Gesammelte Erzählungen von Jakob Wassermann. Jakob Wassermann
den Himmel, die Luft und die Früchte der Bäume; jetzt aber bin ich geschändet und läge noch eine Zukunft vor mir, sie wäre klebrig von Schande und die Zeit schmeckte mir übel. Ist es ein Gericht, vor das man mich gestellt hat? Nein, es ist eine Treibjagd, der Richter ist zum Jäger geworden und richtet den Schuldlosen her zu einem Braten für den Pöbel. Ich verlange keine Gerechtigkeit mehr; es ist zu spät, mir Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, zu spät, und wenn man mir die Krone Frankreichs anböte. Ich gebe mich euch zur Vernichtung dar, euer Gewissen soll mit dieser Bürde beladen sein, ein Schuldiger macht tausend und eure Kindeskinder werden noch dafür die lebendige Erde mit Schmach überfluten.«
Lähmende Stille folgte diesen Worten. Plötzlich aber brach ein unbeschreiblicher Tumult aus. Zuhörer und Geschworene erhoben sich, ballten die Fauste gegen Bastide Grammont, schrieen und heulten durcheinander und Herrn von Enjalrans donnernde Mahnung verhallte ungehört. Und ebenso plötzlich entstand wieder eine Totenstille. Ein matter, langgezogener Schrei, der sich im Getöse erhoben hatte und nun klagend weitertönte, machte die Gesichter versteinern. Aller Augen richteten sich auf Clarissa. Sie fühlte die Blicke auf sich herabstürzen wie Balken eines zusammenbrechenden Gebäudes.
Ihr Herz war von ungeheurem Sühnewunsch wie verbrannt… .
Die Rede des öffentlichen Anklägers sammelte noch einmal die Waffen des Hasses, welche die Fama gegen ihre Opfer geschmiedet; mit abgefeimter Kunst verstand er die Mordnacht in solchen Farben zu malen, daß das Grauen wie zum ersten Mal lebendig wurde. Der Verteidiger Bastides dagegen genügte sich an hochtrabenden Phrasen; ihm wurde warm, die Hörer ließ er kalt. Während er sprach, entstand ein Schieben und Drängen im Hintergrund; einige Damen kreischten, ein mittelgroßer schwarzer Hund lief durch eine Öffnung der Schranken, schaute sich mit glitzernden Augen um und kauerte sich vor den Füßen Bastides kurz aufbellend nieder. Dieser legte in tiefer Bewegung die Hand auf den Hals des Tieres und wehrte den Huissier gebieterisch ab, der es entfernen wollte.
Als der Gerichtshof sich zur Beratung zurückzog, wagte niemand laut zu sprechen. Irgendein Frauenzimmer schluchzte und man verwies sie zur Ruhe; es war die Dirne Benoit, Colards Geliebte. Sie hatte den armseligen Menschen bei den Schultern umschlungen und das in Tränen gebadete Gesicht drückte kein andres Verlangen aus, als sein Schicksal zu teilen. Ein Verwandter Bastides trat zu diesem, um mit ihm zu sprechen; Bastides schüttelte den Kopf und sah den Mann nicht einmal an. Etwas Schlaftrunkenes war in seinen Zügen, jedenfalls hatten Worte kein Gewicht mehr in seinen Ohren. Doch geschah es, daß seine Augen sich noch einmal erhoben und, nachdem sie unermessene Fernen durchlaufen hatten, denen Clarissas begegneten. Da schien ihm das fremde Weib nicht mehr so fremd. Er hörte wieder den Ton ihrer Stimme, als sie ihn Mörder genannt hatte; war es nicht vielmehr ein Hilferuf als eine Beschuldigung gewesen? und dieser flehentliche Blick, als hätten unsichtbare Fäuste sie am Hals gewürgt? und diese zarteste Gestalt, so seltsam alterslos, zitternd wie ein junger Birkenbaum im Herbst?
Zwei einsame Schiffbrüchige werden durch den unterirdischen Meeresstrom in ein und dieselbe Bahn getrieben, jeder von einer andern Welt, diesseits und jenseits des Meeres, nicht imstande das Brett zu verlassen, woran ihr Dasein hängt, nicht einmal imstande sich die Hand zu reichen, bloß hingetrieben vom allmählich erschöpften Wind zu unbekannten Tiefen. Es liegt etwas Geisterhaftes in dem Erbarmen des einen für den andern. Doch Bastides schmerzliches und finsteres Erstaunen gärte wieder in den Rausch und Traum der Müdigkeit hinüber und die aufmerksamen Augen seines Hundes erschienen ihm wie zwei rötliche Sterne zwischen schwarzen Baumkronen. Er vernahm das Todesurteil, als der Gerichtshof zurückkehrte; er war aufgestanden und lauschte den Worten des Präsidenten; es klang, als ob Regenwasser auf mürbe Blätter plätscherte. Er hörte sich selbst etwas sagen, aber was es war, wußte er kaum. Viele Gesichter sah er in ungenügender Beleuchtung gegen sich gewandt, sie machten ihm den Eindruck wurmstichiger und verwesender Äpfel.
Das Verdikt gegen die übrigen Angeklagten sollte erst am folgenden Tag verkündigt werden. Die Menschenmenge im Saal, in den Gängen und auf der Straße verlief sich langsam. Als Clarissa durch den Korridor schritt, wich alles scheu zur Seite.
