Gesammelte Erzählungen von Jakob Wassermann. Jakob Wassermann
Spinne zukommt. In seinem Innern wog er gleichsam diese zarte Kindergestalt, wunderte sich flüchtig über das Bebende jeder Gebärde, das fliegende Auge, das ratlose Zucken der Lippen, wunderte sich über die am Boden liegenden Spitzen und glaubte zu träumen, als er gewahrte, daß eine flehende Bewegung ihrer Hände ihm galt.
Der Richter sprang auf und rief mit entstelltem Gesicht Clarissa zu: »Scherzen Sie nicht mit uns, Madame, es könnte Ihnen teuer zu stehen kommen. Sprechen Sie endlich! Ein abgezwungener Eid gilt nicht! Der Frieden Ihrer Mitbürger, die Ruhe des Landes steht auf dem Spiel. Lösen Sie sich aus der Bezauberung des Elenden! Ihr infames Lächeln, Grammont, wird Ihnen angerechnet werden am Tage des Gerichtes.«
Der Rat Pinaud trat vor und murmelte Bastide ein paar Worte ins Ohr, der dann die Arme erhob und die geballten aneinandergeketteten Fäuste mit einer Miene fressenden Ingrimms vor die Augen drückte. Clarissa wankte zum Tisch des Richters vor und indem sich ihre Wangen mit Leichenblässe überzogen, schrie sie: »Es ist alles Lüge! Lüge! Lüge!«
Monsieur Jausion musterte sie von oben bis unten, dann sagte er kalt: »So versetze ich Sie in den Anklagezustand, Madame, und erkläre Sie für verhaftet.«
Ein Schimmer düstrer Genugtuung überlief Clarissas Züge. Rasch, mit der blitzartigen Drehung einer Tänzerin kehrte sie sich zu Bastide Grammont, sah ihn an wie man nach einem schwülen Tag in den Gewitterhimmel schaut und nannte schmerzhaft aufatmend mit leiser Stimme seinen Namen. Er aber trat einen Schritt zurück wie bei unreiner Berührung, und niemals zuvor hatte Clarissa solchen Blick und Ausdruck der Verachtung gespürt. Ihre Kniee bebten, es ward ihr übel im Gaumen, die Wimpern füllten sich mit Tränen. Erst als sich die Türe des Gefängnisses hinter ihr geschlossen hatte, wich der kraftlose Zustand des Gepeitschtseins. Scham und Reue überwältigte sie, kaum fand sie einigen Trost in dem Geheimnisvollen ihrer Lage. Von keinem Gesetz überwacht, schien sie aus dem Gleise gehoben, wo sonst Ursache und Folge, schwerfällig aneinandergekoppelt, den langsamen Gang des Geschehens kriechen.
Ihrem Stande entsprechend, hatte sie den besten Raum des Gefängnisses erhalten. In den ersten Stunden lag sie auf dem Strohbette und wand sich in Krämpfen. Als der Wärter auf ihre dringende Bitte Licht brachte, da sie in der Finsternis wahnsinnig zu werden fürchtete, fiel der Kerzenschein auf das Bild des Gekreuzigten mit der Dornenkrone, das an der graugetünchten Wand hing. Sie schrie auf, ihre überreizten Sinne fanden eine Ähnlichkeit in den Zügen des Heilands mit jenen Bastide Grammonts. Dasselbe qualvolle Rund hatten seine Lippen gezeigt, als er die Fäuste an die Augen gepreßt.
Noch einmal lehnte sie sich auf gegen die maßlose Unbill. Mit der Welt zu leben war ihr eigentliches Element, ihr ganzes Wesen war auf ein liebenswürdiges Einverständnis mit den Menschen gestimmt. Sie verlangte Tinte und Papier und schrieb einen Brief an den Präfekten.
»Gerechtigkeit, Herr Graf!« schrieb sie. »Noch ist es Zeit das Äußerste zu verhindern. Erinnern Sie sich der Mühe, die Sie gehabt haben, das von mir zu erpressen, was die Wahrheit sein soll, erinnern Sie sich der Drohungen, durch die ich nachgiebig geworden bin. Ich bin ein Opfer der Umstände. Was immer ich gestanden habe, ist Lüge. Kein Mann von Vernunft kann an meinen Aussagen das Gepräge der Wahrscheinlichkeit entdecken. In einem Mutwillen der Verzweiflung hab’ ich falsches Zeugnis abgelegt. Sagen Sie meinem Vater, daß seine Grausamkeit ihm sicherer die Tochter raubt als mein scheinbares Vergehen. Schon weiß ich nicht mehr, was ich glauben darf, die Vergangenheit entschwindet meinem Gedächtnis, meine Sicherheit beginnt zu wanken. Wenn es zuviel ist, Gerechtigkeit zu fordern, dann bitte ich um Mitleid, Herr Graf. Mein Schicksal will mich prüfen, aber mein Herz ist rein wie der Tag.«
Es war erfolglos. Es war zu spät für Worte, selbst wenn der Mund eines Propheten sie hinausgedonnert hätte. Am andern Morgen wurden viele der Zeugen und Eingekerkerten Clarissa vorgeführt. So kamen Bach, die Bancals, der Soldat Colard, Rose Feral, Missonier und die kleine Magdalena Bancal. Bousquier war krank. Der Anblick der vernichteten, schlotternden, in ein Phantom verlorenen, von hundertfältigen Martern eingeschüchterten, rachsüchtig zu allem bereiten Geschöpfe beunruhigte Clarissa bis ins Mark und gab ihr zugleich ein Gefühl unauslöschlicher Besudelung. Ist sie es? wurde jeder von den Unglücklichen gefragt und mit verwegener Gleichgültigkeit antworteten sie: sie ist es. Bloß Missonier stand da und lachte wie ein Idiot.
