Kurt Tucholsky - Gesammelte Werke - Prosa, Reportagen, Gedichte. Kurt Tucholsky

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»Gleich, wenn wir nach Hause kommen – aber gleich«, sagte die Prinzessin, »melden wir Zürich an. Wir müssen un müssen dem Kind da rauskriegen! Die Frau Adriani entbehrt nicht einer gewissen Charmanz!« Billie pfiff leise vor sich hin. Ich starrte in eine dunkle Baumgruppe und las aus den Blättern ab: Ich hatte Billie haben wollen, ich fühlte, daß ich sie nicht bekommen würde, und jetzt hatte ich einen sittlichen Grund, sie niedriger zu stellen als Lydia. Billie hatte kein Herz. Hast du ihr Herz geliebt, du Lügner? Sie hat so lange Beine … Ja, aber sie hat kein Herz.

      Wir gingen langsam durch den Wald, die beiden unterhielten sich – nun ruddelten sie. »Ruddeln«, das ist so ein Wort für: klatschen, über jemand herziehen. Man konnte gar nicht folgen, so schnell ging es. Hopphopphopp … schade, daß man nicht dabeisein kann, wenn die andern über uns sprechen – man bekäme dann einigermaßen die richtige Meinung von sich. Denn niemand glaubt, daß es möglich sei, so unfeierlich, so schnell, so gleichgültig-nichtachtend Etiketten auf Menschenflaschen zu kleben, wie es doch überall geschieht. Auf die andern vielleicht – aber auf uns selber?

      Billie: »… hat er ihr versprochen, und wie es soweit war, nichts.« – »Ihre Dummheit«, sagte Lydia. »Bei Empfang: die Ware – das Geld, wie mein Papa immer sagt. Vertrauen! Vertrauen! Es gibt doch nur eine Sicherheit: Fußangeln. Wie?« Merkwürdig, woher sie das hatte. So schlechte Erfahrungen hatte sie doch gar nicht hinter sich …

      Billie ging wie eine Tanzende: Es federte alles an ihr. Sie trug eigentümliche Kleiderstoffe – ich wußte nicht, wie das hieß; es war buntes und grob gewebtes Zeug, heute zum Beispiel sah sie aus wie eine Indianerin, die sich aus ihrem Hochzeitszelt einen Rock geschneidert hatte – und so viele Armbänder! Gleich, dachte ich, wird sie die Arme in die Luft werfen, die schöne Wilde, und mit einem Liebesruf in den Wald stürzen, zu den andern … Schade, daß sie kein Herz hat.

      »Seht ihr, da hinten liegt der Friedhof! Doch, wir schaffen das noch bis zum Abendbrot – also!« Wir gingen rascher. Ein leichter Wind hatte sich erhoben, dann wurden die Windstöße stärker, ein hauchzarter Regen fiel. Manchmal trug der Wind etwas wie Meeresatem herüber, von der See, von der Ostsee.

      Nun waren wir angelangt, da war eine kleine Holztür, und über die niedrige Steinmauer ragten alte Bäume. Es war ein alter Friedhof; man sah das an den verwitterten, ein wenig zerfallenen Gräbern auf der einen Seite. Auf der andern standen die Gräber hübsch ordentlich in Reih und Glied … gut gepflegt. Es war ganz still; wir waren die einzigen, die die Toten heute nachmittag besuchten – die wen besuchten? Man besucht ja nur sich selber, wenn man zu den Toten geht.

      »Welche Reihe …? Warte mal, das hat sie hier im Brief aufgeschrieben. Achtzehnte … nein, vierzehnte … eins, zwei … vier, fünf …« Wir suchten. »Hier«, sagte Billie.

      Da war das Grab. So ein kleines Grab.

WILHELM COLLINGEBOREN … GESTORBEN …

      und ein paar windverwehte Blumen. Wir standen. Niemand sprach. Ob das nun der Auftritt von vorhin war oder die Tatsache, daß es so ein winzig kleines Grab war, dieser Gegensatz zwischen der Inschrift Wilhelm Collin und dem Hügelchen – das war doch in Wahrheit noch gar kein Wilhelm gewesen, sondern ein wehrloses Bündelchen Fleisch, das man hätte beschützen sollen … Eine Träne fing ich nicht mehr, sie rollte. »Heul nicht«, sagte die Prinzessin, die zwinkerte, »heul nicht! Die Sache ist viel zu ernst zum Weinen!« Ich schämte mich vor Billie, die uns mitleidsvoll ansah. Ihre Augen blickten warm. Sie sagte leise etwas zur Prinzessin, und als nun beide zu mir herübersahen, fühlte ich, daß es etwas Freundliches gewesen sein mußte. Ich vergaß, daß ich Billie begehrt hatte, und flüchtete zu der Prinzessin.

      In Gripsholm meldeten wir Zürich an.

3

      »Da liegt sozusagen die Sittlichkeit mit der Moral im Streite«, sagte die Prinzessin, und wir lachten noch, als wir uns an den großen Tisch in unserm Zimmer setzten. Die Schloßfrau hatte Billie auseinandergesetzt, es wäre gar nicht wahr, daß »alle Schweden immer nackt badeten«, wie man so oft sagen hörte. Gewiß, manchmal, in den Klippen, wenn sie unter sich wären … aber im übrigen wären es Leute wie alle andern auch, wenig wild nach irgendeiner Richtung, es sei denn, daß sie gern Geld ausgäben, wenn einer zusähe.