Sie hatte in Erfahrung gebracht, daß Bastide nicht nach Rhodez zurückgeführt würde, sondern im Gefängnis von Alby bleibe. Darauf schickte sie den Wagen fort, der auf sie wartete, und begab sich in ein nahegelegenes Gasthaus, wo sie ein Zimmer forderte und einen Brief an ihren Vater schrieb, ein paar fieberdurchwühlte Sätze: »Ich weiß nicht mehr was Wahrheit ist und was Lüge; Bastide ist unschuldig, und ich habe ihn vernichtet, während mein Wille zu ihm stand; Ja und Nein sind in meiner Brust wie zwei gestorbene Flammen; würde ich dorthin zurückkehren, woher ich kam, ich würde einen beständigen Tod erleiden, darum und weil so die Menschen leben wie sie leben, gehe ich dorthin wohin ich muß.« Es war schon Mitternacht vorüber, trotzdem begehrte sie den Wirt zu sprechen. Sie bat ihn, den Brief am nächsten Morgen durch einen sicheren Boten nach Schloß Perrié zu senden, dann ersuchte sie den verdutzten Mann, ihr ein Körbchen frischer Früchte zu verkaufen. Der Wirt bedauerte höflich, er habe nichts mehr in der Kammer. Leidenschaftlich drängend, bot sie den zehn-und zwanzigfachen Preis und warf ein Goldstück auf den Tisch. »Es ist für einen Sterbenden«, sagte sie, »alles hängt davon ab.« Der Mann betrachtete ängstlich das bleich-leuchtende Antlitz der vornehmen Dame und überlegte, erklärte endlich seinen Nachbar aufwecken zu wollen und hieß Clarissa warten. Als sie allein war, kniete sie vor dem Bett nieder, wühlte die Stirn in die Kissen und weinte. Nach einer halben Stunde kam der Wirt zurück und brachte einen Korb voll Birnen, Trauben, Granatäpfel und Pfirsichen. Kopfschüttelnd sah er der Davoneilenden nach und hielt den verschlossenen Brief, den er besorgen sollte, neugierig gegen das Licht.
Die Straßen waren öde und von verdämmertem Mondschein erfüllt. Die kleinen Fenster kleiner Häuser blinzelten verschlafen; unter einem Torweg stand der Nachtwächter mit der Hellebarde und murmelte wie ein Betrunkener. Vor dem niedrigen Gefängnisbau war ein freier Platz; Clarissa setzte sich auf eine Steinbank und da nebenan ein Brunnen rann und sie Durst hatte, trank sie sich satt. Die sanftgeschwellten Ränder der unfernen Hügel flossen kaum merklich in den Himmel über und hinter einer Talsenkung lohte Feuerschein, auch glaubte sie bei gespanntem Horchen Glockenläuten zu hören. So schlief doch nicht die ganze Welt und sie durfte das bange Herz noch einmal an Menschendinge binden. Nach einer Weile erhob sie sich, schritt zu dem Gebäude, stellte den Fruchtkorb auf die Erde und pochte mit dem Türklopfer ans Tor. Es dauerte lange, bis der Pförtner erschien und unwirsch nach ihrem Begehr fragte. »Ich muß Bastide Grammont sprechen«, erklärte sie. Der Mensch machte ein Gesicht, als habe ihn eine Wahnsinnige überfallen, knurrte drohend und wollte das Tor wieder zuschlagen. Clarissa packte mit der einen Hand seinen Arm, mit der andern riß sie die Diamantagraffe von der Brust. »Da, da, da!« stammelte sie. Der Alte hob seine Laterne ein wenig und besah sich das blitzende Schmuckstück von allen Seiten. Clarissa mißverstand seine schmunzelnd-furchtsame Freude, dachte, es sei ihm nicht genug und gab ihm noch ihre Börse. »Was ist in dem Korb?« erkundigte er sich in devotem Mißtrauen. Sie zeigte ihm, was darinnen war. Da gab er sich zufrieden, dachte, es sei wohl die Maitresse des Verurteilten, und nachdem er die Tür zugeschlossen, ging er voran. Sie schritten ein paar Stufen hinab, dann durch einen schmalen Gang. »Wie lange wollen Sie drinnen bleiben?« forschte der Wärter, als sie vor einer eisernen Türe standen. Clarissa schöpfte tief Atem und erwiderte flüsternd, sie werde dreimal gegen die Türe klopfen. Der Alte nickte, sagte, er wolle oben auf der Treppe warten, sperrte vorsichtig auf, reichte der Frau seine Laterne und schloß hinter ihr zu.
Drinnen hielt sich Clarissa an der Mauer fest und schloß die Augen, um zu warten, bis sich ihre rasenden Pulse beruhigt hatten. Es schien ein mäßig großer, nicht ganz unwohnlicher Raum. Bastide lag auf einem Strohsack an der gegenüberliegenden Wand; er schlief in seinen Kleidern. Welche Stille! dachte Clarissa schaudernd und schlich nun auf den Fußspitzen bis zum Lager des Schlafenden. Welche Stille auch in diesem Antlitz, welch ein schöner Schlummer, dachte sie, und ihre Lippen öffneten sich in lautlosem Schmerz. Sie stellte die Laterne so auf den Boden, daß der Schein sein Gesicht traf, dann kniete sie hin und lauschte den festen Atemzügen. Bastides Mund war ernst geschlossen, die Lider vibrierten nicht, ein Zeichen von Traumlosigkeit; der lange Bart umkränzte Wangen und Kinn wie braunes Buschwerk, der ganze Kopf war etwas hintüber gesunken und die Haare glänzten feucht. Allmählich strömte der Frieden seines Antlitzes auch auf Clarissa über, alle