Gesammelte Erzählungen von Jakob Wassermann. Jakob Wassermann
mit einem Blendblech und ließ die beiden allein. Zwei Särge standen inmitten des Raums, halb aufrecht gegen eine Bank gelehnt. In dem einen lag eine Greisin, deren Lider nicht ganz geschlossen waren, so daß sie, was vor sich ging, argwöhnisch zu beblinzeln schien. Ihr Gesicht war gelb wie frisches Baumholz und hatte einen außerordentlich höhnischen und feindseligen Ausdruck. Auf ihrer faltigen Stirne lief gemächlich eine Fliege umher. Der ganze Kopf bekam überdies durch eine hohe weiße Haube mit blauen Bändern ein theatralisches und bizarres Aussehen.
Daneben lag Myra. Auf der einen Wange war ein seltsamer roter Fleck, wie ein Überbleibsel des Lebens. Die Unterlippe war ein wenig herabgesunken, wodurch das Gesicht müde, fast schlaftrunken aussah. Die Stirne sah aus wie geschliffen, und um die Augen lag ein abweisender, kindlich überlegener Zug. Die Hände waren leicht gefaltet. Der Ärmel des Gewands wurde leise von der Abendluft bewegt und erzeugte einen tierähnlichen Schatten über den Fingern.
Siebengeist kniete nieder und legte still den Kopf auf den Sargrand. Sein Rücken begann zu zucken, und die rechte Hand suchte den Boden. Der Lehrer dachte etwas Unbestimmtes, Frommes über den Tod, verwarf aber leidenschaftlich diese Gedanken wieder und zwang seine Blicke, auf dem mißtrauischen Gesicht der alten Frau haften zu bleiben. Er ärgerte sich über die freche Fliege, die wie schlafend auf einem Augenlid saß. Und plötzlich sah er, wie Siebengeist sich ein wenig erhob, seine Lippen langsam dem Antlitz Myras näherte, und wie er lautlos seinen Mund auf ihren toten Mund drückte.
Philipp Unruh stieß einen schwachen Schrei aus und fühlte den Boden unter sich wanken. Ihm brannte die Kehle und das Herz und das Gehirn, als ob er im Feuer stände, aber mit unbegreiflicher und erschreckender Raschheit kehrte eine eisige Ruhe in ihn zurück. Er legte die Hände vor die Augen und kehrte das Gesicht dem Kirchhof zu und dem Stückchen Wald hinter der Mauer. In diesem Augenblick hatte er Tod und Leben gleichzeitig in einem elementaren Bild empfunden.
Beim Heimwärtsgang stand die Mondsichel über den Dächern des Städtchens. Von der Eisenbahn tönte ein langgezogenes Hornsignal herüber. Die Dunkelheit ist lästig und drückend, dachte Philipp Unruh. Er begann den Tag der Nacht vorzuziehen, wo eine bittere und verschwommene Traurigkeit so leicht Nahrung finden konnte. Sie gingen hinter den Garten am Rand der Äcker und Siebengeist fing an zu reden. Er gefiel sich in Kapriolen des Geistes, in blasphemischen Anklagen, seufzte schwer und war dann wieder still. Alles nahm sich wie beabsichtigter Wahnsinn aus. Von seinem hübschen Gesicht war wie im Rausch jede Besonnenheit verschwunden, und was er tat, trug das Zeichen von überhebendem Schmerz. »Gute Nacht, Schulmeister,« sagte er. »Meine Seele ist leer wie ein ausgebranntes Haus.«
Was er doch für Worte gebraucht, dachte der Lehrer. Er verspürte plötzlich einen nagenden Hunger, denn seit vielen Stunden hatte er nichts gegessen. Er trat neben dem Schulhaus in den Laden des Bäckers und verlangte frisches Schwarzbrot und ein wenig Butter.
»Ach du mein Gott, sieht man den Herrn Lehrer auch einmal,« sagte der Bäcker, und mit halb pfiffigem, halb verlegenem Gesicht schraubte er das blakende Licht tiefer. Er war eigentlich recht bestürzt, denn auf dem Ladentisch vor sich hatte er einen großen Folianten aus des Lehrers Bücherkiste liegen. Er hatte sich eben nach Herzenslust an einer Kriegsbeschreibung ergötzt. Der Lehrer sah sogleich das Buch und schlug erstaunt die Hände zusammen: »Herr Bäckermeister, Sie wissen wohl gar nicht, wessen Eigentum das ist?« sagte er unsicher, wie alle gutmütigen Menschen, wenn sie einem andern auf Schelmenstreiche kommen.
Was nun den Bäcker betrifft, so begann er eine Geschichte zu erzählen, die durchaus kein Ende nehmen wollte. Diese Geschichte wurde allgemach recht verwickelt und bot schließlich selbst dem Erzähler Schwierigkeiten. Sprüche zur Weltweisheit mischten sich darein wie Aniskörnchen in den Brotteig, nur zuletzt kam, einer Apotheose zu vergleichen, der Preis des Handwerks, welches ebenso sein Gutes habe, wie die Gelehrsamkeit.
