Kurt Tucholsky - Gesammelte Werke - Prosa, Reportagen, Gedichte. Kurt Tucholsky
in denen sich Energie, Verstand, Kraft und Gesundheit aus dem Reservoir des Nichts, aus jenem geheimnisvollen Lager ergänzten, das eines Tages leer sein wird. »Ja«, wird dann der Lagermeister sagen, »nun haben wir gar nichts mehr …« Und dann werde ich mich wohl hinlegen müssen.
Da steht Gripsholm. Warum bleiben wir eigentlich nicht immer hier? Man könnte sich zum Beispiel für lange Zeit hier einmieten, einen Vertrag mit der Schloßdame machen, das wäre bestimmt gar nicht so teuer, und dann für immer: blaue Luft, graue Luft, Sonne, Meeresatem, Fische und Grog – ewiger, ewiger Urlaub.
Nein, damit ist es nichts. Wenn man umzieht, ziehen die Sorgen nach. Ist man vier Wochen da, lacht man über alles – auch über die kleinen Unannehmlichkeiten. Sie gehen dich so schön nichts an. Ist man aber für immer da, dann muß man teilnehmen. »Schön habt ihr es hier«, sagte einst Karl der Fünfte zu einem Prior, dessen Kloster er besuchte. »Transeuntibus!« erwiderte der Prior. »Schön? Ja, für die Vorübergehenden.«
Letzter Tag. So erfrischend ist das Bad in allen den Wochen nicht gewesen. So lau hat der Wind nie geweht. So hell hat die Sonne nie geschienen. Nicht wie an diesem letzten Tag. Letzter Tag des Urlaubs – letzter Tag in der Sommerfrische! Letzter Schluck vom roten Wein, letzter Tag der Liebe! Noch einen Tag, noch einen Schluck, noch eine Stunde! Noch eine halbe …! Wenn es am besten schmeckt, soll man aufhören.
»Heute ist heute«, sagte die Prinzessin – denn nun stand alles zur Abfahrt bereit: Koffer, Handtaschen, der Dackel, der kleine Gegenstand und wir. »Du siehst aus!« sagte Lydia, während wir gingen, um uns von der Schloßfrau zu verabschieden, »du hast dir je woll mitn Reibeisen rasiert! Keinen Momang kann man den Jung allein lassen!« Ich rieb verschämt mein Kinn, zog den Spiegel und steckte ihn schnell wieder weg.
Großes Palaver mit der Schloßfrau. »Tack … danke …« und: »Herzlichen Dank! … Tack so mycket …« und »Alles Gute!« – es war ein bewegtes und freundliches Hin und Her. Und dann nahmen wir Ada an die Hand, jeder griff nach einer Tasche, da stand der kleine Motorwagen … Ab.
»Urlaub jok«, sagte ich. Jok ist türkisch und heißt: weg. »Du merkst auch alles«, sagte die Prinzessin und kämmte das Kind. »Lydia, ich hätte nie geglaubt, daß du so eine nette Kindermama abgeben kannst! Sieh mal an – was alles in dir steckt!« – »Ich bin Sie nämlich eine Zwiebel!« sagte die Prinzessin und enthüllte damit, vielleicht ohne es zu wissen, das Wesen aller ihrer Geschlechtsgenossinnen.
Und dann fing das Kind langsam, ganz langsam und stockend, an zu erzählen – wir drängten es nicht, erst wollte es überhaupt nicht sprechen, dann aber sprach es sich frei, man merkte, es wollte erzählen, es wollte alles sagen, und es sagte alles: Den Krach mit Lisa Wedigen und das Blatt vom Kalender; die dauernden Strafen und die Glockenblumen unter dem Kopfkissen und sein Spitzname »Das Kind«; der kleine Will und Mutti und was der Teufelsbraten sich alles ausgedacht hatte, um die Mädchen zu tyrannisieren, und Hanne und Gertie und das Essen im Schrank und alles.
Es ging ein bißchen durcheinander, aber man verstand doch, worauf es ankam. Und ich nannte den kleinen Gegenstand nunmehr Ada Durcheinander, und die Prinzessin bemutterte und bevaterte das Kind zu gleicher Zeit, und ich schlug vor, sie solle dem Kind die Brust geben, und dann brach ein wilder Streit darüber aus, welche: die linke oder die rechte. Und so kamen wir nach Stockholm.
Und fuhren zurück nach Deutschland.
Berlin streckte die Riesenarme und langte über die See … »Wir müssen der Frau Kremser telegraphieren«, sagte die Prinzessin, »sicher ist sicher. Junge, haben wir uns gut erholt! Was möchtest du denn?« Das Kind hatte ein paarmal vor sich hingedruckst, hatte angesetzt und wieder abgesetzt. »Na?« – Nein, aufs Töpfchen mußte sie nicht. Sie wollte etwas fragen. Und tat es.
