Gesammelte Erzählungen von Jakob Wassermann. Jakob Wassermann

Gesammelte Erzählungen von Jakob Wassermann - Jakob Wassermann


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kam ich hin und fand Bianca Spinola in seiner Schlafstube. Das Henriettenzimmer war zugeschlossen, war seit dem Neujahrstag nicht mehr betreten worden. Ja, sogar die leeren Teller und Flaschen standen noch auf dem Tisch, wie mir Bianca später erzählte. Die Bedienerin war am Feiertag über Land gefahren, und schon am Abend war das Unheil geahnt und mein Vater hatte die Türen versperrt.

      Bianca war also da. Mein Vater lag auf seinem mageren Bett, und sie saß am Fußende und hielt ein Buch in den Händen, aus welchem sie Verse ihrer Heimatsprache vorlas. Mein Vater sah mich fremd und unwillig an, schloß aber gleich wieder die Augen, um weiter zu lauschen. Nie habe ich ein schöneres Bild gesehen; das schlanke heitere Mädchen mit den tintenschwarzen Haaren und den regungslos hingestreckten Greis und die helle Februarsonne im Zimmer und dazu wie Musik die italienischen Worte. Ich entfernte mich auf Zehen. In dem kühlen Vorzimmer schlief auf einem Stuhl fahl und zusammengesunken der wunderliche Mittelmann.

      Am Abend erzählte mir Bianca etwas Schreckliches. Ihrem welschen Gerede entnahm ich nur, daß mein Vater jetzt herumging und sich vor dem Sterben fürchtete. Er! Sie habe ihn beobachtet, sagte Bianca, auch habe er gesprochen. Die Phantasie des jungen Mädchens war wie durch Gespenster erschüttert. Ich glaubte ihr nicht. Meine Mutter lachte sogar darüber.

      Mit bangem Sinn trat ich das nächste Mal den mir so vertrauten Weg in die alte Gasse an. Mein Vater war allein. Er saß am Fenster und starrte vor sich hin. Mit schüchternen Worten suchte ich ihn zu einem Spaziergang zu bewegen. Er verzog die Lippen verächtlich und erwiderte nichts. Ich begriff meinen Vater, begriff seine Einsamkeit. Als es dunkelte, wollte ich gehen; jedoch er hielt mich zurück mit einem Gebaren, das ich noch nicht an ihm bemerkt hatte. Er wurde sanft, seine Stimme klang weich und wie zerbrochen; er bat mich, die Lampe anzuzünden, und als dies geschehen war, wurde er sichtlich ruhiger. Er sagte, er wollte nicht mehr diktieren, ihm sei das zu mühsam, er wollte sich überhaupt um all die Geschichten nicht mehr kümmern. Zum erstenmal wagte ich es, von Henriette zu sprechen. Er sah mich groß an und schüttelte den Kopf. Das Frauenzimmer hat jetzt mehr Pläsier von der Welt als von mir, sagte er und kicherte zynisch vor sich hin. Ich wußte keine Antwort, verbarg meine Überraschung. Wieder wollte ich aufbrechen, denn ich fürchtete ihn zu stören. Er nahm meine Hand zwischen seine beiden, hielt sie fest und sagte, ich sollte warten, bis er im Bette sei. Dann nahm er eine Kerze, öffnete die Tür zu dem großen Zimmer, leuchtete hinein, ging mit schlürfenden Schritten dem Licht förmlich nach, spähte in alle Ecken, spähte auch in den Flur hinaus, wobei er kurz auflachte, wie um irgend einen Lauerer aufzustören, und ich saß da, schaudernd und von neuem begreifend.

      Man darf es nicht wagen, sagte er zurückkommend und schielte mich von der Seite an. Man ist nirgends sicher. Wenn du die Treppe hinuntergehst, kannst du dir das Genick brechen, mein Söhnchen. Überall wartet etwas auf dich, und was du verlachst, kann dein Verderben sein.

      Er entkleidete sich mit Hast, warf sich auf das Bett und seufzte. Jetzt kannst du gehen, brummte er mürrisch, aber sieh zu, daß das Schloß einklappt.

      Ich ging. Es war schon späte Nacht. Ich irrte herum und kam bis in die Vorstädte.

      In den nächsten acht Tagen suchte ich meinen Vater nicht mehr auf. Eine neue Stellung, die ich erlangt hatte, nahm mich sehr in Anspruch. Aber während dieser Zeit wurde mein Geist so von Unruhe gepeinigt, daß ich für die Arbeit ganz abgestumpft wurde. Dennoch hielt mich etwas Schweres ab, zu ihm zu gehen. Ich war feig, ja, ich fürchtete mich vor seiner Furcht. Es war der letzte Sonntag im Februar, als ich mich meiner Pflicht erinnerte. Still war ich herumgegangen und hatte niemandem etwas davon gesagt; und auch das quälte mein Gewissen, als hätte die Welt helfen können.

