Karin Bucha Staffel 4 – Liebesroman. Karin Bucha
Ganz abgesehen davon, daß mir das blonde Püppchen sehr gut gefällt. Überlegen Sie doch mal, können wir sie hier zurücklassen? Sie wird aus der Betäubung erwachen, und dann richtet sie das größte Unheil an, wenn sie anfängt zu erzählen.«
Doktor Murphy widersprach nicht mehr. Aber er verrichtete rein mechanisch Hilfsdienste, als Nawarra die blonde Ingrid auf das breite Lager bettete.
»Nun klingeln Sie, und lassen Sie Fernandez kommen«, befahl Nawarra.
Mit ruhiger Gelassenheit brannte er sich eine Zigarette an und betrachtete mit Wohlgefallen das liebliche, stille Gesicht Ingrids.
*
Harry hatte sich ins Schreibzimmer zurückgezogen und arbeitete eifrig an dem ersten Bericht für die Zeitung.
Als er endlich hochbefriedigt die Feder auf der Hand legte, waren beinahe zwei Stunden vergangen. Er raffte seine Briefschaften zusammen, übergab sie in der Empfangshalle dem Portier zur Weiterbeförderung und lief schnell noch einmal in den Speisesaal.
Natürlich war weder Michael noch Ingrid zu sehen.
Mißmutig ging er auf die Suche. Als er eben die Freitreppe emporsteigen wollte, kam ihm Doktor Mayring mit hochrotem Gesicht entgegen.
»Haben Sie Ingrid oder Gunhild gesehen?«
»Das wollte ich Sie eben auch fragen«, erwiderte Harry, und ein unbehagliches Gefühl überkam ihn.
»Ich habe Ingrid nur für kurze Zeit im Speisesaal verlassen, um Doktor Hellberg zu suchen, der war aber wie vom Erdboden verschwunden. Als ich wieder zu Ingrid zurückkehrte, war sie weg. Auch der Tisch, an dem Gunhild mit den beiden Männern gesessen hatte, war leer.
Ich dachte, Ingrid und Gunhild hätten sich an ein unauffälliges Plätzchen zu einem Plauderstündchen zurückgezogen, und wartete geduldig im Speisesaal.
Aber keine von beiden ließ sich sehen. Seit ungefähr zehn Minuten suche ich wie ein Wilder nach Ingrid.«
»Sie dürfen nicht vergessen, daß inzwischen zwei Stunden vergangen sind.«
Nach außen hin gab Doktor Mayring sich nicht ängstlich, aber auch er spürte ein zunehmendes Gefühl des Unbehagens in sich.
»Es hilft alles nichts, wir müssen suchen und dabei auch die Hilfe des Personals in Anspruch nehmen.«
»Wir wollen doch lieber zu Gunhild gehen. Sie muß ja wissen, wo Ingrid ist«, schlug Harry vor und strebte eiligst dem Fahrstuhl zu.
Jetzt lag der Gang wieder völlig leer da. Atemlos standen sie vor Gunhilds Zimmertür, wollten eben klopfen, als sich die Tür öffnete und das Zimmermädchen heraustrat.
Doktor Mayring packte die Gelegenheit, nachdem er sich gefaßt hatte, beim Schopf und sagte zu dem dunkelhäutigen Mädchen:
»Bitte, melden Sie uns Senorita Bruckner.«
Das Mädchen hob lebhaft beide Hände.
»Senorita nix da – fort – abgereist!«
Entgeistert starrten die Herren das Mädchen an.
»Abgereist?« fragte Doktor Mayring ungläubig. »Sie müssen sich irren!«
»Nix irren – Zimmer leer – Schrank leer – schöne Frau fort«, erklärte das Mädchen, und dabei öffnete sie die Tür und ließ die beiden Herren eintreten.
Das Zimmer sah aus, als wäre es nie bewohnt gewesen. Das Bett war bereits mit frischer Wäsche überzogen, die Fenster weit geöffnet.
»Und die Herren?« fragte er das Mädchen, das ängstlich von einem zum anderen blickte.
»Auch fort – mit große Wagen fort – ganz schnell.«
»Aha«, sagte Michael und winkte Harry herbei. »Kommen Sie, Direktor Fernandez wird uns Auskunft geben können. Zuerst aber zu Ingrid. Hoffentlich ist sie inzwischen zurückgekommen.«
In großer Eile verließen sie das zweite Stockwerk und gingen in Ingrids Zimmer.
