Ausgewählte historische Romane. Levin Schucking
was ich von ihr weiß; aber die Geschichte selbst habe ich zehnmal in meinem väterlichen Hause erzählen hören; ich war damals fast noch ein Kind, aber sie hat sich mir tief eingeprägt.«
»Hatten die Schemmeys keine Kinder mehr?«
»Ja, noch eins; um es zu retten, waren sie nach Paris gezogen und dort hatte Frau von Schemmey ihre Niederkunft gehalten. Aber das Unheil verfolgte sie auch dahin; die näheren Umstände sind hier nicht so bekannt geworden wie die, welche ich Ihnen erzählte; man weiß nur, daß das Kind ein Knabe war, daß es ebenso rätselhaft verschwand wie das erste, und man sagte damals, es sei mit abgeschnittenem Hälschen oben auf einem alten Kleiderschranke liegend wieder gefunden worden.«
»O Gott, und meine arme Mutter mußte auch das noch erleben?«
»Sie war mitgenommen worden nach Paris.«
»Nein, davon habe ich in der Tat nie eine Ahnung gehabt,« sagte Bernhard; »die arme Frau! Es wäre schlecht, wenn jetzt noch der leiseste Gedanke eines Vorwurfs gegen sie in mir aufkeimte – solche Leiden, solche Schrecken können das festeste Gemüt zerrütten und geben, wenn sie mit Kraft bestanden werden, eine Art Verklärung. Eine Dornenkrone ist doch immer eine Krone. Und nun ihr eigner Sohn – warum habe ich das nicht früher gewußt!«
Bernhard war sehr erschüttert und versank in sich selbst; er hatte Augenblicke, wo die Welt für ihn nicht da war und wo er mit seinen Gedanken in einer andern sich befand, in der es freilich höchst seltsam, kraus und bunt hergehen mußte, nach den wunderlichen Satzschnitzeln zu urteilen, die man alsdann mit großer Mühe als Antworten aus ihm herausholte. Diese Welt umspann ihn auch jetzt mit ihren Passionsblumenranken, mit ihrem absorbierenden Blütenduft. Er überließ dem Stiftsfräulein die Unterhaltung zu führen, und erst, als es Zeit war, zu gehen, fuhr er auf und bedauerte, daß der Nachmittag hin sei, weil er ihr so viel zu sagen gehabt.
»Ich würde Sie über den Hof begleiten,« sagte Katharina, »aber ich weiß, Sie haben doch nicht zwei Worte herausgebracht, wenn ich auch der halben Weg mit Ihnen mache. Sie waren heut einmal wieder wie eine Wasserpumpe, die zwar kristallklares, frisches Bergwasser führt, aber nur unten im tiefsten Grunde; man arbeitet sich so müde und erhitzt, es herauszubringen, daß man's nicht mehr trinken mag, wenn es endlich kommt. Adieu, mein guter Junge; seien Sie hübsch wohlgemut; mit Gott! – Gehen Sie, es ist spät.«
Bernhard küßte ihre Hand und wanderte durch die Dämmerung nach Bechenburg zurück.
Neuntes Kapitel
Ein paar Stunden vor der Zurückkunft Bernhards war in dem alten Schlosse eine Szene vorgefallen, von der er zu seinem und des Gutsherrn Glück kein Zeuge gewesen.
Johannes stand vor dem Bette seines Vaters, das dieser, obwohl gar nicht schwer verletzt, für gut fand, fürs erste noch zu hüten. Es waren drei Dinge in der Welt, die Herr von Driesch scheute wie ein wütender Hund das Wasser; das erste war Schmerz, das zweite Krankheit und das dritte der Tod. Alle seine aus den Klassikern geschöpfte Philosophie hatte nicht vermocht, ihm nur eines derselben in einem mildern Lichte zu zeigen; und so tief er auch in die Denkweise der Alten eingedrungen zu sein behauptete, so durfte doch keiner in seinem Hause einen Sterbefall erzählen, ohne einen seiner Zornausbrüche zu wecken, und wer nicht wenigstens auf vierundzwanzig Stunden in Ungnade fallen wollte, tat besser, das Wort Tod gar nicht auszusprechen, wenn er zugegen war. War einmal einem Gespräch darüber nicht auszuweichen, so gestand er mit einem tiefen Seufzer, er würde die unendliche Weisheit des Schöpfers nur dann ganz anerkannt haben, wenn dieser es so eingerichtet, daß der Mensch im Anfange seines Lebens den Tod abmache, statt daß nun diese fatale Geschichte im Hintergrunde laure und dadurch das ganze Leben vergälle durch Sorge, Angst und Zweifel. Wenn Herr von Driesch diesen originellen, metaphysischen Gedanken ausgesprochen hatte, lenkte er gewöhnlich kurz ab und kam am liebsten endlich auf die fruchtbringende Gesellschaft der Blumenschäfer an der Pegnitz zu sprechen, deren Mitglied er unter dem geachteten Namen »der Säuberliche« war und in deren voluminöse Aktensammlung seine Poesien eingeschrieben wurden; – es war, als ob der in ihm aufgeregte Zweifel an die Unsterblichkeit nach irgendeiner Beruhigung strebe.
