Kurt Tucholsky - Gesammelte Werke - Prosa, Reportagen, Gedichte. Kurt Tucholsky
da war das Gatter, und da lag das Kinderheim.
Billie war langsam weitergegangen, wir kamen an die Tür. Keine Klingel. Hier sollte wohl nicht geklingelt werden. Wir klopften.
Nach langer Zeit näherten sich Schritte, ein Mädchen öffnete. »Kan Ni tala tyska?« fragte ich. »Guten Tag … ja, ja … was wollen Sie denn?« sagte sie lächelnd. Sie freute sich offenbar, mit uns deutsch sprechen zu können. »Wir möchten zu der Frau Adriani«, sagte ich. »Ja … ich weiß nicht, ob sie Zeit hat. Frau Adriani hält grade Appell ab, das heißt also … sie sieht den Kindern die Sachen nach. Ich werde … einen Augenblick mal …«
Wir standen in einer grau gekalkten Halle, die Fenster waren durch Holzleisten in kleine Vierecke abgeteilt; wie Gitter, dachte ich. An der Wand ein paar schwedische Königsbilder. Jemand kam die Treppe herunter. Die Frau.
»Guten Tag«, sagten wir. »Guten Tag«, sagte sie, ruhig. »Wir kommen im Auftrag der Frau Collin in Zürich und möchten gern einmal mit Ihnen wegen der Kleinen sprechen.« – »Haben Sie … einen Brief?« fragte sie lauernd. »Jawohl.« – »Bitte.«
Sie ging voran und ließ uns in ein großes Zimmer, eine Art Saal, hier aßen wohl die Mädchen. Lange Tische und viele, viele Stühle. In einer Ecke ein kleinerer Tisch, an den setzten wir uns. Wir nannten unsere Namen. Sie sah uns fragend und kalt an.
»Da hat uns die Frau Collin geschrieben, wir möchten nach ihrem Kind sehn – sie könnte diesen Sommer leider nicht nach Schweden kommen, hätte es aber gern, wenn sich von Zeit zu Zeit jemand um das Kind kümmerte.« – »Um das Kind kümmere ich mich«, sagte Frau Adriani. »Sind Sie mit Frau Collin … bekannt?« – »Nun wäre es vielleicht vorteilhaft, wenn wir die Kleine sprechen könnten; da sind auch Grüße von der Mama zu bestellen und ein Auftrag auszurichten.« – »Was für ein Auftrag?« – »Ich werde ihn der Kleinen selber ausrichten – selbstverständlich in Ihrer Gegenwart. Dürfen wir sie sprechen?« – Frau Adriani stand auf, rief etwas auf schwedisch zur Tür hinaus und kam zurück.
»Ich finde Ihr Verhalten mehr als merkwürdig, das muß ich schon sagen. Neulich konspirieren Sie mit dem Kind, mischen sich in meine Erziehungsmethoden … Was ist das? Wer sind Sie eigentlich?« – »Unsre Namen haben wir Ihnen gesagt. Übrigens …« – »Frau Adriani«, sagte die Prinzessin, »niemand will Sie hier kontrollieren oder sich in Ihre Arbeit einmischen. Sie haben sicherlich viel Mühe mit den Kindern – das ist ja klar. Aber wir möchten doch die Mama in jeder Weise informieren …« – »Das besorge ich schon«, sagte Frau Adriani. – »Gewiß. Wir möchten ihr bestellen, daß wir die Kleine wohl und munter angetroffen haben … und wie es ihr geht, und … da kommt sie ja.«
Das Kind näherte sich schüchtern dem Tisch, an dem wir saßen; es ging unsicher und trippelnd und kam nicht ganz nah heran. Wir sahen es an; das Kind sah uns an …
»Na, Ada«, sagte die Prinzessin, »wie geht es dir denn?« – Die Stimme der Adriani: »Sag mal guten Tag!«, und das Kind zuckte zusammen und stotterte etwas wie guten Tag. »Wie geht’s dir denn?« – Die Frau Adriani ließ kein Auge von dem Kind. Das kleine Mädchen sprach wie hinter einer Mauer. »Danke … gut …«
»Ich soll dir auch einen schönen Gruß von deiner Mama bestellen«, sagte die Prinzessin. »Sie läßt dich grüßen – und dann fragt sie hier in diesem Brief« – die Prinzessin kramte in ihrem Täschchen – »ob das Grab von Will auch gut in Ordnung ist. Das war wohl dein kleiner Bruder?« – Das Kind wollte ja sagen – aber es kam nicht dazu. »Das Grab ist in Ordnung«, sagte Frau Adriani, »dafür sorge ich schon. Wir gehn alle paar Wochen auf den Friedhof, das ist Pflicht, natürlich. Und das Grab wird dort gut gepflegt, ich überwache das, ich trage die Verantwortung.« – »So, so …«, sagte die Prinzessin. »Und hier habe ich dir auch etwas mitgebracht, eine Puppe! Da! Spielst du denn auch schön mit den andern Mädchen?« Das Kind sah angstvoll hoch und nahm die Puppe; seine Augen verdunkelten sich; es schluckte, schluckte noch einmal, ließ dann plötzlich den Kopf sinken und fing an zu weinen. Es war so jämmerlich. Das Weinen warf alles um. Frau Adriani sprang auf und nahm das Kind bei der Hand.
