Instagirl. Annette Mierswa
hatte schöne Hände mit langen schmalen Fingern, an denen meist Spuren von Kettenöl klebten. Ich hatte sie oft betrachtet und einmal sogar heimlich fotografiert, unter dem Tisch. Ich hatte geträumt, wie schön ein goldener Ring an einer dieser Hände aussehen würde, und anschließend über mich selbst gelacht, weil es so abartig kitschig war. Yara neckte mich immer damit, dass Matteo und ich das ideale Paar abgeben würden, die Feierfüchse, denn wir waren nicht nur auf jeder Party zu finden, sondern auch die einzigen beiden in der Klasse mit rotblondem Haar. Und als Profilbild im Klassenchat hatten wir beide ein Fahrrad: Matteo sein heiß geliebtes Rennrad und ich mein altes Kinderrad, das eingewachsen im Garten stand, von lauter roten Rosen umrahmt wie eine schlafende Prinzessin. Dass ich das Bild extra für Matteo ausgewählt hatte, wusste natürlich nur Yara. Aber die sagte immer, man müsse ja nur eins und eins zusammenzählen. Und das war genau, was ich mir wünschte, dass Matteo eins und eins zusammenzählte.
»Hey«, sagte Yara, als sie sich neben mich plumpsen ließ.
»Hey.« Ich nahm die Kopfhörer ab.
»Frierst du nicht?« Yara berührte meine Hand. »Mensch, du bist ja kalt wie eine Leiche.«
»Dann ist ja gut.«
»War’s so schlimm?«
»Schlimmer.«
»Und jetzt?«
»Ich war noch nicht unten.«
»Du sitzt hier seit drei Stunden?« Yara rüttelte an meinem Arm. Ich reagierte nicht. Drei Stunden waren vergangen? Himmel. So lange hatten sie noch nie gestritten. Ich öffnete die Luke einen Spalt und horchte in die Stille, die nichts Beruhigendes hatte.
»Kann ich mit zu dir?«
»Klar, weißte doch.«
Wir lagen beide auf dem Rücken und blickten in die schwarze Nacht. Irgendwo klapperte Geschirr. Bing. Eine Nachricht im Klassenchat.
»Josh macht morgen eine Party«, sagte Yara, »er hat sturmfrei.« Wir sahen uns an und grinsten. Dann hoben wir unsere Hände und ließen sie flattern.
»Uhhhhhhhh, der Flüüügel.« Lachend ließen wir uns wieder zurücksinken. Joshs Mutter war Konzertpianistin und ihr Steinway das Herzstück des Hauses. Es durfte nichts darauf abgestellt werden und man sollte sich am besten einen Meter von ihm entfernt aufhalten. Sonst zitterten Joshs Lippen und er sprang panisch auf, um den Flügel zu verteidigen wie ein Ritter seine Festung. Aber das war bisher nur ein einziges Mal vorgekommen, als Sarah, mit einer Cola in der Hand, rückwärts auf das Instrument zugestolpert war. Josh hatte sich mit einem Hechtsprung dazwischengeworfen. Seitdem deckte er den Flügel mit Yogamatten ab, wenn er Leute einlud.
»Josh ist süß«, sagte Yara, »ob er eine Freundin auch so verteidigen würde?«
»Wenn er sie so liebt wie seine Mutter.«
Yara boxte mich in die Seite. Sie wollte einfach nicht zugeben, dass sie in Josh verknallt war.
»Du Biest.«
»Isabelle!« Durch die Dachluke schimmerte Licht. »Bist du da?«
Mama! Ich legte Yara eine Hand auf den Mund und flüsterte:
»Psssst.«
»Isabelle?« Mama war direkt unter der Luke, die locker auf dem Rahmen lag. Wir hielten die Luft an. Dann ging das Licht aus, eine Tür wurde zugezogen und es war wieder still.
»Hast du nicht abgeschlossen?«
»Vergessen.«
»Mist. Und jetzt?«
»Wir gehen zu dir.«
»Ohne was zu sagen?«
»Jep. Und ich nehm Lilly mit.«
»Du bist verrückt.«
»Nicht verrückter als meine Eltern.«
Lilly war mein Kaninchen und der Star auf meinem Instagramkanal @rabbitlove4ever. Da konnte ich sie doch in dieser feindlichen Umgebung nicht zurücklassen. Ich kletterte durch die Dachluke in mein Zimmer, nahm Lilly aus dem Käfig, setzte sie in eine kleine Transportbox und reichte sie Yara. Dann hangelte ich mich wieder auf das Dach und machte Licht mit meinem Handy. »Komm schon.« Ich kletterte vorsichtig zum Rand des Dachs und auf den Balkon. »Worauf wartest du?« Yara sagte nichts und folgte mir zögerlich, während ich ihren Weg beleuchtete. Fast geräuschlos erreichten wir fünf Minuten später den Bürgersteig und kurz darauf Yaras Zuhause.