»Leer!« preßte Michael, immer aufgeregter werdend, hervor. »Jetzt glaube ich nicht mehr an einen Zufall. Das ist eine neue Gemeinheit von dem Murphy. Passen Sie auf, Harry, hier stimmt was nicht!«
»Glauben Sie wirklich?« zweifelte Harry noch.
»Können Sie sich sonst das Verschwinden der beiden Damen erklären?«
Doktor Mayring lief wie ein wildes Tier hin und her.
»Wenn ich nur wüßte…«
Harry knirschte mit den Zähnen und ballte die Hände zu Fäusten.
Während sie noch unschlüssig vor sich hin starrten und allerlei Möglichkeiten zu dem seltsamen Verschwinden der beiden Damen erwogen, klopfte es.
Der Boy trat nach Aufforderung ein und brachte einen Brief für Doktor Mayring.
Michael riß dem Boy das Schreiben fast aus der Hand und blickte enttäuscht darauf nieder. Nicht eine Frauenhandschrift, wie er gehofft, sondern eine feste, charakteristische Männerhand hatte seinen Namen geschrieben.
Hastig erbrach er den Umschlag und las:
Erschrecken Sie nicht, lieber Doktor, wenn Sie zum Schluß meinen Namen lesen. Ich nehme an, Gunhild Bruckner hatte noch keine Gelegenheit, Ihnen von der Unterredung zwischen uns auf der ›Pernambuco‹ zu sprechen.
Ich bin Ihr und Gunhilds Freund und habe Ihrer Frau Mutter in Berlin in die Hand versprochen, über Sie und die anderen zu wachen und die Entwicklung der Dinge von weitem zu beobachten.
Doktor Murphy verliert die Nerven und geht aufs Ganze. Er hat die beiden Mädchen unschädlich gemacht und zusammen mit dem Dicken, der sich Exzellenz Nawarra nennt, verschleppt.
Erst spät bin ich dahintergekommen, und doch noch nicht zu spät. Ich nehme die Verfolgung auf. Der Endpunkt dieser Jagd kann nur Lima sein. Lima bietet den beiden Verbrechern Schlupfwinkel im weitesten Maße.
Anbei ein Empfehlungsschreiben an den deutschen Konsul in Rio. Ihm können Sie rückhaltlos vertrauen. Er kennt meine Geschichte, denn ich war jahrelang sein Hausgenosse. Er wird Ihnen auch weitestgehende Unterstützung zuteil werden lassen und sich mit den Behörden in Lima in Verbindung setzen.
Bewahren Sie Ihre Ruhe, und handeln Sie genauso entschlossen wie ich.
Ihr ergebener Doktor Hellberg, der Dunkelbärtige.
Nachdem Doktor Mayring zu Ende gekommen war, verharrte er regungslos in einer Art Lähmung.
»Also doch, ich habe es geahnt. Das soll Murphy mir büßen, dieser Schuft!« stieß er grimmig hervor.
Sekundenlang barg er das Gesicht in den Händen. Gunhild und Ingrid, die beiden Mädchen in der Gewalt dieser skrupellosen Menschen?
Harry Ohnesorg war in den Inhalt des Briefes vertieft, der diese Erschütterung in Doktor Mayring ausgelöst hatte.
Wie ein Häufchen Unglück hockte Harry auf seinem Platz und starrte zu Boden.
»Nehmen Sie mir’s nicht übel, Doktor, und halten Sie mich um Gottes willen nicht für einen Egoisten. Mir geht es genauso um die Mädchen wie Ihnen, ich liebe Ingrid!«
»Und ich Gunhild!« schrie Doktor Mayring, den tatsächlich die Beherrschung verließ.
»Na also«, meinte Harry unheimlich ruhig. »Geteiltes Leid ist halbes Leid.«
Ein erneutes Klopfen unterbrach seine Rede, die sicherlich ein sehr gutgemeinter Trost sein sollte, der aber an Doktor Michael Mayring abprallte.
Ehe er noch die Tür erreichte, wurde sie schon geöffnet, und Doktor Hellberg trat ein. Zuerst erkannten sie ihn gar nicht, denn er hatte den Bart abgelegt und sah nun bedeutend jünger und freundlicher aus.
Wie magisch angezogen war Harry aufgestanden und fand als erster die Sprache wieder:
»Doktor