Gesammelte Erzählungen von Jakob Wassermann. Jakob Wassermann
mit Augen an, vor denen er erstarrte. Jetzt erinnerte er sich an ihr blutbedecktes Gesicht von gestern, und ihm wurde unheimlich zumute. Einige Mädchen standen an der Schwelle und beobachteten, was vorging, unter ihnen die Köchin, und auch sie erinnerte sich, wie Sara am Abend im roten Wein gewatet wie in Blut. Der Konstabler erschien. Die Volksmenge draußen hatte sich vermehrt, doch es war gelungen, das Tor abzuriegeln. Wie vom Fieber getrieben, ging Sara aus dem Zimmer, taumelte hinunter, machte sich in der Küche zu schaffen, stellte sich mit gerunzelter Stirne zum Feuer und wärmte die Hände. Bald kam die eine bald die andere von den Mädchen. Sie flüsterten und tuschelten; Stunden mochten verflossen sein, da hieß es: »Sara, du sollst hinaus zu Master Gehagan.« Sara ging hinaus, floh an John Gehagan und John Kerrel, die beide im Flur warteten, mit gesenktem Haupt vorbei in ihre Kammer. Dort stand sie zitternd, horchend, schnell atmend, bis die Männer nachfolgten. »Hast du die Nacht über geschlafen?« fragte der mildere Master Kerrel. Keine Antwort. »Warum ist dein Rock vor den Knieen blutig?« fragte John Gehagan. »Ich habe oben gekniet, das wißt Ihr doch«, erwiderte sie mit kaum vernehmbarer Stimme. »Dein Benehmen ist sonderbar. Hast du Geld am Leibe versteckt, Mädchen?« forschte John Gehagan weiter. Zugleich trat er auf sie zu, steckte die Hand in ihr Busentuch, suchte die Brüste hinunter, und wie er ihr unter den Arm fühlte, erschrak sie und ihr Kopf flog zurück. Da wurde ein Stück Hemd mit dem Blutfleck sichtbar. »Und woher ist dies Blut?« fragte Master Gehagan rauh. Sara deutete in die Höhe; »dort ist es her«, entgegnete sie, ohne des Doppelsinns inne zu werden. Mittlerweile hatte sich John Kerrel an das Durchsuchen des Strohlagers gemacht, und auf einmal zog er mit einem heiseren Schrei den Pokal hervor. Das Gefäß schwankte in seiner Faust, John Gehagan drückte fassungslos die Hände gegen das Herz.
»Ich weiß, ich bin ein verloren Weib!« schrie Sara. »Ich will ja gern den Tod erleiden.« Sie fiel nieder und umklammerte die Beine John Gehagans so fest, daß er sich kaum losmachen konnte. Ihre Augen rollten und vergingen fast, und ein furchtbares Seufzen drang aus der Tiefe ihres bedrängten Innern. John Kerrel eilte hinauf, bald kamen zwei Konstabler und führten Sara ins Gefängnis nach Newgate, wie sie war, mit ihrem Arbeitsrock und der blauen Kappe.
Vor den Richter, Sir Roger Brocas gebracht, konnte sie nicht sprechen. Es war ein Jammer, sie anzusehen. Sir Roger fühlte Erbarmen, verschonte sie für diesen Tag und ließ sie in die Zelle zurückbringen. Sie legte sich nicht hin, sie ging nicht umher, sie stand regungslos am vergitterten Fenster und blickte hinaus auf den finstern Hof und sah zu, wie es zu regnen anfing und wie es Nacht wurde, und hörte den Wind heulen. Und als es nun so einsam und dunkel um sie geworden war, da spürte sie plötzlich ein wundersames Pochen in ihrem Leibe. Zuerst achtete sie kaum darauf, es schwieg auch eine Zeitlang, dann wiederholte es sich stärker. Verwundert dachte sie nach, was das Pochen zu bedeuten habe, und als es zum dritten Mal wiederkehrte, da verklärte dasselbe himmlisch selige Lächeln ihre Züge, wie damals im Traum bei Mistreß Duncomb. Sie hatte ein Kind im Schoß. Im Traum hatte sich der Geliebte ihr vermählt, im Traum war er gekommen, im Traum hatte er sie beglückt. Sie kroch in einer Ecke des kalten finstern Raums in sich zusammen, denn so eng ihn vorher ihre Bangigkeit und Trauer gefunden hatte, so weit wurde er jetzt ihrer Verzückung. Sie lauschte in das Innere ihres Leibes hinein, und abermals regte es sich, sie glaubte es zu spüren, glaubte jedes der kleinen Gliederchen zu fühlen, und nun war sie Gott dankbar für die auferlegte Prüfung und freute sich darauf zu sterben, das Geheimnis unter dem Herzen. Gewiß war es derselbe lustgekrönte Engel, der sie mit dem Geliebten zusammengeführt und der sie den Todesweg hinaufgeleiten würde bis an das Tor des Paradieses. »Armes kleines Wesen«, so redete sie lächelnd vor sich nieder und in ihren Schoß hinein, »bist jetzt noch in der Finsternis, bald aber wirst du flügge sein, mein Vögelchen, und wirst Flügel haben und wirst dich im Lichte baden«. So schlief sie allmählich ein. Kein leisester Zweifel regte sich gegen das Wunder, das sich an ihr ereignet.