      Draußen fiel der Regen in perlenden Schnüren.

      »Das ist aber ein fröhlicher Regen«, sagte Billie. Das war er auch. Er rauschte kräftig, oben am Himmel zogen schwarz-braune Wolken rasch dahin, vielleicht waren nur wir es, die so fröhlich waren, trotz alledem. Das war schön, hier in der trockenen Stube zu sitzen und zu sprechen. Was hatte Billie für ein Parfüm? »Billie, was haben Sie für ein Parfüm?« Die Prinzessin schnupperte. »Sie hat sich etwas zusammengegossen«, sagte sie. Billie wurde eine Spur rot – schien mir das nur so? »Ja, ich habe gepanscht. Ich mache mir da immer so etwas zurecht …«, aber sie sagte die Namen nicht.

      »Billie, hilf mir mal – kannst du das? Guck mal!« Die Prinzessin löste seit gestern an einem schweren Silbenrätsel herum. »Ich habe hier: Hochland in Asien … doch, das habe ich. Aber hier: Orientalischer Männername … Wendriner? Nein, das kann ja wohl nicht stimmen – Katzenellenbogen …? Auch nicht … Fritzchen! Sag du!« – »Wie heißt er denn nun eigentlich?« fragte Billie entrüstet. »Mal sagst du Peter zu ihm und mal Daddy und jetzt wieder Fritzchen …!« – »Er heißt Ku-ert …«, sagte die Prinzessin. »Ku-ert … Dascha gah kein Nomen – wenn hei noch Fänenand oder Ullerich heiten deer, as Bürgermeister sinen!« Verachtung auf der ganzen Linie. Aber nun war Billies Bildungsdrang gereizt; die beiden Köpfe beugten sich über das Zeitungsblatt. Ich saß faul daneben und sah zu. Und da, so vor den beiden … Kikeriki – machte es in mir ganz leise, Kikeriki … Sie tuschelten und kuderten vor Lachen. Ich zog an der neuen Pfeife, die nun schon ein wenig angeraucht war, und saß mit einer Miene da, die gutmütige Männerüberlegenheit andeuten sollte. Eben hatte Billie etwas gesagt, was man bei einigermaßen ausschweifender Phantasie auch sehr zweideutig nehmen konnte, die Prinzessin sandte mir blitzschnell einen Blick herüber: Es war wie Einverständnis zwischen Verschworenen. Nachtverschworene … Am Tage wurde fast nie von der Nacht gesprochen – aber die Nacht war im Tag, und der Tag war in der Nacht. »Liebst du mich noch?« steht in den alten Geschichten. Erst dann – erst dann!

      Sie warfen das Rätsel hin. »Wir wollen es nach dem Abendbrot noch einmal versuchen«, sagte Billie. »Schlaft ihr hier eigentlich gut ein? Ich muß mich sonst immer in Schlaf lesen – aber hier geht es so schnell …« – »Du mußt es machen wie die Baronin Firks«, sagte die Prinzessin. »Die Baronin Firks war natürlich aus Kurland, und die Kurländer, das sind die Apotheker Europas –: sie haben alle einen leichten Klaps. Und wenn die alte Dame nachts nicht einschlafen konnte, dann setzte sie sich auf ein Schaukelpferd und schaukelte so lange, bis … Ja? Was ist?« Es hatte geklopft. Ein Kopf in der Tür. »Das Telephon? Zürich!« Wir liefen alle drei.

      Kleiner Kampf am Apparat. »Laß mich … kannste da nich mal weggehn … Harre Gott … Laß mich doch mal!« Ich.

      »Hallo!« Nichts. Wie immer bei Ferngesprächen: erst nichts. Man hörte es in der Membrane leise surren. Diese Geräusche sind je nach den Ländern, in die man telephoniert, verschieden; aus Frankreich zum Beispiel läuft ein silberhelles Gewässer durch die Drähte, und man bekommt solche Sehnsucht nach Paris … Hier surrte es. Sie hatten wohl wegen der politischen Konferenzen neue Kupferdrähte nach der Schweiz … »Mariefred? Bitte melden Sie sich!« – Und dann deutlich, aber leise eine klagende Stimme. Frau Collin.

      »Hier ist Frau Collin. Sie haben mir geschrieben? Wie geht es denn Ada?« – »Ich will Sie nicht beunruhigen – aber sie muß da heraus.« – »Ja, warum denn? Um Gottes –« – »Nein, mit der Gesundheit ist das Kind in Ordnung. Aber ich schreibe Ihnen heute abend noch einmal ausführlich – diese Frau Adriani ist eine unmögliche Erzieherin. Das Kind macht einen so verängstigten Eindruck, es …« Und ich packte aus. Ich schmetterte es alles aus mir heraus, die ganze Wut und das ganze Mitleid und die Ranküne wegen der Niederlage heute nachmittag und meinen Abscheu vor solchen Herrschweibern … alles packte ich aus. Und die Prinzessin wackelte wild hetzend mit der Faust. Frau Collin blieb einen Augenblick still. »Hallo?« – »Ja, was machen wir denn da …?« Die Prinzessin stieß mich und zischelte etwas. Ich wehrte mit dem Kopf ab: Laß!

      »Ich


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