Gesammelte Erzählungen von Jakob Wassermann. Jakob Wassermann
die Vorstellung zu Ende war, näherte er sich Clarissa, die in apathischer Haltung zum Ausgang schritt, wo ihr Wagen wartete, und fragte, ob sie sich einen Scherz mit ihm habe machen wollen, und sie, mit trockenen Lippen, etwas wie neugierigen Haß im Gesicht, antwortete abermals lachend: »Nein, nein, Kapitän«. Darnach wurden ihre Züge wieder ernst, fast traurig und sie senkte die Stirn.
Clemendot ging verstört nach Hause, durchaus in der Meinung, er habe ein wichtiges Geständnis empfangen. Er fand sich verpflichtet zu reden und vertraute sich am andern Morgen einem Kameraden an. Dieser zog einen zweiten Freund ins Geheimnis, es wurde Rat gehalten und schon am Mittag wurde der Richter verständigt. Monsieur Jausion ließ den Kapitän und Madame Mirabel zu sich entbieten. Nach langem und merkwürdigem Überlegen erklärte Clarissa alles für einen Spaß und der Richter mußte sie zunächst entlassen.
Aber nicht Spaß wollten die Herren, sondern Ernst. Der Präfekt, von dem Vorgefallenen unterrichtet, erschien am Abend beim Präsidenten Seguret und hatte eine kurze Unterredung mit dem würdigen Mann, der, in tiefster Brust erschüttert, vernehmen mußte, welche Schmach seine Tochter über ihn und sich heraufbeschwor und so den Frieden seines Alters bedrohte. Clarissa wurde herbeigeholt; wie entgeistert stand sie vor den beiden Greisen und der in jeder Bewegung und Miene des Vaters sich bekundende Kummer rührte sie schmerzlich an ihrer Seele. Sie berief sich auf den unbesonnenen Augenblick, auf eine tolle Laune und Verwirrung des Gemüts; umsonst, der Präfekt legte seinen Unglauben offen dar. Herr von Seguret, der trotz einer zum heiteren geneigten Lebensführung überaus mißtrauischen Gemütes war, auch des festen und klaren Urteils über Menschen ermangelte, konnte nicht umhin, das bedrückte Wesen der Tochter als einen Beweis von Schuld aufzufassen und er erklärte ihr mit schneidender Strenge, daß er nur um den Preis der Wahrheit sie nicht von seinem Herzen stoßen wolle. Clarissa verstummte; die Worte drangen gleich würgenden Teufeln auf sie ein. Der Präsident verlor Schlaf und Ruhe und wanderte mit zerwühlten Sinnen die ganze Nacht über im Schloß herum. Seine Überlegungen bestanden darin, Clarissas Natur nach der Seite jener furchtbaren Möglichkeit hin zu erforschen, und bald genug sah er ihren undurchdringlichen Charakter mit den Flecken und Brandmalen eines romantischen Lasters bedeckt. Auch er war völlig im Bann der fanatisierten Meinung von aller Welt, seine Erfahrung hielt dem Pesthauch des verleumderischen Wesens nicht stand; die Furcht, am Ungeheuren teil zu haben, war stärker als die Stimme des Herzens; der Argwohn wurde Gewißheit und das Leugnen zur Lüge. Wenn er Clarissas Vergangenheit bedachte, ihre unbändige Lust, die vorgeschriebenen Wege zu verlassen, – eine Eigenschaft, die ihm jetzt als die Pforte zum Verbrechen erschien – dann war keine Annahme verwegen genug, und ihr Bild verwob sich von selbst in das düstere Gewebe.
Auch Clarissa schlief nicht. Im Dämmergrauen des Tages überraschte sie den Vater bei seinem verstörten Schreiten durch die Räume und schluchzend warf sie sich ihm zu Füßen. Er machte keine Anstalten sie zu trösten oder zu erheben; ihre verzweifelte Frage, was sie denn dort im Bancalschen Hause hätte suchen sollen, da ihr, als einer Witwe, keine Freiheitsfessel den Schritt verkürze und sie der Heimlichkeiten entraten dürfe, beantwortete der Präsident mit einem vielsagenden Achselzucken, und so fest war schon die schwarze Überzeugung genistet, so fern jede Milde, daß er auf ihre edle Forderung um ein gerechtes Erwägen nichts als die Worte hinwarf: »Sprich die Wahrheit.«
Die Kunde war nicht lahm. Verwandte und Freunde des Präsidenten kamen: bestürzt, erregt, lüstern, schadenfroh. Die undurchsichtig fremde, gleitend unnahbare Clarissa in den Kot geworfen zu sehen, war ein Anblick, den zu genießen alle begierig waren. Einige ältere Damen wagten ein heuchlerisch sanftes Zureden und Clarissas verachtendes Schweigen und ihr wehvolles Auge schienen Geständnisse zu geben. Der Präfekt kam neuerdings und in seiner Begleitung befanden sich zwei Beamte. Für die Regierung und die Behörde stand alles auf dem Spiel; der Racheruf, der um ihre Sicherheit besorgten Bürger, der Hohn und Groll der Bonapartisten wurden täglich ungestümer, die Zeitungen forderten die Verurteilung der Schuldigen, eine Empörung des Landvolks war im Zuge. Eine an der Tat selbst unbeteiligte Zeugin wie Madame Mirabel konnte alles schnell wenden und beenden, man redete ihr zu, versprach, was den im Bancalschen Haus geleisteten Eid anlangte, schriftlichen Dispens aus Rom und ein Jesuitenpater, den der Bürgermeister ins Schloß führte, mußte dies ausdrücklich bestätigen. Als alles vergeblich war und Clarissa dem frevlerischen Eindringen eine steinerne Ruhe entgegenzusetzen begann, drohte man ihr mit dem Gefängnis, drohte, ihre Schmach und Lasterhaftigkeit zu einer öffentlichen Sache von ganz Frankreich zu machen und bei diesen Worten des Präfekten warf sich ihr Vater vor ihr auf die Kniee, so wie sie am Morgen vor ihm getan und beschwor sie zu sprechen. Das war zu viel; mit einem Aufschrei stürzte sie ohnmächtig zu Boden.
