Gesammelte Erzählungen von Jakob Wassermann. Jakob Wassermann

Gesammelte Erzählungen von Jakob Wassermann - Jakob Wassermann


Скачать книгу
Johanna duckte sich, und als sie die feindurchäderten Lider in krankhafter Erregung noch weiter öffnete, war es, als falle ihr Blick, als halte ihre Wimper noch einmal den ganzen Ernst und die Furchtbarkeit des längst verschwundenen Lebens fest.

      Die Zugbrücke rasselte hinauf, und an der Spitze seiner Herren ritt der Kaiser schweigend der untergehenden Sonne zu.

      Da verließ auch Donna Johanna ihr Gemach, zum ersten Mal seit langen Jahren. Wie schlafend stieg sie die Turmtreppe empor, bis sie zu einem runden Fensterchen gelangte, das freien Ausblick über die Ebene gab. Hier stand sie und verfolgte mit dem Blick den glänzenden Reiterzug. Als der Horizont, im goldnen Lila schwimmend, das farbige Bild einzufangen drohte, stieg sie eine Treppe höher. Sie gewahrte noch ein paar funkelnde Lanzenspitzen, und ihre dürren Lippen flüsterten: der Kaiser, der Kaiser.

      Es dunkelte, und sie stieg herab. Ihr Herz verschnürte sich bang und mit dem letzten Funken des vergehenden Bewußtseins seufzte sie einem ungetrösteten Tod entgegen.

      Sara Malcolm

       Inhaltsverzeichnis

      Zu Ende des Jahres siebzehnhundertzweiunddreißig, unter der Regierung König Georgs des Zweiten geschah es, daß der Londoner Nachtwächter bei seinem vierten Rundgang in der Nähe von Templebar ein junges Mädchen leblos auf der Straße liegen sah. Er versuchte die Besinnungslose aufzurichten und zu erwecken, und als seine Bemühungen vergeblich blieben, begab er sich zum Tor des nächsten Hauses und klopfte die Bewohner wach. Bald erschienen einige Mägde der Mistreß Lydia Duncomb. Auch Master John Kerrel, der im zweiten Stock dieses Hauses sein Quartier hatte und zu der späten Stunde erst vom Wirtshaus heimkehrte, gesellte sich der Gruppe hinzu, die alsbald die Ohnmächtige umstand. Sie schien den Ärmsten der Armen anzugehören; abgerissene und schmutzige Gewänder hingen um den vermagerten Körper, der graue Wollrock bedeckte kaum noch die Kniee, das Haar, von jener kupfrigen Farbe, wie es viele Wanderinnen haben, war vom Straßenschmutz besudelt und hing aufgelöst um den Kopf und um die Schultern. Auch ein wenig Blut klebte daran, und man entdeckte beim Nachsehen eine Riß- oder Schlagwunde am Arm, etwas unterhalb der Schulter.

      Master John Kerrel, ein Mann, der alle Schlupfwinkel der Stadt kannte und sich auf die Menschenarten Londons verstand, erklärte, das Mädchen gehöre wahrscheinlich zu den Wäscherinnen von Temple. Indessen trug man die Leblose ins Haus; der Nachtwächter leuchtete mit seiner Laterne voran. Mistreß Duncomb, eine Greisin von fünfundsiebzig Jahren, war von dem Tumult erwacht und kam in den Flur. Sie ließ die Verwundete in die Küche tragen und befahl, ihr ein Lager neben dem Herd zu bereiten; dann holte sie ein Stück Linnen und war behilflich, den verletzten Arm einzubinden.

      Am Morgen war das unbekannte Mädchen noch immer nicht aus der Betäubung erwacht. Augen und Mund waren fest geschlossen, der Leib war ohne Merkmal des tätigen Atems. Es wurde über die Straße nach dem Doktor Rush geschickt; als er kam und sah, daß er seine Kunst an ein armseliges Dirnlein verschwenden sollte, zuckte er die Achseln und verordnete einen Aderlaß, ohne die Wunde am Arm zu bedenken, durch die schon genug Lebenssaft entflossen war. Das Rezept blieb wirkungslos; es verging der ganze Tag und die Fremde lag da wie in der ersten Stunde; man hatte nichts über sie erfahren können, nicht, woher sie kam, wie sie hieß und durch welche Umstände sie ums Leben gekommen war, – denn allmählich durfte man annehmen, daß es mit dem Kind vorüber sei und nichts mehr anderes zu geschehen habe, als für die geheimnisvoll Hingegangene ein Grab zu besorgen. Die Hausbewohner waren lebhaft erregt durch den Vorfall. John Kerrels Freund und Zimmerkamerad, Master John Gehagan, der in der vergangenen Nacht zu früher Zeit heimgekehrt war, wollte gegen ein Uhr ein heftiges Geschrei aus der Richtung von St. James gehört haben, aber dadurch war nichts erklärt. John Gehagan ging hinunter in Mistreß Duncombs Küche, besichtigte das regungslose Mädchen mit dem Mißtrauen eines Menschen, der alle Tücken und Schliche des Bettelvolks kennt und gab den Rat, man solle der Person einen Blasebalg unter die Nase führen oder ihre Fußsohlen mit glühendem Eisen kitzeln. Trotzdem betrachtete er nicht ohne Erbarmen die kindlich schmale Gestalt, aus der das Leben unmerkbar zu fließen schien wie Wasser aus der hohlen Hand.

