Gesammelte Werke. Eufemia von Adlersfeld-Ballestrem
es, die Nerven!« meinte er. »Entsinne dich, wie gesund sie war, als sie die Musik eine Zeitlang ganz ruhen ließ. Plötzlich aber warf sie sich mit nervöser Hast auf das, was ja entschieden ihr Beruf ist, was ihren Neigungen entspricht, spielte stundenlang, sang und komponierte, bis ihre Nerven dem Reize nachgaben. Sie kann froh sein, wenn sie einem Nervenfieber entgeht, was ich aber glaube, wenn sie die richtigen Arzneien bekommt: Schlaf und Ruhe.«
Der Ausspruch des Arztes, den Falkner erwartete, lautete ähnlich. Er hatte ihr ein neu erfundenes, auf die Nerven wunderbar beruhigend wirkendes Präparat eingegeben und verschrieb nun noch ein Präservativ gegen erneute »Anfälle,« denen er aber etwas für ihn noch Unerklärliches nicht absprach.
Dolores verbrachte, dank dem Schlafmittel, eine ruhige, ungestörte Nacht, in welcher ihr unaufhörlich träumte, daß die Ahnfrau Dolorosa blaß und traurig vor ihr stände und sie beschwor, ihren Sieg über den Bösen nicht halb sein zu lassen, sondern zu vervollständigen, damit sie Erlösung fände.
Dieser Traum und die wiederholten Worte standen so klar und deutlich vor ihr, als sie erwachte, daß sie darüber nachdenken mußte. Diesen häufigen Träumen, in welchen eine Warnung vor »dem Bösen,« vor einer vagen Gefahr, immer wiederkehrten, seit sie im Falkenhofe war, fing sie an die Schuld an ihren herabgestimmten Nerven beizumessen, denn seit sie von Nordland zurück war, war kaum eine Nacht vergangen, die ihr nicht einen Traum gebracht, in welchem die Ahnfrau und deren Warnungen eine Rolle spielten. Freilich, der Schuß durch den spanischen Brief und der trotz aller Gegenvorstellungen nicht eingeschlafene Verdacht, daß ihr Sturz ins Hexenloch kein zufälliger gewesen, waren ja schließlich genug, um die unablässigen aufregenden Träume von nahen Gefahren für die zu rechtfertigen, welche an eine Einwirkung auf die Seele im Traume glauben, aber Dolores hatte sie eigentlich immer vergessen, wenn das Sonnenlicht kam und die klaren Gedanken ihres klaren Kopfes warm durchleuchtete. – Und wie sie nach dieser letzten Nacht erwachte und wieder die Erinnerung an den Traum derselben die Klarlegung der Vorgänge des vergangenen Tages verdrängten, der ihr eine so starke seelische Erregung gebracht, da überkam sie ein Wunsch, ein Gedanke –: »Fort von hier!« Und dieser Wunsch wurde so stark in ihr, daß er sie förmlich kräftigte und sie trotz der Gegenvorstellungen Terezas aufstand und sich in einen weichen, weißwollenen Schlafrock gehüllt auf dem Balkon ihres Salons das Frühstück servieren ließ. Dort sah sie der unten promenierende Doktor Ruß, fragte an, ob er störe und ließ sich auf die verneinte Antwort bald darauf ihr gegenüber nieder, ein wohlverbundenes und etikettiertes Fläschchen in der Hand, dessen wasserheller Inhalt ganz unschuldig aussah.
»Es freut mich unendlich, Sie wieder wohlauf zu sehen, teure Dolores,« sagte er mit dem tiefen, leisen Wohlklange seines Organs. »Aber,« fügte er, das Fläschchen schüttelnd, hinzu, »aber Sie müssen auch ›brav‹ sein und dies Tränkchen nehmen, das Doktor Müller für Sie verschrieb, und das ich selbst gestern Abend noch aus der Apotheke für Sie holte.«
Dolores versicherte, daß sie Arznei im ganzen ohne Schwierigkeiten nähme, sofern dieselben nicht bestimmte, ihr widerwärtige Mixturen enthielten, und schluckte darauf zum Beweise sofort einen Theelöffel voll, den Doktor Ruß ihr füllte.
»Schmeckt es schlecht?« fragte er lächelnd, als Dolores den Mund etwas verzog.
»Schlecht ist zuviel,« meinte sie, »aber es ist ein merkwürdiger Geschmack, ich weiß nicht wonach – ein Geschmack, der mich verfolgt, denn ich habe ihn schon in gewöhnlichen Speisen und Getränken verspürt.«
»Einbildung, pure Einbildung, liebe Dolores,« sagte Doktor Ruß. »Aber es ist ein Beweis krankhaften Zustandes.«
»Freilich wohl! Denn woher schmeckten mir sonst verschiedene Dinge ganz gleich?«
Sie spielte eine Weile sinnend mit der Etikette des Fläschchens, welche »zweistündlich einen Theelöffel« vorschrieb und begegnete, aufsehend, dem auf sie gerichteten Blicke des Doktor Ruß. Nervös erregt, wie sie war, machte selbst dieser Blick sie erschauern, doch sie bekämpfte schnell ihr Unbehagen.