»Du kommst jetzt heraus und gehst nach oben … das ist nichts für dich! Den Gruß hast du ja nun gehört, und …« – »Einen Augenblick«, sagte ich. »Ada, wenn du einmal etwas Wichtiges an deine Mutti zu bestellen hast: Wir wohnen im Schloß Gripsholm!« – »Hier wird gar nichts Wichtiges bestellt«, sagte die Frau Adriani recht laut und ging mit der Kleinen schnell zur Tür. »Was hier – da geh doch schon! – was hier zu bestellen ist, das wird durch mich bestellt – und du merk dir das …« Sie sprach draußen weiter, wir hörten sie schelten, konnten aber nichts mehr verstehn. »Soll ich …« – »Keinen Krach«, sagte die Prinzessin. »Das hat nur das Kind auszubaden. Wir werden mit Zürich telephonieren und dann weiter sehn!« Wir standen auf.
Frau Adriani kam zurück, sehr rot im Gesicht.
»Nun will ich Ihnen mal was sagen«, rief sie. »Wenn Sie sich unterstehn, sich hier noch einmal blicken zu lassen, dann werde ich die Polizei benachrichtigen! Sie haben hier gar nichts zu suchen – verstehn Sie mich! Das ist unerhört! Auf der Stelle verlassen Sie mein Haus! Sie betreten mir nicht mehr meine Schwelle! Und probieren Sie es ja nicht noch einmal, hier herumzuspionieren – ich werde … Ich muß mir doch einen Hund anschaffen«, sagte sie wie zu sich selber. »Ich werde der Frau Collin schreiben, wen sie sich da ausgesucht hat – wo ist überhaupt der Brief?«
Ich winkte der Prinzessin mit den Augen ab, niemand antwortete, wir gingen langsam auf die Haustür zu. Ich fühlte, wie die Frau eine Winzigkeit unsicher wurde. »Wo … wo der Brief ist?« – Wir sprachen nicht, wir verabschiedeten uns nicht, das hatte sie ja schon besorgt, wir gingen stumm hinaus. Drohen? Wer droht, ist schwach. Wir hatten noch nicht mit Zürich telephoniert.
Als die Frau sah, daß wir schon an der Haustür standen, verfiel sie in hemmungsloses Gebrüll; man hörte eilige Schritte auf dem Steinfußboden unten im Keller, also liefen dort die Hausmädchen zusammen und horchten. »Ich verbitte … ich verbitte mir ein für allemal Ihre Besuche! Scheren Sie sich raus! Und kommen Sie ja nicht wieder! Wer sind Sie überhaupt … zwei verschiedene Namen! – Heiraten Sie lieber!« schrie sie ganz laut. Und dann waren wir draußen. Die Tür schloß sich mit einem Knall. Bumm. Da standen wir.
»Hm –«, machte ich. »Das war ein großer Sieg.«
»Na, Daddy, da ist nichts zu machen. Das ist ja eine Megäre – was haben wir nun?« – »Jetzt haben wir ein bleiches Nein erhalten, wie wir Schweden sagen. Also werden wir telephonieren.« – »Sowie wir nach Hause kommen. Aber wenn du das der Frau Collin nicht richtig sagst, was hier los ist … wie der kleine Gegenstand ausgesehen hat! So vermiekert – und verprügelt! Sei schümpt un schümpt ümmerlos … De is aber steelhaarig! Gotts Blix, die müßt man ja in Öl kochen –!« Das fand ich zu teuer.
Wir gingen auf das Wäldchen zu, in dem Billie sein mußte. Und schimpften furchtbar auf die Frau Adriani. Und suchten Billie. »Billie! Billie!« Kein nichts und kein gar nichts. »Ob dieses rothaarige Luder glücklich ist?« – »Daddy, du stellst manchmal komische Fragen! Ob sie glücklich ist …! Das Kind ist unglücklich! Donnerhagel was machen wir denn da? Wir müssen dem Kind helfen! Das kann man ja nicht mit ansehn! Und nicht mit anfühlen! Herrgott von Bentheim! Billie!«
Wir stolperten beinah über sie.
Sie lag hinter einer kleinen moosigen Erhöhung, in einer Erdfalte; auf dem Bauch lag sie, die langen Beine nach oben gestreckt, sie las und schlug von Zeit zu Zeit ihre Füße zusammen. »Ja? Na, was habt ihr … was war?« Wir erzählten, beide zu gleicher Zeit, und nun war aus Frau Adriani bereits ein feuerspeiender Berg geworden, eine ganze Hölle von kleinen und großen Teufeln, die Vorsteherin einer Affentanz-Schule und ein Scheusal schlechthin. Nun, die Frau war ja wirklich eine starke Nummer.
Ich sah auf die beiden, während sie sich besprachen. Wie verschieden sie doch waren! Die Prinzessin Feuer und Flamme; das Kinderleid hatte sie aufgebracht, ihr Herz sprühte. Billie bedauerte das Kind, aber es war, wie wenn ein Fremder in der Untergrundbahn »Verzeihung!« sagte … sie bedauerte es artig und wohlerzogen und ganz unbeteiligt. Vielleicht, weil sie das alles nicht so mit erlebt hatte. Die Gleichgültigkeit so vieler Menschen beruht auf