Gesammelte Erzählungen von Jakob Wassermann. Jakob Wassermann
die alte Dame, deren schwarzseidenes Kleid beständig knisterte, weit sie so belebt war, schien voller Liebe gegen sie. Ich glaube, daß sie eine sehr vornehme Person war; weder damals noch später erfuhr ich ihren Namen. Aber was sie auch sein mochte, ihr gewinnendes Wesen ließ mir jedes heimliche Forschen frevelhaft erscheinen. Sie duzte meinen Vater, wie er sie, und eine lange Vertraulichkeit, viel Zusammenerleben mußten es sein, die einen so herzlichen Ton geschaffen hatten, wie er unter ihnen bestand.
Wählend des Essens erhob sich mein Vater zu einem Trinkspruch. Ich erinnere mich heute nicht mehr an seine Worte. Damals schien es mir hinreißend, ihn so zu hören, und mein Blick, der auf ihn gerichtet war, zitterte förmlich. Er sprach zu uns von seinem Leben, von dem was untergeht und was bleibt, Erinnerungen, die wie Schiffe am Horizont vorbeizogen, – und eines ist mir unvergeßlich. Er sagte: Wenn ich einmal alt sein werde… Er war im Oktober dreiundsiebzig geworden. Er dachte so wenig an den Tod wie ein Knabe.
Als er geendet hatte, stand Henriette auf, beugte sich zu ihm und küßte ihn auf die Nasenspitze. Das war ihre Art, etwas Scherzhaftes mußte dabei sein. Die alte Dame klatschte in die Hände. Mit einem kindlichen, fast mädchenhaften Lachen ergriff sie das Glas und sagte, indem ihre Augen tief und warm strahlten: Mein unsterblicher Hilperich soll leben. Wer sie und Henriette zusammen sah, den mochten wohl sonderbare Gedanken über Jugend und Alter gefangen nehmen.
Mein Vater wurde immer aufgeräumter. Er stieß mich in die Seite, drohte mir mit Prügeln, wenn ich fortführe, so schweigsam zu sein. Henriette antwortete etwas zu meiner Entschuldigung, was mir sehr verständig vorkam, überhaupt fand ich ihren Verstand immer bewundernswerter. Über alles ringsumher schien sie sich spielerisch klar zu werden. Dennoch sah ich Unruhe in ihren Augen.
Wie lang ist es eigentlich her, daß wir uns schon kennen? fragte die alte Dame in träumerischer Erinnerung.
Mein Vater wiegte den Kopf. Lange, lange, erwiderte er und tat einen tiefen Schluck aus dem Glase.
Ich glaube, es war an dem Tage, da Goethe starb, fuhr sie fort und lächelte. Mich durchzuckte es wunderbar, und ihr Seufzen kam mir lieblich vor, womit sie weiterredete, (indem sie einen Blick auf Henriette heftete): So blühen die Jungen auf und werden den Alten teuer. Was wirst du tun, wenn Henriette heiratet? fragte sie und blinzelte dabei schalkhaft.
Sie heiratet nicht, entgegnete der Greis kurz. Oder nicht sobald, fügte er hinzu, indem er das Ohr bis auf die Schulter senkte; heiraten ist ein Unfug. Gut. Sie ist ja auch noch jung. Aber schließlich, Weib ist Weib. Nicht wahr? Die alte Dame zeigte ihre weißen Zähne und ließ den Blick naiv fragend von einem zum andern gehen. Dann lachte sie und fuhr heiter fort: Alle schreien wir: nie, und auf einmal sagen wir ganz leise Ja. Gut, Heirat hin oder her, aber – ihr Blick wurde plötzlich versonnen – nimm an, man verführt sie dir. Wie? Nun ja, das ist schon dagewesen. Du, der Freidenkende, was wirst du tun?
Henriette lachte mit gesenkten Augen kurz vor sich hin. Mein Vater kniff die Lippen zusammen und erwiderte mit einem unbestimmt jovialen Ausdruck und mit weinglänzenden Augen: Das ist plausibel; ich sag ihr: Gehe hin, was du verdienst ist dein Gewinn. Nachdem er dies gesagt hatte, stand er so heftig auf, daß der Stuhl hinter ihm zur Erde fiel, schlug mit der Faust auf den Tisch und brüllte oder kreischte: Ich würde sie zum Fenster hinunter werfen.
Henriette erhob sich, gänzlich blaß, ging zum Kamin und hielt wie frierend die Hände dagegen. Mein Vater folgte ihr, klopfte mit der flachen Hand auf ihren Rücken, lachte, setzte sich und nahm sie auf sein Knie. Sie hielt aber die Augen geschlossen.
Da die Glocken zu läuten anfingen, erhob sich auch die alte Dame vom Tisch, öffnete ein Fenster, so daß man nun die Glockenschläge dröhnend und deutlich von allen Seiten vernahm. Der kalte Winter dampfte herein, und Leute schrien auf der Gasse. Die alte Dame blickte andächtig gegen den Himmel, und ich blieb sitzen wie ein Vergessener.
Noch im Traum in der Nacht sah ich die wohlwollende alte Dame, die vielleicht gegen keinen Menschen Böses hegte; meinen Vater, von Lebenskraft und -Größe erfüllt wie einen Gott des Altertums; Henriette, unentschieden, graziös und fatalistisch kühl. Es war mir einen Augenblick im Traum, sonderbar, als übe sie nur Nachsicht mit meinem Vater, ihrem Vater, beuge sich dennoch gütig unter seiner Liebe.