»Sind Sie Landstreicher?« Wir sahen uns entgeistert an. »Die Frau Adriani hat gesagt …« Es stellte sich heraus, daß die Frau Adriani uns dem Kind als passionierte, ja als professionelle Landstreicher hingestellt hatte – »diese Landstreicher da draußen, die nicht mal verheiratet sind!« –, und das Kind, das jetzt völlig aufgetaut war, wollte nun alles wissen: ob wir Landstreicher wären, und was wir denn da anstrichen … und ob wir schon mal verheiratet gewesen wären und warum nun nicht mehr, und dann mußte es aufs Töpfchen, und dann brachten wir es zu Bett. Ich ertappte mich dabei, ein wenig eifersüchtig auf das Kind gewesen zu sein. Wer war hier Kind? Ich war hier Kind. Nun aber schlief es, und Lydia gehörte mir wieder allein.
»Bist du verheiratet?« fragte die Prinzessin. »Na, das hat noch gefehlt!« – »Alte«, sagte ich. »Nein, wir Landstreicher, wir sind ja nicht verheiratet. Und wenn wir es wären … Fünf Wochen, das ginge gut, wie? Ohne ein Wölkchen. Kein Krach, keine Proppleme, keine Geschichten. Fünf Wochen sind nicht fünf Jahre. Wo sind unsre Kümmernisse?« – »Wir haben sie in der Gepäckaufbewahrungsstelle abgegeben … das kann man machen«, sagte die Prinzessin. »Für fünf Wochen«, sagte ich. »Für fünf Wochen geht manches gut, da geht alles gut.« Ja … vertraut, aber nicht gelangweilt; neu und doch nicht zu neu – frisch und doch nicht ungewohnt: Scheinbar unverändert lief das Leben dahin … Die Hitze der ersten Tage war vorbei, und die Lauheit der langen Jahre war noch nicht da. Haben wir Angst vor dem Gefühl? Manchmal, vor seiner Form. Kurzes Glück kann jeder. Und kurzes Glück: es ist wohl kein andres denkbar hienieden.
Wir rollten in Trelleborg ein. Es war spät abends; die weißen Bogenlampen schaukelten im Winde, und wir sahen zu, wie der Wagen auf die Fähre geschoben wurde. Das Kind schlief schon.
Ein großer Passagierdampfer rauschte durch das Wasser in den Hafen. Alle Lichter funkelten: vorn die Schiffslaternen, oben an den Masten kleine Pünktchen, alle Kammern, alle Kajüten waren hell erleuchtet. Er fuhr dahin. Musik wehte herüber.
Whatever you do –
my heart will still belong to you –
Eine Welle Sehnsucht schlug in unsre Herzen. Fremdes erleuchtetes Glück – da fuhr es hin. Und wir wußten: säßen wir auf jenem Dampfer und sähen den erleuchteten Zug auf der Fähre, wir dächten wiederum: da fährt es hin, das Glück. Bunt und glitzernd fuhr das große Schiff an uns vorüber, mit den Lichtpünktchen an seinen Masten. Die schwitzenden Stewards sahen wir nicht, nicht die Reeder in ihren Büros, nicht den zänkischen Kapitän und den magenkranken Zahlmeister … natürlich wußten wir, daß es so etwas gibt – aber wir wollten es jetzt, in diesem einen Augenblick, nicht wissen.
Whatever you do –
my heart will still belong to you –
Unsre Herzen fuhren ein Stückchen mit.
Dann stand unser Wagen auf der Fähre. Das Schiff erzitterte leise. Die Lichter an der Küste wurden immer kleiner und kleiner, dann versanken sie in der blauen Nachtluft.
Wir standen an Deck. Die Prinzessin sog den salzigen Atem des Meeres ein. »Daddy – ich bedanke mich auch schön für diesen Sommer!« – »Nein, Alte – ich bedanke mich bei dir!« Sie sah über die dunkle See. »Das Meer …«, sagte sie leise, »das Meer …« Hinter uns lag Schweden, Schweden und ein Sommer.
Später saßen wir im Speisesaal in einer Ecke und aßen und tranken. »Auf den Urlaub, Alte!« – »Auf was noch?«
»Auf Karlchen!« – »Hoch!«
»Auf Billie!« – »Hoch!«
»Auf die Adriani!« – »Nieder!«
»Auf deinen Generalkonsul!« – »Mittelhoch!«
»Das sind alles keine Trinksprüche, Daddy. Weißt du keinen andern? Du weißt einen andern. Na?«
Ich wußte, was sie meinte.
»Martje Flor«, sagte ich. »Martje Flor!«
Das war jene friesische Bauerntochter gewesen, die im Dreißigjährigen Kriege von den Landsknechten an den Tisch gezerrt wurde; sie hatten alles ausgeräubert, den Weinkeller und die Räucherkammer, die Obstbretter und den Wäscheschrank, und der Bauer stand daneben und rang die Hände. Roh hatten sie das Mädchen herbeigeholt – he! da stand sie, trotzig und gar nicht verängstigt. Sie sollte einen Trinkspruch ausbringen! Und warfen dem Bauern eine Flasche an den Kopf und drückten