»Lieber Doktor,« sagte sie dann nicht ohne eine gewisse Verlegenheit, »nicht wahr, Sie sind nicht böse, wenn ich Sie und die Tante für den Monat, den ich noch hier bleiben wollte, auslade. Ich muß aber fort, sonst geht meine Gesundheit ganz zu Grunde. Ich denke, die See soll mir jetzt noch gut thun. Dafür aber besuchen Sie mich nächsten Sommer wieder hier recht lange, nicht wahr?«
»Natürlich, natürlich, liebe Dolores! Bedarf es zwischen uns der Formalitäten? Sicherlich doch nicht!« erwiderte Ruß hastig und lauter als gewöhnlich. »Und wann wollen Sie fort?« setzte er gespannt hinzu.
»Sobald die Einquartierung fort ist – also genau in einer Woche. Es wird mir schwer genug, auch diese noch hier zu bleiben, denn ich fühle, daß ich einer Reparatur meiner Nerven dringend bedarf.«
»Sicherlich,« stimmte Doktor Ruß zu. »Aber ein Wort noch, liebe Dolores, in dieser Sache. Sie können nicht allein reisen, nicht allein im Seebade bleiben – die Welt urteilt so leicht – und –«
»O nein, ich weiß, daß man den ›bösen Zungen‹ Konzessionen machen muß,« fiel sie ein, »obgleich ich gestehe, daß ich dieselben stets hart meinem Stolze und meinem reinen Bewußtsein abringen muß. Tereza ist unterwegs genug für mich, Ramo nicht zu vergessen, und im Seebade werden Balthasars mich bevatern und bemuttern.«
»Ah? Und dann?«
»Dann gehe ich auf vier Wochen zu der Großherzogin auf deren Lustschloß an der See – wir haben das schon abgemacht. Den Winter aber verlebe ich mit dem alten Freunde meines Vaters und dessen Gattin in Italien.«
»Also alles fait accompli?«
»Alles. Nicht wahr, Sie sind nicht böse, daß ich Sie für diesen folgenden Monat aus-, und daher zum nächsten Sommer einlade. Aber wäre ich nicht so ›Halali,‹ wie Engels es bezeichnet, so wäre ich sicherlich geblieben,« schloß sie liebenswürdig und reichte ihm die Hand, welche feucht und kalt war.
Doch obgleich Doktor Ruß sich vollkommen wohl befand, so hatte Dolores von seiner Hand genau dieselbe Empfindung, die sie abstieß und ihr unangenehm war.
»Nun, das fehlte noch, daß Sie sich deswegen bei uns entschuldigen wollten,« erwiderte er heiter, aber mit belegter Stimme.
»Und Sie? Wohin werden Sie die Achse lenken?« fragte Dolores.
»Jedenfalls zuerst nach Berlin,« meinte er sorglos. »So wenigstens habe ich es mit meiner Frau besprochen.«
Bald darauf verabschiedete er sich und stieg in seine Wohnung herab, wo seine Frau nähend saß.
»Dolores ist auf, will fort und hat uns gekündigt,« sagte er mit forcierter Lustigkeit. Und als Frau Ruß erstaunt aufsah, setzte er, etwas aus der Rolle fallend, hinzu: »Du brauchst mich nicht so erstaunt anzuglotzen, wie die Kuh das neue Thor – heut' über acht Tage wird der Falkenhof geschlossen, und wir sind mit einer Einladung fürs nächste Jahr an die Luft gesetzt. Fürs nächste Jahr! Wenn du ein Murmeltier bist, so lege dich bis dahin schlafen, oder wenn du ein Dachs bist, so vergrabe dich und zehre an deinem eigenen Fett, wie es diese ökonomischen Tiere zu thun pflegen!«
Und damit lachte er höhnisch und ging in sein Zimmer, dessen Thür er hinter sich verriegelte.
Frau Ruß war leichenblaß geworden – die Arbeit glitt der sonst unablässig Fleißigen aus der Hand, und sie saß, den Blick geradeaus gerichtet, wohl eine halbe Stunde da, ohne sich zu rühren, wie ein Steinbild. Endlich erhob sie sich mühsam, streifte die niederen Schuhe von den Füßen, schlich zu der Thür, durch welche ihr Gatte verschwunden war und sah durch das Schlüsselloch. Er saß, wie sie vermutet hatte, vor dem Rokokopult mit Aufsatz dessen er sich stets als Schreibtisch bediente, und schrieb – malte vielmehr mit der Feder, langsam und oft absetzend, auf einem Blatte Papier und sah oft dabei auf ein anderes Blatt, das vor ihm lag, das Frau Ruß aber nicht erkennen konnte. Er kopierte augenscheinlich etwas. Dabei hörte sie ihn öfters Ausrufe der Unzufriedenheit und Mißbilligung ausstoßen, und endlich stand er auf und öffnete links eine der kleinen schrägen Schubladen, welche den Aufsatz des Pultes an den stumpfen Ecken flankierten, und tastete mit der Hand,