Philipp Unruh lächelte. Der humoristische Mann, der ihm gegenüber auf dem Backtrog saß, hatte in der Glorie seiner Lügenhaftigkeit etwas seltsam Versöhnendes, und es lag wie eine unwiderstehliche Heiterkeit in jedem dieser Lügenworte, die weder gewogen, noch gezählt waren. Daß er wieder in den Besitz seiner Bücher kam, erfreute ihn, doch in anderm Grade, als er je geglaubt. Es war wie ein Geschenk, und er betrachtete sein Eigentum wie etwas, das er nie besessen. Er wußte, daß es da nur tote Dinge, tote Blätter gab. Die Vergangenheit ist etwas Gestorbenes, dachte er; wer ihren Leichnam küßt, macht das Gesicht des Todes doppelt furchtbar; was er berühren mag, wird dem Leben entfremdet sein.
Es war ein so milder Abend, daß es den Lehrer wieder fort von seiner Behausung trieb, und er beschloß, gegen das Altmühlufer hinunter zu wandern. Als er in die enge Kirchengasse bog, sah er sich gegenüber auf der Schwelle eines beleuchteten, schmalen Hausflurs ein kleines Mädchen sitzen, welches das Gesicht in die Schürze gelegt hatte und weinte. Ein Knabe von vielleicht zwölf Jahren stelzte ernsthaft über die Gasse und fragte mit Würde, beide Hände tief in die Hosentaschen gesenkt: »Warum weinst du denn?« Die Kleine hob das Gesicht, und Philipp Unruh, der im dunklen Schatten stehen blieb, erkannte das Mädchen der Frau Süßmilch. »Ich kann meine Aufgabe nicht lernen, sie ist zu schwer,« schluchzte das Kind. Der Knabe räusperte sich, spreizte die Beine, legte die Hände auf den Rücken und begann: »Du bist meine schlechteste Schülerin, Süßmilch. Aus dir wird im Leben nichts werden. Du hast ja lauter Heu im Kopfe. Pfui!« Philipp Unruh sah, daß ihn der Bursche nachäffte, und errötete in seinem Versteck. Das kleine Mädchen aber trocknete die Augen, stützte den Kopf in das Händchen, schaute wehmütig zum klaren Sternenhimmel auf und sagte aus tiefstem Herzensgrund: »Ach ja! Unser Herr Lehrer ist ein sehr böser Mann.«
Der Lehrer ging langsam über die Gasse, nahm das Mädchen auf die Arme und küßte es lächelnd auf die Stirn.
Treunitz und Aurora
Bekenntnisse eines Offiziers
Die Stille des Gefängnisses ist der Selbsteinkehr günstig. Ich werde also das Papier zu meinem Beichtiger machen und der Wahrheit gemäß berichten, wie sich die Dinge abgespielt haben, und wie ich zu der Tat gelangt bin, durch die ich mein Leben verwirkt habe. Ich bin des Todes schuldig und ich werde aus dieser Erkenntnis alle Folgerungen ziehen, zu denen ich als Mann und Soldat so berechtigt als verpflichtet bin. Immerhin könnte ich beschönigend von einem verhängnisvollen Irrtum sprechen, durch den mein Glück, meine Freiheit, meine Zukunft, meine ganze Existenz der Vernichtung preisgegeben wurde, aber die Schmach würde dadurch um nichts geringer werden, und wenn ich gleich die furchtbare Leidenschaft, die mich ergriffen und ruiniert hat, zu verurteilen imstande bin, so ist es selbst in diesem Augenblick noch unmöglich, sie gänzlich aus meinem Herzen zu reißen.
Ich bin mit der Vorliebe für den Soldatenstand geboren. Doch trieb mich dabei keineswegs Ehrgeiz oder Ruhmsucht; auch nach Abenteuern stand mir nicht der Sinn, wie das bei Knaben oder Jünglingen sonst der Fall zu sein pflegt, sondern ich wollte meine Person in den Dienst des Vaterlandes stellen, und wonach ich strebte, war eine würdige Verwendung meiner Kräfte und Fähigkeiten. Ich besaß Mut und war körperlich gewandt und tüchtig; auch hatte ich, was für den Militär jedes Ranges von Wichtigkeit ist, Disziplin im Leibe, das Talent und den Willen zur unbedingten sachlichen Unterordnung. Da ich von Haus aus vermögend bin, meine Mutter besitzt eine große Gutsherrschaft bei Arnstein, wurde der Wahl meines Berufs kein Hindernis in den Weg gelegt, und nach Absolvierung der Schule trat ich als Freiwilliger bei der Marine ein. Aber ich fand dort kein Genügen, das Leben war eintöniger, als ich gedacht, und nach Verlauf von zwei Jahren trat ich zur Feldartillerie über, wo ich mich als brauchbarer Offizier eines gewissen Ansehens erfreute und wegen meiner Begabung für militärwissenschaftliche Fächer die besondere Gunst der Vorgesetzten genoß.
Da entbrannte in Südafrika der Burenkrieg; ich sah die Gelegenheit, etwas zu leisten, ich hatte keine Lust mehr am Garnisons-und Manöverdienst; die Verhältnisse, unter denen ich mich bewähren konnte, erschienen mir zu klein; kurz und gut, ich erbat den Abschied, zur Verwunderung und zum Bedauern meiner Kameraden, die mich gerne hatten, mich aber nach diesem für sie unbegreiflichen Schritt eines Mannes, der die begründetste Aussicht auf Karriere hat,