen Schnurrbart, obwohl sie ein Weib war. Mit schnarrender Stimme berichtete sie, daß der Schauspieler und die Frau vor einer Stunde mit dem Münchener Eilzuge abgereist seien. Das junge Fräulein aber sei seit dem Abend nicht heimgekehrt. Siebengeist reichte der Dame ein Talerstück und bat in atemlosen Sätzen, sie möge ihm für ein paar Stunden eine gute Laterne leihen.
Sie wanderten über den Markt und über die Altmühlblücke gegen die Dinkelsbühler Landstraße hinaus mit ihrer Laterne. Schweigend legten sie ihren sinnlosen Weg zurück, während der Schnee im Lichtschein glitzerte. Beide waren von derselben Ahnung, derselben Unruhe aufs äußerste erregt, aber jeder scheute des andern Wort oder Frage. Bisweilen blieb Siebengeist stehen, hielt die Laterne hoch oder stieg auf einen Meilenstein und spähte in das lautlose, finstere Winterland. »Jetzt wollen wir auf Theilheim zu,« sagte Siebengeist, und mit einem Auflachen fügte er hinzu: »Glauben Sie denn, daß eine einzige Nacht genügen wird, sie zu finden?« – »Es sind Wälder hier herum,« entgegnete der Lehrer. »Aber es ist möglich, daß sie noch im Ort ist.« – »Es ist möglich, ja. Was ist nicht alles möglich! Es ist möglich, daß sie verschwunden bleibt, und ich habe nicht ein einziges Mal – –« »Was? –« »Diesen wunderbaren Mund küssen dürfen.« Siebengeist blieb am Flußufer stehen, warf den Kopf ein wenig zurück und drückte die Augen zu. Der Lehrer entgegenete nichts darauf.
Zehntes Kapitel
In derselben Nacht noch, gegen die Morgenstunden, kamen Tauwinde aus dem Süden. Siebengeist und der Lehrer waren heimgekehrt und verbrachten miteinander den schlaflosen Rest der Nacht in des Lehrers Zimmer. Abgerissene Erzählungen überdeckten die suchenden Gedanken. Siebengeist lachte über den Gang mit der Laterne, so wie nur er zu lachen verstand, und der Lehrer dachte wieder: ein Adonis. Jedoch glaubte er sich bevorzugt wie durch unvertilgbare Versprechungen.
Zwischen sechs und sieben Uhr schlief er noch einen kurzen Schlummer der Müdigkeit. Er träumte, daß er sich in den Affen Kümmerlich verwandelt habe, daß er auf dem Dach des alten Turmes stehe und Grimassen schneide, über die die ganze Welt und insbesondere eine Frau mit einer schwarzen Larve unbändig lachen mußte. Doch wunderlicherweise hatte dieser Traum für ihn etwas Quälendes, vielleicht deshalb, weil die Höhe des Turms ihn trotz aller Grimassen mit Angst erfüllte.
Als er um neun Uhr am Schulfenster stand und gleichgültig die Ziegelmauern der Synagoge anstierte, liefen auf der Straße Menschen zusammen. Ein Milchbauer hatte auf seinem Handwägelchen einen großen, dunklen Gegenstand liegen, der sich wie ein menschlicher Körper ausnahm. Der Milchbauer redete eifrig mit den Leuten und zwinkerte dabei erregt mit den Augen. Der Lehrer öffnete das Fenster und rief hinunter, was es denn sei. Man habe ein Mädchen erfroren auf dem Feld gefunden, hieß es, und diejenigen, die das sagten, es war der Schmied, ein Marktweib und der alte Löwy, gebürdeten sich außerordentlich sachkundig. Auch der Bäcker kam aus seinem Laden, indem er den Mehlstaub von den dicken Schenkeln klopfte. Die Kinder im Schulzimmer verließen alle ihre Plätze, drängten sich mit Wildheit an die Fenster, und Philipp Unruh sah sich alsbald seines Aussichtspunktes beraubt, da eine Horde von schwatzenden Mädchen ihn umringt und zurückgeschoben hatte. Er fand kein strafendes Wort, sondern blickte geistesabwesend auf einen der blondhaarigen Kinderköpfe.
Schnell wie Strohfeuer lief das Gerücht umher, daß eine Schauspielerin von Herrn Schmalichs Truppe erfroren in den Feldern gefunden worden sei. »Se woar im Schneei douglegn wier in ihrn Bettla,« sagte der Milchbauer zu Doktor Maspero, der den Leichnam besichtigte. Auch der Bürgermeister und ein gerichtlicher Funktionär stellten sich ein, und die Leute, die den Totenwagen fuhren, zeigten sich verdrießlich über die Arbeit, die nichts trug.