Clarissa glaubte sich zu erinnern, daß sie den Abend des neunzehnten März bei der Familie Pal in Rhodez verbracht habe; sie glaubte sich zu erinnern, daß Frau Pal selbst am andern Tag zu ihr gesagt hatte: wir waren so lustig gestern und vielleicht ist um dieselbe Zeit der arme Fualdes ermordet worden. Als sie sich darauf berief, stellten die Pals alles mit Bestimmtheit in Abrede, sie leugneten den Besuch Clarissas, ja, in ihrer unbestimmten feigen Angst erklärten sie sogar, mit Madame Mirabel seit Jahren verfeindet zu sein.
Menschlichem Erbarmen waren die von Furcht und Wahn verblendeten Geister nicht mehr zugänglich. Hätte auch die Vernunft eines Einzelnen zu widerstreben versucht, es wäre nutzlos gewesen; die riesige Lawine konnte nicht gehemmt werden. Es wurde ein teuflischer Plan erdacht, und der Präfekt Graf d’Estournel war es, der ihn so vervollkommnete, daß er den besten Erfolg versprach. Gegen ein Uhr nachts rollte ein Wagen in den Schloßhof; Clarissa mußte darin Platz nehmen, der Präsident, der Richter, der Präfekt fuhren mit. Der Wagen hielt vor dem Bancalschen Haus. Herr von Seguret führte seine Tochter in das ebenerdige Zimmer zur Linken, einen höhlenartigen Raum, dumpf wie das schlechte Gewissen. Auf dem Ofensims brannte ein ärmliches Lämpchen, in dessen Schein lehnten zwei Huissiers und ein Schreiber mit starren Gesichtern an der Wand. Die Fenster waren mit Lappen verhängt, auf dem Alkoven äugte tiefe Finsternis, im ganzen Haus war es lautlos still.
»Kennen Sie diesen Ort, Madame?« fragte der Präfekt mit feierlicher Langsamkeit. Alle blickten Clarissa an. Um die gräßliche Spannung über ihrer Brust zu mildern, lauschte sie auf den Regen, der draußen an die Mauer klatschte; all ihre Sinne schienen sich hiezu im Ohr versammelt zu haben. Ihr Leib wurde schlaff, ihre Zunge war nur zu einem Nein oder Ja gewillt, und da jenes neue Qual und Marter, dieses aber vielleicht Ruhe versprach, so hauchte sie ein Ja: ein kleines Wörtchen, aus Schrecken und Erschöpfung geboren und kaum, lebendig, von einer geheimnisvollen Kraft beflügelt. Ihr Geist, verwirrt und von Sehnsucht durchflammt, machte ein Spukgebilde, das von tausend gärenden Gehirnen erschaffen war, zum Erlebnis. Das halbbewußt Vernommene, halbzerstreut Gelesene wurde brennendes Geschehen. Wunderbar verstrickt schien ihr Dasein mit dem jenes Mannes in Busch und Baum, der sich brünstig zum Himmel gereckt und mit dem Ausdruck eines durstigen Tieres die Luft durchschnuppert hatte. Jetzt stand sie auf der Brücke, die zu seinem Reich führte; sie sah sich zu seinen Füßen sitzen, von seiner ausgestreckten Hand fielen Blutstropfen auf ihren demütigen Scheitel. Grauen und liebliche Hoffnung faßten ihr Herz, jedes von einer andern Seite und dazwischen loderte wie eine Fackel, jauchzte wie ein Schlachtschrei der Name Bastide Grammont, ein Spiel für ihre Träume.
Erleichtertes Aufatmen flog nach dieser ersten Silbe eines bedeutungsvollen Geständnisses über die Gesichter der Männer. Der Präsident Seguret bedeckte die Augen mit der Hand. Im Innern beschloß er, der Liebe zu dem mißratenen Kind zu entsagen. Clarissa spürte es; alle Vorzüge, die sie an die bisherige Existenz geknüpft, waren gebrochen.
Sie sei also am Abend des neunzehnten März hier in diesem Raum gewesen? wurde gefragt. Sie nickte. Wie sie denn hierher gelangt sei? fragte Monsieur Jausion weiter, und er gab seiner Miene und seiner Stimme etwas Vorsichtiges und Delikates, um die noch zaghaften Geister der Erinnerung nicht bei der Arbeit zu stören. Clarissa schwieg. Ob sie durch die Rue des Hebdomadiers gegangen sei? fragte der Präfekt. Clarissa nickte. »Sprich! sprich!« donnerte plötzlich Herr von Seguret und selbst die beiden Huissiers schraken zusammen.
»Es begegneten mir mehrere Personen«, flüsterte Clarissa so leise, daß alle unwillkürlich den Kopf vorstreckten. »Ich fürchtete mich vor ihnen und aus Furcht lief ich ins erste offene Haus.«
Monsieur Jausion gab dem Schreiber einen Wink. »In dieses