      Es regnete an diesem Tag. Obgleich so viele Jahre verflossen sind, erinnere ich mich, daß vor meines Vaters Haus ein Betrunkener lag, und daß dies einen fatalen Eindruck auf mich machte; besonders das matte, gedunsene, gleichgültige Gesicht des Mannes und seine halboffenen Augen. Johlende Kinder sprangen um ihn herum.

      Oben öffnete mir die Bedienerin. Wieder fand ich meinen Vater allein, und zwar in dem großen, leeren Zimmer. Er saß neben dem Spiegel, vor dem kleinen, runden Schachtisch. Er hatte mich nicht bemerkt, meine Schritte nicht gehört. Er hatte den Kopf in die Hand gestützt und war anscheinend in tiefes Sinnen verloren. Kein Laut störte die Ruhe; nichts Belebtes machte die Einsamkeit vergessen. Es sah aus, als ob er seit vielen Stunden so sitze, mit etwas Unerklärlichem beschäftigt. Endlich wagte ich es, laut den Tagesgruß zu rufen, und er hob langsam den Kopf. Er besann sich, nickte; ich trat näher, und er gab mir die Hand wie er in guten Stimmungen zu tun pflegte, fest, mit festem Druck. Aber sein Aussehen war verstört.

      Ich denke über die Toten nach, die hinter mir liegen, sagte er. Ich schaue zurück, und jedes Jahr ist ein Zaunpfahl, an dem eine Leiche hängt.

      Es ist das allgemeine Los, Vater, entgegnete ich beengt..

      Sein Gesicht verzerrte sich wie vor einer Flamme. Allgemeine Los? Warum? Warum? Antworte, du Zeisig? Warum fühl ich dabei? Warum? Warum weiß ich davon? Warum erst alles und dann nichts? He? Warum? Er stand auf und sah mich gebieterisch an.

      Gott will es, flüsterte ich.

      Gott? Wer ist Gott? Was kann Gott wollen, was nicht ich will? Muß ich sterben, weil ein Gott will, den ich nicht kenne? Ich glaube nicht an den Tod. Oder wie? Wer könnte mich von meinem eigenen Tod überzeugen? Er blickte gegen das regennasse Fenster und gegen den Himmel; sein Hals war dunkelrot gefärbt, und die rechte Hand war geballt. Und doch, was ist zu tun? fuhr er nun mit feierlicher Stimme fort, ohne seine Stellung zu verändern. Es nützt nichts, daß ich leben will, leben, leben. Es nützt nichts, daß ich weiß, auch ihr werdet tot sein, wenn ich’s bin. Es nützt nichts. Wenn’s auch nur noch zehn Jahre sind, was sind zehn Jahre für mich?

      Ich erinnere mich, daß ich etwas sagte von unserer Liebe für ihn. Aber er schwieg und hörte nicht. Langsam wanderte er auf und ab, die Hände auf dem Rücken und wiederholte noch einmal vor sich hin: was sind zehn Jahre für mich? Mir standen plötzlich die hellen Tränen in den Augen, und voll Betrübnis schlich ich davon. Immerfort glaubte ich ihn zu hören, den anklägerischen Ton seiner Stimme, den Trotz seiner Worte; immer sah ich ihn einsam in seiner leeren Stube gehen und konnte nicht die Inbrunst und das Furchtbare seiner Augen vergessen, als er ausrief: Was kann Gott wollen, das nicht ich will? Raum und Zeit verachtend, stand er im Mittelpunkt des Weltalls, allein, aufrührerischen Geistes, ein aufrührerischer Fährmann, die abendliche Flut des Lebens befahrend. Die Jahre konnten ihm nichts sein, denn seine Seele hatte stets den Augenblick besessen – und nun verloren.

      Den nächsten Tag verbrachte ich mit meinen Angelegenheiten. In der Nacht, die folgte, fand ich keinen Schlaf. Die Luft schien mir schwül, und kaum daß es Morgen geworden, trieb es mich nach der Wohnung meines Vaters. Als ich in sein Schlafzimmer trat, sah ich ihn ruhig auf dem Bett liegen, und daneben hockte Mittelmann, das Schachbrett vor sich, anscheinend stumpfsinnig in ein Problem vertieft. Mich wunderte das so früh am Tag. Mittelmann gewahrte mich und sagte scheu: Ich war die ganze Nacht hier, es war um zwölf Uhr, solange spielten wir. In dieser Stellung brachen wir ab. Sehr interessante Stellung, sehen Sie nur.

      Geschwätzig redete er weiter. Ich blickte unbeweglich auf die geschlossenen Augen des Greises. Sein Gesicht zeigte denselben Ausdruck des Trotzes, wie vor zwei Tagen.

      Die Fenster waren geöffnet, und die Sonne strahlte herein. Ich wurde so traurig wie nie zuvor; und doch war es mir, als hätte ich meinen Vater schon tot hingestreckt gesehen damals, als Bianca ihm vorlas.

      Am nächsten Tag begrub man ihn. Den armen Mittelmann führte ich darnach in ein Wirtshaus und gab ihm satt zu essen.

      Die Schwestern:

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      Donna Johanna von Castilien

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      Die Infantin Johanna wurde geboren beim Sterbensgeschrei


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