Gesammelte Erzählungen von Jakob Wassermann. Jakob Wassermann

Gesammelte Erzählungen von Jakob Wassermann - Jakob Wassermann


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schüchtern. – »Ach was, Sand, Sand!« eiferte der Schuster, »was beweist denn Sand!« – »Nein, Sand beweist gar nichts«, gaben alle zu. Und schon am Mittag hieß es in allen Häusern des Viertels: Fualdes ist geschlachtet worden, sie haben ihn abgeschlachtet. Das Wort gab den entzündeten Gehirnen ein Bild, den raunenden Zungen einen Hinweis.

      Nun hatte ein unheimlicher Zufall es gefügt, daß der Nachtwächter an dem verhängnisvollen Abend vor dem Bancalschen Haus, das durch die finstre Quergasse de l’Ambrague vom Haus des Advokaten Fualdes getrennt lag, einen Stock mit Elfenbeingriff und vergoldetem Ring gefunden und in der Wachtstube abgegeben hatte. Fualdes’ Wirtschafterin, ein altes taubes Weib, bezeichnete den Stock mit Sicherheit als Eigentum ihres Herrn; ihre Behauptung schien unwidersprechlich. Viel später stellte es sich heraus, daß der Stock einem durchreisenden Kaufmann gehörte, der mit einigen Dirnen die Nacht verlumpt hatte; aber jetzt richtete sich die Aufmerksamkeit auf einmal und mit vorbereiteter Glut auf das übelberufene Bancalsche Haus, ein verfallenes, dumpfes Gebäude mit feuchten schmutzigen Winkeln. Früher hatte es ein Schlächter besessen, und auf dem Hof wurden noch Schweine gehalten. Es war ein Gelegenheitshaus und wurde allnächtlich von Soldaten, Schmugglern und verdächtigen Mädchen besucht; auch dichtverschleierte Damen und vornehme Herren huschten bisweilen dort ein und aus. Im Erdgeschoß wohnten außer dem Ehepaar Bancal der ehemalige Soldat Colard mit seiner Geliebten, die Dirne Bedos und der bucklige Missonier, oben hauste ein alter Spanier namens Saavedra mit seiner Frau, ein politischer Flüchtling, der in Frankreich Schutz gesucht.

      Am Nachmittag des einundzwanzigsten März stand der Soldat Colard am Eck der Rue de l’Ambrague und blies auf der Flöte eine eintönige Melodie, die er von den Schafhirten der Pyrenäen gelernt hatte. Da kam der Krämer Galtier des Weges, blieb stehen, stellte sich als ob er zuhöre, unterbrach aber schließlich den Musikanten und sagte streng: »Was treibst du dich herum und gibst dich unwissend, Colard? Weißt du denn nicht, daß in euerm Haus der Mord geschehen sein soll?«

      Colard schob den struppigen Schnurrbart von den Lippen und erwiderte, er und Missonier seien an dem Abend in der Weinwirtschaft bei Rose Feral gewesen, neben dem Bancalschen Haus. »Hätt’ ich Lärm gehört,« sagte er prahlerisch, »so wär ich gekommen und hätte gerettet, denn ich habe zwei Gewehre, Herr.«

      »Wer war denn sonst noch bei Rose Feral?« forschte der Krämer. Colard dachte nach und nannte Bach und Bousquier, zwei berüchtigte Schmuggler. »Die Strolche, sie mögen sich hüten,« sagte der Krämer, »und du, Colard, komm’ mit, der arme Fualdes wird begraben, da ist es nicht in der Ordnung, Flöte zu blasen.«

      Kaum waren sie auf die Hauptstraße gelangt, wo sich eine zahlreiche Menschenmenge angesammelt hatte» so gesellte sich plötzlich Bousquier zu ihnen, der ein seltsames Betragen zeigte, bald lachte, bald den Kopf schüttelte, bald blöde vor sich hinglotzte. Colard sah ihn scheu von der Seite an, und der Krämer, der an nichts andres dachte als an den Mord und in alledem die Kapriolen des bösen Gewissens zu sehen vermeinte, beobachtete den Mann scharf. Auch die Umstehenden wurden aufmerksam und jedem leuchtete es sogleich ein, daß, wenn irgendwer von dem in Bancals Haus geschehenen Verbrechen wissen könne, dies Bousquier sei. Der aufgeregte Galtier fragte ihn geradezu und mit lauter Stimme. Bousquier war angetrunken, der ungewohnte Menschentumult berauschte ihn noch mehr, er schien verlegen, empfand sich aber zugleich als wichtige Person. Erst tat er so, als wollte er nur ungern herausrücken, dann erzählte er mit feierlicher Umständlichkeit, daß er in der Mordnacht von einem Tabakhändler in blauem Rock gerufen worden sei; dreimal habe der Unbekannte nach ihm geschickt, dann sei er gekommen, habe einen schweren Ballen tragen müssen und sei mit einem Goldstück bezahlt worden.