Wie erstaunt war am andern Tag Sir Roger, als Sara Malcolm heiter und ruhig vor ihn hintrat, auf alle Fragen runde, klare Antwort gab und weder die Reue und Zerknirschung einer Schuldigen noch das Staunen und den Schmerz einer Unschuldigen zeigte. Die Frage, ob sie den Mord verübt habe, erwiderte sie mit nein. Sie erzählte, daß sie aus dem Haus gelaufen, daß sie vor dem Kirchlein bei Fig-tree-Court, wo die Lampe brennt, gewesen sei, daß sie sogar dort den Master Oaks aus der Themsestraße gesehen habe. Was sie denn dort gemacht? fragte der Richter. Sie habe gebetet, antwortete sie. Dann sei sie zurückgegangen und habe vor Mistreß Duncombs Haus Mary Tracy getroffen, und sie erzählte, was sich darnach zugetragen. Sie erzählte auch, wie sie ehemals die Diebsgenossin der beiden Alexander geworden sei, als sie elend und verhungernd durch die Straßen geirrt war. Elternlos, heimatlos, freundelos war sie stets gewesen. Sie erinnerte sich, als Kind einmal auf dem Meer gefahren zu sein, aber woher und wohin, das wußte sie nicht. Überhaupt besaß sie nur wenig Erinnerungsvermögen.
Als aber der Richter auf den Pokal zu sprechen kam, den man doch in ihrer Lagerstatt gefunden, da schwieg sie beharrlich, – nicht wie eine Verbrecherin, die sich zu verraten fürchtet, sondern wie ein Mensch, der ein Geheimnis bewahren will und muß. Das Rätsel, das ihr selbst unlösbar und ungelöst blieb, konnte sie nicht preisgeben, ihre Zunge fand keine Worte dafür, und eine innere Stimme befahl ihr zu schweigen. Darauf wurde sie wieder in die Zelle zurückgeführt und zwei Scharwächter kamen, vor denen sie sich völlig entkleiden mußte, und die ihre Gewänder untersuchten, die Haare aufbanden und sie fragten, ob sie irgend etwas vergraben habe, es sei auch Geld geraubt worden. Sara schüttelte den Kopf. »Da müßt ihr euch an die beiden Alexander wenden«, sagte sie, und trotz ihrer Nacktheit benahm sie sich so, daß sich die beiden Alten darüber wunderten.
Mary Tracy und die Brüder Alexander konnten nicht aufgefunden werden. Am andern Tage wurde Sara aus dem Gefängnis geholt und man brachte sie vor die Leiche des gemordeten Jünglings. Der Richter und die Unterrichter waren dabei, ferner John Gehagan und ein Konstabler. Sie blickte stumm auf das wächserne Antlitz, ihre Augen schimmerten naß und sie faltete innig bewegt die Hände. John Gehagan, außer sich vor Gram und Wut, ballte die Faust und schlug sie, ehe es jemand verhindern konnte, ins Gesicht. Sie taumelte, aber sie schrie nicht; bald stand sie wieder aufrecht und bedeckte nur mit dem Arm die Augen, vor denen es flammte. »Was tut ihr mir, Master Gehagan?« murmelte sie klagend.
Dann ging es wieder nach Newgate, und sie wurde den Zeugen gegenübergestellt. Es waren hauptsächlich die Frauenzimmer, die sich über Saras seltsames, verstecktes, hexenhaft scheues Wesen äußerten, auch die Geschichte mit dem vergossenen Wein kam zur Sprache. Andere stellten sich ein, die Sara in früherer Zeit gekannt, und sagten Böses aus; wenn ein Mensch im Unglück sitzt, wollen alle, denen er einmal mißfallen, ihr Mütchen auslassen. Sie zeigte sich würdig und fest. Kein überflüssiges Wort kam von ihren Lippen, aber keine leichtsinnige Verdächtigung ließ sie hingehen, ohne dem Urheber mit scharfer, ja scharfsinniger Frage und Weiterfrage an den Leib zu rücken, so daß sie die Betreffenden oft sehr in Verlegenheit brachte. Ihre Art und Weise erregte schließlich Aufsehen. Gebildete Leute kamen, sie zu sehen und ihr zuzuhören. Es war ein fremdes, stolzes Wesen in ihr aufgewacht, seit sie im Gefängnis saß. Die Wärter, die Konstabler, der Türenschließer, alle konnten ihre Sanftmut, ihre Gefälligkeit, ihr munteres und gesammeltes Wesen nicht genug rühmen, und sie genoß Freiheiten wie kein anderer Gefangener. Daß es um sie geschehen war, daran war nicht zu zweifeln; man wollte ihr die Tage leicht machen.
Ende März wurde sie zum Tode verurteilt, und der Wärter teilte ihr abends mit, daß sie in Fleetstreet mit sechs oder sieben andern gehängt werde. Sie antwortete nichts und blickte klaren Auges, klaren Ausdrucks in die Höhe. Das schmale Gesicht mit dem schmalen Kinn veränderte sich in dieser Minute zu einem Bild ergreifender Menschlichkeit. Hinter der Stirn wohnte der Wunderglaube und machte sie leuchtend, in den Augen dunkelte der Tod.
Es war ein greulicher Sturm an jenem Abend. Sara schritt in ihrer Zelle auf und ab. Sie hatte nur noch die einzige Sorge, daß niemand ihre Schwangerschaft merken möge, die jetzt schon ein wenig vorgeschritten war, denn eine Schwangere durfte nicht gerichtet werden. Während sie hin und her ging, kam der Geistliche in die Zelle, ein milder Mann, der die Sünder gnädig mit Worten bedachte und die Gnade nach dem Maß der Buße verteilte. Lange redete er in Sara hinein, sie möge ein offenes Bekenntnis ablegen, aber sie entzog sich allen Ermahnungen durch ein, wenn auch freundliches, doch starrsinniges Schweigen, und am Ende sagte sie mit Wärme: »Wenn ich eine Weile im Grabe