Clarissa war erstaunt. Solche Bestimmtheit und Selbstverständlichkeit der Antwort hatte sie nicht erwartet. Mit innerlichem Schluchzen hielt sie das Unleugbare des gegenwärtigen Zustands von sich ab und suchte in ihrem Gedächtnis schaudernd einen Weg zu jenem Vergangenen, auf den er sich gründete und den man von ihr bekräftigt wissen wollte. Ihr erschütterter Geist kroch zurück in früher gelebte Jahre, bis in die Jugend, bis in die Kindheit, um den doppelgängerischen Feind zu entdecken; was unheimlich und fremd gewesen, ward allmählich Kern und Schwerpunkt ihres Daseins und die Mordnacht in Bancals Haus wurde wie die ganze übrige Welt zu einer Vision von Blut und Wunden.
Aber durch die düstern Phantasien führte der Weg zu Bastide Grammont; ein Blumenpfad zwischen brennenden Häusern. Es dünkte ihr schön, ihn schuldig zu willen. Vielleicht hatte er seine Lippen auf die ihren gedrückt, ehe seine Hand nach dem Mordmesser gegriffen. Sie vermählte die eigene, finsterempfundene Schuld mit seiner größeren. Was ihn von der Menschheit abschnitt, knüpfte ihn an sie. Seine Gründe zu der Tat? Sie fragte nicht darnach. Sicherlich hatte die Tat damals Wurzel geschlagen, als sie ihn zuerst gesehen, als er den ganzen Wald, den ganzen Frühling in sich hineingeschluckt hatte. Gleichviel, ob er die Hände in Sonnenlicht oder in Blut tauchte, beides gehörte zu seinem Bild, zu ihrer dunklen Leidenschaft und Fualdes war der böse Dämon und das verderbliche Prinzip. Ach, dachte sie in ihrem sonderbaren Grübeln, hätte ich es gewußt, so hätte ich selbst es vollbracht und hätte eine Heldin sein können wie Charlotte Corday. Doch warum leugnete, warum schwieg Bastide? warum jener Blick zermalmender Verachtung, den sie nicht vergessen konnte und der noch immer auf ihrer Haut wie ein Schandmal brannte? War er zu stolz, sich einem Spruch zu beugen, der seine Tat nicht besser erachtete als die jedes Straßenräubers? Kein Zweifel, er erkannte seine Richter nicht an. So konnte sie ihn also zu sich niederziehen, ihn abhängig machen vom Hauch ihres Mundes, das freie wilde Tier bändigen, und sie vergaß, was auf dem Spiele stand, vergaß das eherne Entweder-Oder, vor welches hier die Geschicke gestellt waren, und gab sich hin wie ein Kind, das nichts vom Tode weiß.
Für den sechzehnten Oktober war die Verhandlung vor den Assisen anberaumt. Am Mittag des zehnten begehrte Clarissa Monsieur Jausion zu sprechen. Vor den Richter geführt, sagte sie, sie wisse um alles, sie wolle auch alles bekennen. Mit erregt zitternder Stimme rief Monsieur Jausion seine Schreiber.
»Ich kam in die Stube und sah das Messer blitzen«, gestand Clarissa. »Ich flüchtete in den Alkoven, Bastide Grammont eilte mir nach, umarmte mich und küßte mich. Er vertraute mir an, Fualdes müsse sterben, denn der alte Satan habe ihm sein Glück zerstört und das Leben unwert gemacht. Bastide war wie trunken von Begeisterung, und als ich Einwände machte, schloß er mir abermals mit Küssen den Mund, ja er küßte mich so, daß ich keinen Widerstand leisten konnte. Dann ließ er mich einen Schwur tun, dann ging er und ich hörte stöhnen, ich hörte ein schreckliches Geschrei, die kleine Magdalena Bancal, die im Bette lag, richtete sich plötzlich auf und weinte, da verlor ich das Bewußtsein und als ich wieder zu mir kam, war ich auf der Straße.«
Diese Erzählung brachte sie in einem mechanisch-abgemessenen Ton vor; ihre Stimme klang gläsern und fast verstellt, ihre Augen waren umflort und halbverschlossen, ihre kleinen Hände hingen schwer neben den Hüften und als sie schwieg, lächelte sie süßlich vor sich hin.
»Sie haben also schon vordem mit Bastide Grammont verkehrt?« fragte der Richter.
»Ja. Wir trafen uns im Wald. In der Nähe von La Morne ist ein alter Brunnen im Feld; auch dort trafen wir uns häufig; besonders des Nachts und bei Mondschein. Einmal nahm mich Bastide auf sein Pferd und wir ritten in rasender Geschwindigkeit bis an die Schlucht von Guignol. Ich fragte: wovor fliehen Sie, Bastide? denn mir war kalt vor Schrecken, und er flüsterte: vor mir und vor der Welt. Doch sonst war er stets sanft. Nie kannte ich einen bessern Mann.«
Immer silbriger klang ihre Stimme und schließlich sprach sie wie eine Verzückte oder wie eine Schlafende. Die Aussage ward ihr vorgelesen, sie unterschrieb ruhig und ohne zu zaudern,