»Da seid ihr ja.« Ihr Vater faltete seine Zeitung zusammen, als wir ins Wohnzimmer kamen. »Eben hat deine Mutter angerufen. Sie konnte dich nicht erreichen.«
»Ach ja«, sagte ich, »war auf stumm geschaltet.«
»Dann sag ihr am besten gleich Bescheid.« Er bemerkte die Kaninchenbox. »Willst du hier einziehen?«
»Gute Idee.« Yara und ich sahen uns an und grinsten. Dann verschwanden wir in ihrem Zimmer. Bin bei Yara, schrieb ich Mama. Dann machte ich das Handy aus.
4
In der Klasse war Joshs Party das Thema des Tages. Kaum drehte sich ein Lehrer zur Tafel, blickten alle unter den Tischen auf ihre Handys, um den Klassenchat zu verfolgen und Beiträge zu posten. Ich hatte Lilly heimlich auf dem Schoß und hielt ihr ein Stück Karotte hin, während ich mit der anderen Hand auf das Display meines Handys tippte. Vor mir saß Olli, groß wie ein Baum, hinter dem ich mich halbwegs verstecken konnte.
»Und wenn sie auf deine Hose macht?«, flüsterte Yara.
»Shit happens.«
Ich kritzelte einen kleinen Kackhaufen auf den Rand von Yaras Heft. Wir kicherten lautlos. Ich streichelte behutsam über Lillys Fell und schloss einen Moment lang die Augen. »Lilly beruhigt mich«, murmelte ich und Yara nickte verständnisvoll. Lenny kündigte im Chat an, eine Flasche Wodka mitzubringen, die sein großer Bruder besorgen könne, was zu einem endlosen digitalen Schlagabtausch führte. Von Alk is a bitch bis zu jubelnden Smileys und hochgereckten Daumen war alles dabei. Schließlich beendete Josh die Debatte mit einem kotzenden Smiley, Klaviertasten und einem gebrochenen Herzen. Das verstanden alle. Dann wechselte das Thema zu Klamotten und später zu Übernachten und Musik, bis es endlich klingelte. Ich schielte zu Matteo hinüber, der sich nicht am Chat beteiligt hatte.
»Der kommt bestimmt«, sagte Yara. Mein Blick war ihr nicht entgangen.
»Hauptsache, du kommst.«
»Klaro. Wollen wir vorher noch ein bisschen shoppen? Ich brauch ein neues Top.«
Da pirschte sich Matteo heran und blieb direkt vor uns stehen.
»Hey, Isi«, sagte er und zeigte auf Lilly, die nun in meiner Armbeuge lag, »dein Kaninchen hat definitiv das bessere Karma als ich.« Er grinste.
»Warum?«
»Es ist schon im Paradies.« Er seufzte theatralisch, umarmte uns beide und lief schnell Josh hinterher.
»Fährst du nicht nach Hause?«, rief ich ihm nach, denn wir hatten denselben Weg.
»Bin heute bei meinem Vater. Aber wir sehen uns ja später.«
»Oooooh, da muss wohl jemand schmachten.« Suri umarmte mich von hinten und säuselte mir ins Ohr. Yara kicherte.
»Ihr falschen Schlangen«, sagte ich lachend, woraufhin die beiden Zischgeräusche von sich gaben und ihre Arme um mich wanden, bis wir alle drei in ein festes Knäuel verwebt waren. Und dabei fiel mein Blick auf Kim. Ihre Augen glänzten feucht und waren starr auf das Handy gerichtet. Sie schob ihre Zähne über die Unterlippe, kaute darauf herum und sah auf einmal aus wie ein kleines Mädchen, das seine Eltern in der Menge verloren hatte und nicht wusste, was es nun tun sollte. Ich überlegte gerade, zu ihr zu gehen, um sie zu fragen, ob sie Hilfe brauche, da bemerkte sie meinen Blick. Sie fuhr zusammen, als hätte ich sie bei etwas erwischt, fingerte hektisch in ihrem Schminktäschchen herum, holte einen Spiegel heraus und wischte sich mit einem Finger die Lippenstiftreste von den Zähnen. Dann frischte sie ihr Make-up auf, zog den Lidstrich nach und legte neuen Lippenstift auf. Aber es änderte nichts. Ich hatte etwas von ihr gesehen, das sie unbedingt geheim halten wollte.