      Schon während des Redens rann der Schrecken über das Gesicht des schwatzhaften Menschen; er wurde sich der Bedeutung seiner Worte langsam bewußt. Die Zuhörer hatten einen dichten Kreis um ihn gebildet, und eine schmetterndschrille Stimme erschallte aus dem Haufen: »Sicherlich hat die Leiche in dem Ballen gesteckt!«

      Bousquier schaute beklommen drein. Er mußte immer wieder von neuem anfangen, und die gespannt auf ihn gehefteten Blicke zwangen ihn zur Erfindung neuer kleiner Einzelheiten, wie daß der Tabakshändler plötzlich auf unerklärliche Weise verschwunden sei und daß er eine schwarze Maske vor dem Gesicht gehabt habe. »Wohin hast du denn die Leiche tragen müssen?« fragte Galtier mit aufeinandergepreßten Zähnen. Bousquier schwieg entsetzt, dann, durch die vielen drohenden Augen eingeschüchtert, erwiderte er leise: »Gegen den Fluß hinaus.«

      Zwei Stunden später war er verhaftet und hinter Schloß und Riegel gesetzt. Noch am selben Abend wurde er vor den Untersuchungsrichter, Monsieur Jausion, geführt, und wie nun der Unselige gewahrte, daß es Ernst wurde, daß sein Geschwätz zum Zeugnis werden sollte, daß jedes seiner Worte aufgeschrieben ward und daß er dafür einstehen müsse mit der Freiheit, ja vielleicht mit dem Leben, da packte ihn die Angst. Er leugnete die Geschichte mit dem Tabakshändler und dem schweren Ballen, und als der Richter zornig wurde, verstummte er ganz. In die Kerkerzelle zurückgebracht, verfiel er in dumpfes Brüten. »Nur frisch darauf los, Bousquier,« redete ihm der Wärter zu, »man darf die Herren nicht langweilen; wenn du störrisch bist, wirst du böse Nächte zu überstehen haben.«

      Bousquier schüttelte den Kopf. Der Wärter holte einen dicken Folianten herbei, und da er selbst des Lesens unkundig war, rief er einen andern Gefangenen, und dieser mußte die Gesetzesstelle vorlesen, wonach derjenige, der einem Verbrechen gezwungenermaßen beigewohnt und es freiwillig bekenne, mit einem Jahr Gefängnis davonkomme. Der Wärter hielt die Laterne neben das ledergelbe Gesicht des Vorlesers und nickte Bousquier ermunternd zu. Bousquier leierte ein Vaterunser vor sich hin. In großer Unruhe und nach einem Ausweg aus der Bedrängnis irrend, sagte er endlich, es sei alles so gewesen, wie er zuerst erzählt, aber der Tabakshändler habe ihm nicht ein Goldstück gegeben, sondern nur ein paar Silbermünzen. Er wiederholte das Geständnis vor dem Richter, der ungeachtet der späten Stunde gerufen wurde.

      Am nächsten Morgen wußte ganz Rhodez, Bousquier habe gestanden, daß Fualdes im Bancalschen Haus abgeschlachtet und daß die Leiche in der Nacht zum Fluß getragen worden sei. Auf einmal öffneten sich Lippen, denen bisher die Furcht ein Siegel auferlegt hatte. Jemand, dessen Name nicht zu erfahren war, wollte vor dem Haus des Kaufmanns Constans schleichende Schatten gesehen haben; auch hatte er beobachtet, daß sie wenige Schritte weiter Halt gemacht und zur Beratung zusammengetreten waren, worauf er selbst, das Gräßliche ahnend, entfloh. Es wurde vergeblich nach diesem Zeugen geforscht, dessen Stimme hinter andern Stimmen so schnell verklang und der doch, wie mit unsichtbarer Hand, die erste Skizze zu dem Bild des nächtlichen Todeszuges entworfen hatte. Jede Phantasie malte im stillen daran weiter; man sah die Leiche selbst auf der Tragbahre; die Bahre ward mit einer Deutlichkeit beschrieben, als stellte sie das Merkmal der geheimnisvollen Tat vor; ein Tischler zeichnete sie sogar mit großen Kreidestrichen auf die Mauer des Rathauses. Eine an Schlaflosigkeit leidende Dame gab an, sie sei in jener Nacht am Fenster gesessen und habe trotz der Dunkelheit Bancal sowie den Soldaten Colard erkannt, welche die Bahre an den zwei vorderen Stangen trugen. Ferner habe sie den Arbeitsmann Missonier, der den Zug beschloß, fluchen gehört. Vor dem Richter vernommen, geriet sie in ein widerspruchsvolles Wesen, was mit ihrer begreiflichen Erregung entschuldigt wurde. Die Worte waren einmal da; welches Gewicht sie tragen mußten, lag in der Gewalt und Sonderbarkeit der Umstände; das Leichtgesprochene wog im Ohr des zufälligen Hörers schon schwer wie eigene Schuld, so daß er sich der Last zu entledigen trachtete und es weitergab, als brenne es ihm die Zunge wund, falls er im geringsten zögerte. Vielleicht war es diese Schlaflose, vielleicht der namenlose Mund der Fama selbst, welche das Gemälde der Mordkarawane um die Gestalt eines großen, breitschultrigen Mannes bereicherte, der mit einer Doppelflinte versehen war und dem Zug als Anführer vorausschritt. Nun hatte das graue Gewebe einen Mittelpunkt und erhielt eine Art Beleuchtung und Belebung durch die wahrscheinliche und ergründbare Ruchlosigkeit eines einzelnen. Noch zwölf Stunden, und jedes Kind wußte um die genaue Anordnung des nächtlichen Zuges: erst der große starke Mann mit der Doppelflinte, dann Bancal und Colard und Bach und Bousquier, die Bahre tragend, dann der bucklige Missonier als Aufpasser und Nachhut. Bei den letzten Häusern der Stadt wurde der Weg zum Flusse schmal und abschüssig; es war nicht Raum genug für zwei Leute nebeneinander, Bousquier und Colard mußten den Leichnam allein tragen, und Bousquier war es, nicht Missonier, der bei diesem Anlaß fluchte, so laut fluchte,


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