»Gnaden Herr Papa,« sagte Johannes, der mit einer Schalÿe voll Kaffee vor seinem Vater stand, »die alte Margret hat Geld bekommen.«
»Meinetwegen, Junkerlein; da ist die Tasse wieder; aber zerbrich sie nicht und reich mir den Boethius de consolatione dort vom Tische her.«
»Als ich in die Küche ging, um zu sehen, wo der Kaffee bleibe, war niemand da; ich hörte aber die Alte in ihrem Schlafzimmer Geld zählen,« sagte Johannes, dem seine Geschichte viel wichtiger schien als der schweinslederne Boethius. »Ich mag nicht gern in ihre Kammer gehn weil sie da immer einen im Bette liegen hat, der so gläsern unter der Decke hervorguckt. Deshalb wollte ich gerade rufen, als ein großer Bauernjunge, den ich wohl in Grünscheidt oder da herum mal gesehen, aus ihrer Kammer trat und die alte Margret ihm nachrief, etwas leise, aber ich konnt's doch deutlich hören: »Ja, sagt dem Herrn von Katterbach nur, richtig sei's; aber ich laß ihn fragen, ob's heute der erste September sei? sagt ihm – na geht nur in Gottes Namen.‹ Das sagte die Alte; der Bauernjunge grüßte mich und ging fort, die Margret aber schien ein wenig verstört, als sie mich in der Küche sah.«
»Junge! Junkerlein!« fuhr Herr von Driesch empor, »ist das wahr oder verführt dich der Teufel? Geld zählte sie?«
»Ja, ja, Gnaden Papa! Als ihre Tür aufging, sah ich's auf dem Tische liegen.«
»War's viel?«
»Es mochten wohl fünfzig bis sechzig Taler sein.«
Herr von Driesch fuhr konvulsivisch zusammen: »O Gott! O du mein gekreuzigter Heiland!« stöhnte er; »von dem Katterbach! sie soll mich ermorden, mich vergiften – o Menschen, Menschen! Geld, so viel Geld von meinem Todfeinde; Oh, der gibt nichts umsonst, der Judas! Sie hat mich schon vergiftet – ja, ja – Johannes, mein Kind, wie seh' ich aus? Oh, sag' es mir – meine Lippen sind blau – mein Gesicht ist aufgedunsen, mein Körper hat blaue Flecke; meine Augen quellen mir aus dem Kopfe – ich habe den Aussatz, die Pest hat sie mir angehext – o Gekreuzigter! Sprich, Johannes – oh, sage alles!«
»Gnaden Papa werden jetzt etwas blaß,« sagte Johannes, »eben sahen Sie noch ganz gut aus. Ein paar blaue Flecke mögen Sie auch noch wohl haben?«
»So! sah ich ganz gut aus? Wart', du verfluchte Hexe! Ich will über dich kommen, du sollst vor meinen Augen durch den Schornstein zum Blocksberg fahren. Fort damit!« Die Kaffeetasse, die Johannes hielt, fuhr samt ihrem Inhalte durch die klirrenden Scheiben zum Fenster hinaus. »Es ist Gift darin!« schrie er, raffte einige Kleidungsstücke zusammen, warf sie über und stürzte zum Zimmer hinaus.
Einige Augenblicke nachher war Margret sehr verwundert, die Küchentür aufgestoßen und ihren Gutsherrn auf die Schwelle treten zu sehen, wo er stehenblieb, ein höchst wunderliches Bild im Rahmen. Seine Rechte hielt eine blanke Degenklinge hochgeschwungen über dem Kopf, wie parierend gegen jeden Anfall, der seine hohe weiße Nachtmütze bedrohen könnte; sein Körper war von einem großblumigen Kattunschlafrock umhüllt und von den pantoffelbekleideten Beinen war das eine dick mit allerlei Tüchern umwunden.
»Herr, was ist Euch?« sagte Margret, indem sie ruhig bis in die Mitte der Küche ihm entgegentrat; »was ist Euch?«
»Keinen Schritt weiter,« schrie Herr von Driesch; »keinen Schritt komm mir näher auf den Leib. O du Verkörperung infernalischer Bosheit!«
Margret trat trotzdem noch ein paar Schritte näher und Herr von Driesch trat einen zurück.
»Fürchtet Ihr Euch vor einer alten Frau, Ew. Gnaden?«
»Fürchten!« Herr von Driesch hieb mit seiner Klinge Prim, Terz und Tiefquart durch die Luft, daß es pfiff.
»Alle Wetter, bange vor dir? Aber du bist eine Hexe, du bist eine Giftmischerin, du bist das inkarnierte Uebel, das in Altweibergestalt durch die Welt geht; du bist der Satan, du