»In diesem begabten Mädchen steckte das Zeug zu einer Ophelia,« sagte Herr Schmalich zu den Mitgliedern seiner Truppe, als er die Gedächtnisrede während der Probe hielt. Dann kam noch etwas vom Pantheon der Kunst, vom Kampf ums Dasein und weiblicher Tugend.
Die wahrhaft vornehmen Kreise nahmen das Ereignis mit Güte und Ruhe hin. Nur die Frau Assessor, welche eine unglückliche Schwärmerei fürs Theater hegte, schickte einen Immortellenkranz mit einer blaßroten Schleife, auf welcher ein nicht weniger blasses Verslein zu lesen war. Die Frau Oberamtmann geriet darüber in eine boshafte Aufregung und erzahlte die ganze Geschichte im Kasinohof dem Herrn Adjutanten. »Kann solche Dummheit überboten werden!« rief die bewegte Dame aus. Der Herr Adjutant lächelte verzwickt, und als er zu Hause war, stellte er sich breitbeinig vor seinen Affen hin und redete ihn an: »Was sagst du, mein lieber Kümmerlich: ist es nicht rätselhaft, wie selbst die Dummen merken, daß die Dummen dumm sind?« Das Äffchen grinste höflich. »Der Tod ist ein Ereignis, mit welchem man rechnen muß,« sagte der Baron Apotheker ernst und poetisch gestimmt zu seiner Frau, welche wie versteinert am Bücherregal lehnte, mit herabhängenden Armen und verschränkten Fingern. Ihr sonderbares Wesen veranlaßte den Dichter kaum zu einem flüchtigen Nachdenken. Solche Naturen sind wie Messer ohne Klingen. Sie gleichen einem Schützen, der in der drohenden Pose des Anschlags steht, aber statt der Flinte ein Spazierstöckchen zwischen den Schultern hält. Sie kriechen herum wie aufgeblasene Regenwürmer und vermeinen einen Adlerflug zu nehmen. Bis zu ihrem Sterbebett werden sie den Tod für ein Ereignis halten, das Beachtung verdient.
Die junge Frau schleppte sich mühsam eine Treppe empor und pochte an Siebengeists Zimmer. Da alles still blieb, drückte sie auf die Klinke, jedoch, die Tür war verschlossen. Da pochte sie abermals und rief ein bittendes Wort, allein sie erhielt keine Antwort. Ihr schwindelte. Sie ging herab in die Apotheke und fragte den zweiten Gehilfen, wo das Strychnin sei. Im Grunde wußte sie, daß sie sich des Giftes nicht bedienen würde. Auch sie war angesteckt vom Lügengeist des Herrn. Auch sie hielt sich, wenn nicht für einen Adler, so doch für eine Schwalbe, eine sehnsüchtige, nestsuchende und war nur ein armes Würmchen.
Es war ein träumerischer Tag. Der Himmel, mattblau, grünlichblau, war von schleierdünnen Wolken durchzogen. Allenthalben lief geschäftig murmelndes Tauwasser zu Bächen zusammen. Durch den schwarzgesprenkelten Ackerschnee ragten die Stoppeln vom letzten Herbst. Bis zu den fernsten Waldgrenzen dehnte sich der Horizont, und die Februarsonne füllte das Land mit frühlinghafter Wärme.
Gegen die Zeit der Dämmerung kam Siebengeist zum Lehrer Unruh. »Machen wir einen letzten Gang,« sagte der Provisor, dessen Augäpfel auffallend ruhelos unter den Lidern hin und her irrten. Der Lehrer wußte sich nicht zu erklären, was damit gemeint war, aber er folgte. Für ihn hatte die Gegenwart noch keine Zunge. Wie ein Trunkener vergißt, was ihn trunken gemacht, so hatte er die Ursache dessen, was in ihm wühlte, aus der Empfindung verloren. Er begann nach rückwärts zu leben. Er erkannte sich selbst und das, was aus ihm geworden war, mit der Klarheit einer Halluzination. Ganz anders als früher schien es ihm jetzt seine eigene, angeborene Sprache, wenn er redete, schien ihm sein Gefühl, was er empfunden, und sein Urteil, was er beschlossen. Das Bild der Welt und ihrer Menschen verlor völlig den Anschein der Selbstverständlichkeit und des Unumstößlichen, und aus allen Dingen, aus allen Ereignissen, aus jedem Gesicht, aus jedem Hinschwinden des Tages und der Nacht tauchte etwas ungeheuer Geheimnisvolles auf, das ihn schaudern machte und ihn mit einer noch ganz anderen Trauer erfüllte, als derjenigen, die er in Siebengeist beobachtete. Aber wie sonderbar! Darüber schwebte wie das Licht über einem finstern Wald etwas wie Freiheits-und Einsamkeitsfreude.
Sie waren zum Leichenhaus gewandert, einem Backsteinhäuschen, das verlassen in der Abenddämmerung