      Die Dunkelheit war schon angebrochen, da begann plötzlich die Ohnmächtige sichtbar zu atmen. Nur die Zofe und das Laufmädchen waren in der Küche, und jene rief sogleich ihre Herrin. Als Mistreß Duncomb an das Lager trat, blieb sie voll tiefen Staunens wie angewurzelt stehen. Sie blickte in ein Gesicht, das von aller irdischen Qual gelöst war. Ein sanftes Lächeln hatte sich über den Mund gebreitet und, gleichsam von innen heraus, die Lippen auseinandergedrängt. Zweifellos umfing ein Traum die gefesselten Sinne und erschloß ihnen das Tor zu einem Land der Wunder und des Glücks. Es war, als ob die Schläferin Engelstimmen höre, denn sie schien zu horchen; es war, als ob ein göttliches Wesen ihr nahe sei und die Last gefürchteter Leiden von ihrem Herzen hebe, denn sie schien zu sehen und auf ihrer Stirne lag es wie ein Schimmer von Dankbarkeit und Erleichterung. Die übrigen Mägde, die sich nach und nach einfanden, umgaben verwundert das Bett. Das Lächeln der Träumerin faßte jede einzelne tief an in ihrem Innern. Andächtig standen sie, die Hände über den weißen holländischen Schürzen gefaltet, und blickten in das Feuer dieses Traums, bis ihre Augen glänzten und sie etwas wie Unzufriedenheit mit den Zuständen dieser Welt und ihres eigenen Daseins verspürten. Schließlich begann eine der Letztgekommenen laut zu beten, und davon erwachte das Mädchen aus ihrem Todesschlaf und öffnete die Augen.

      Da war es nun wieder ein Gesicht wie alle Gesichter oder wenigstens wie viele; die Fremdheit sank von ihm herunter, und die Weiber, die im Kreis standen, fühlten sich beschämt und geärgert. Man wollte den Namen einer so seltsam sich gebärdenden Person wissen, und sie gab bereitwillig Auskunft, daß sie Sara Malcolm heiße. Sonst war nichts aus ihr herauszubringen. Je mehr man in sie drängte, je verstockter wurde sie. Sie gab sich so scheu und verschlossen, daß selbst das Wohlwollen der gutmütigen Herrin daran Anstoß nahm, die ihr immer von neuem versicherte, daß sie in ihrem Hause bleiben könne, daß sie hier Arbeit und Brot finde und Gefahren nicht mehr zu fürchten brauche, deren Andenken ihr vielleicht das Herz beschwerten. Vergeblich; argwöhnisch und ängstlich flogen ihre Augen von Gesicht zu Gesicht, blieben auf keinem sanfter ruhen, und als sie mit der Musterung aller fertig war, seufzte sie bang und schaute verdrossen zu Boden. Die nachsichtige Mistreß Duncomb ließ ihr zu essen bringen, und mit Gier schlang Sara bis auf den letzten Bissen Brot alles hinunter. Darauf mußte sie ihre Lumpen ablegen und erhielt anständige Kleider, und ein Mädchen war ihr behilflich, das wunderbare rote Haar auszukämmen, das bis zu den Schenkeln reichte und so dicht war, daß es an Stelle eines Mantels hätte dienen können.

      Sara Malcolm blieb im Hause. Sie mußte niedrige Arbeit verrichten und des letzten Dieners Dienerin sein. Sie mußte treppauf treppunter laufen, für die Mietsherren über die Straße rennen, das Schoßhündchen der Frau suchen, wenn es sich verloren hatte, und aus der Schenke das Bier für den Stallknecht holen. Sara! rief es früh und spät, Sara! hier und dort. Und nicht genug mit all dem Eilen, Hasten, Schaffen und Kommandiertwerden, hatte sie auch noch die frechen Zumutungen der Männer abzuwehren, vom noblen Gentleman, der um Mitternacht besoffen die Stiege hinaufstolperte, bis zum pockennarbigen Bäckerjungen, der nach Tagesanbruch ans Haustor pochte. Viel Arbeit hatte Sara und wenig Schlaf. Wenn die Stiefel geputzt und die Gewänder gebürstet waren, stand die Uhr schon weit in der Nacht, das Haus lag im Schlummer, und sie taumelte in einen Verschlag neben der Kellerluke, wo sie und das Laufmädchen auf Strohsäcken liegen mußten.

      Doch war sie in ihrem Gemüte zufrieden, wenn man sie nur mit Worten in Ruhe ließ, nur nicht an ihr herumfragte und nach vergangenen Dingen forschte. Die Warums und Wanns schmeckten ihr bitterer als Hunger und Regenwetter. Das eine hatte sich bald herausgestellt, und John Kerrel hatte recht geraten; sie war im Tempelbar Wäscherin gewesen. Aber es war länger her denn ein Jahr; man wollte wissen, daß sie sich einem unehrbaren Wandel ergeben habe und der eine oder andere behauptete sie in verrufenen Kneipen gesehen zu haben mit Leuten, denen ein anständiger Mann nirgends begegnen möchte.

      Bei solchem Gemunkle hatte es sein Bewenden, zum Schluß kümmerte man sich nicht mehr viel um Sara. Man ließ sie leben und atmen, das war alles, – für sie genug. Den Himmel zu sehen, hatte sie kein häufiges Verlangen,


Скачать книгу