Den Neujahrstag verbrachte ich mit der Mutter, und als ich am nächsten Tag zu meinem Vater kam, fand ich ihn unruhig und finster. Er begrüßte mich kaum, sagte, es sei nichts los heute. Ohne Arges zu denken, ging ich wieder. Am nächsten Tag erklärte mir die Bedienerin, der Herr Rat sei nach Z. gegangen. Mich erstaunte das; er konnte dort nur das Kloster besuchen, in welchem seine Frau war. Vor dem Hause lungerte Mittelmann herum. Ohne weiteres erklärte er mir in seiner singenden, hastigen Redeweise, daß Henriette verschwunden sei. Der einzelnen Ausdrücke erinnere ich mich nicht mehr, die das dünne Männlein gebrauchte, aber mir wurde der Kopf heiß.
Den Tag darauf war ich nicht wenig überrascht, meinen Vater und Mittelmann miteinander Schach spielen zu sehen. Ich wagte nicht zu reden, nicht zu fragen, setzte mich und sah zu. Das Gesicht meines Vaters war verändert wie ein laubreicher Baum nach einer Orkannacht. Aber mit ruhiger Hand schob er die Figuren, ohne den Blick vom Brett zu erheben. Seine weißen Wimpern schienen schwer. Er verlor die Partie; Mittelmann grinste entzückt, als ihm wein Vater verächtlich einen Gulden hinwarf, und ohne von meiner Anwesenheit Notiz zu nehmen, begannen sie eine neue Partie. Plötzlich aber stieß mein Vater das Tischchen mit dem Fuße um, und von dem Getöse erschreckt, flüchtete Mittelmann in eine Ecke. Mit schweren Schritten ging mein Vater auf und ab, dann ergriff er nacheinander die Stehuhr, die Lampe, eine Wasserkaraffe, den Handspiegel und seine Waschschüssel und warf sie mit voller Wucht gegen die Dielen. Sein Gesicht war blau, die Adern an der Stirn und an den Händen wie Stricke geschwollen; so ging er auf mich Zitternden zu, packte mich beim Kragen, schüttelte mich mit riesiger Kraft wie eine Puppe und schrie hohl krächzend: Wo ist sie? Wer hat sie verführt? Wo ist sie? Schaff sie mir her, Lumpenhund! Dann ließ ei ab von mir, öffnete das Fenster, wie um Luft zu schöpfen, und stieß einen langen, tiefen Seufzer aus, der wie das Geheul eines Hundes klang. Die Bedienerin war aus der Küche gekommen und betrachtete schweigend und erschrocken das Bild der Verwüstung.
Wie ich heim kam, wie ich die Nacht verbrachte, was in meinen Gedanken vorging, das weiß ich nicht mehr. Ich säumte nicht, am folgenden Tag wieder zu meinem Vater zu gehen; wie gestern fand ich ihn mit Mittelmann Schach spielend. Wie gestern beachtete er mich nicht, und ich sah geduldig zu. Der Abend kam, und es geschah nichts. Fast wäre ich froh gewesen um einen Ausbruch seines Zorns. Aber er saß still und in sich gekehrt. Alle Tage ging ich hin, wartete, trauerte. Immer fand ich ihn mit Mittelmann beim Schach und hie und da beim Domino. Zu arbeiten gab es nichts für mich; ich haßte und verwünschte das Schachspiel und das andere Spiel, verwünschte Mittelmann in meinem Herzen. Was mein Vater auch sagen mochte, Mittelmann wiederholte es wie ein lästiges Echo, auch wenn es eine Beschimpfung war, die ihm selbst galt. Seine Körperhaltung zeigte die tiefste Unterwürfigkeit, aber zugleich die Unruhe eines Kobolds. Wenn eine Partie für ihn schlecht stand, hüpfte er auf seinem Sitz, wiegte sich aufgeregt hin und her, steckte die dünnen Fingerchen in den Mund, murmelte sinnlose Worte, fuhr förmlich wehklagend mit der Hand über die Stirn, und wenn er keine Rettung mehr sah, zeigte sein Gesicht einen Ausdruck geisterhafter Frechheit. Dies schien meinem Vater zu behagen und ihn zu erwarmen.
Die Ungeduld, zu wissen, verzehrte mich. Ich dachte mich an Mittelmann zu halten, der doch beständig um meinen Vater war. Ich hatte erfahren, daß er ein Zeitungsreporter war, und glaubte, einen guten Spion an ihm zu haben. Ich nahm ihn mit in ein Wirtshaus und ließ ihm Speisen, Wein und Bier vorsetzen. Zwei Stunden hindurch aß er, ohne daß in seinem Munde Raum für ein überflüssiges Wort verblieb. Mich erbarmte seiner, wie er mit vollen Backen stammelte oder glückselig auf die heißen Kartoffeln blies. Ich ließ es also dabei bewendet sein und begriff, daß Mittelmann meinem Vater nichts anderes war, denn ein Haustier, ein folgsamer Hund, der sprechende Hund. Er brauchte ihn nur, um für sein düsteres Schweigen ein Ohr zu haben.
Henriette war fort; sie hatte sich einem an den Hals geworfen, und war Gott weiß wohin gegangen, ohne Wort noch Zeichen. Mehr wußte ich nicht und konnte nichts sonst erfahren. Für meinen Vater war ich wie Luft. Warum, das weiß ich selber nicht. Oft stieg es mir bitter auf: hat er ihr das Blut vererbt, so vielleicht auch die Tat; aber