In Nacht und Eis. Fridtjof Nansen

In Nacht und Eis - Fridtjof  Nansen


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sich an die Sieger zu halten, die lebenden Helden zumal.

      Deshalb hatten das Jubeln und Zylinderschwenken bei der Ankunft des Bezwingers der Nordostpassage Nordenskiöld in Stockholm – eine der farbigsten Schilderungen des Einlaufens der »Vega« verfasste hernach der Asienforscher Sven Hedin – die Erinnerung an den Untergang der »Jeannette« überlagert und nahezu ausgelöscht … bis 1884 zur Verblüffung der Laien und der Wissenschaft einige Wrackteile des Dampfers am Südwestufer Grönlands angespült wurden und das alte Thema »Jeannette« aufs Neue die Gemüter bewegte: Auf welche Weise hatten die Trümmer die Arktis durchwandert? Und auf welcher Route? Waren sie etwa vom Packeis über den Scheitel des Erdballs befördert worden? Und hatten sie demnach jenen Punkt gekreuzt, der eines der großen Sehnsuchtsziele der Menschheit darstellte?

      Während alle Welt über diesen Fragen grübelte, gab ein Mann in Norwegen kurz und knapp die Antwort und wandelte sie sogleich in eine Absichtserklärung um, in ein Vorhaben – in den Masterplan zur Eroberung des Nordpols.

      Fridtjof Nansen kam am 10. Oktober 1861 auf dem Gut Store Frøen in Vestre Aker bei Kristiania zur Welt, dem heutigen Oslo. Sein Vater, der dort eine Anwaltskanzlei unterhielt, war fad und paragrafentrocken; Zeitgenossen erinnerten sich an ihn als das »kleine magere Männchen«. Ganz anders die Mutter, eine geborene Baronesse: Von mächtiger Statur, verströmte sie Lebenskraft, war zupackend und gebot mit Witz und Temperament über ihren Hausstand.

      Jeder, der den Werdegang Fridtjof Nansens durchleuchtet, kommt angesichts dieses ungleichen Paares zu dem Schluss, dass der Antagonismus im Wesen der Eltern den Sohn geprägt haben muss. Nüchternheit und Schwärmerei, Lebensfreude und Daseinsangst, Misanthropie und Altruismus, Freiluftstreben und Stubenhockerei – alles das findet sich in seiner Vita.

      Der Knabe wuchs in einem Kreis von sechs Geschwistern auf und suchte doch die Einsamkeit. Manchmal blieb er seinen vier Wänden eine ganze Woche lang fern. »Irgendwelches Rüstzeug nahm ich auf meine Ausflüge nicht mit. Ich begnügte mich mit etwas Brot und briet mir Fische in der Glut. Ich liebte es, wie Robinson Crusoe dort oben in der Wildmark zu hausen.« Es war wie ein Survivaltraining. Doch wofür?

      Er machte sein Abitur und glänzte in den naturkundlichen Fächern so sehr, dass er sich 1881 entschloss, Zoologie zu studieren – ein Fach, das ihm zudem die Möglichkeit bot, die Waldgänge, das Herumstrolchen und -streunen und das Sein-eigener-Herr-Sein mit einer Fortbildungsmaßnahme zu begründen.

      Und warum dann nicht geradeso die christliche Seefahrt?

      Professor Robert Collett von der Universität Kristiania, ein Freund der Eltern, hatte kürzlich kolportiert, dass unter seinen Kollegen erwogen worden sei angehende Studiosi rerum naturalium auf Seehundfängern anheuern zu lassen, damit sie die Fauna des Eismeers beobachten könnten – worauf Fridtjof Nansen die Chance witterte, eine Vagabondage als Volontariat zu verbrämen. Unverzüglich trat er darum in Kontakt mit einem Skipper, der reisefertig war … und verließ am 11. März 1882 auf der »Viking« unter dem Kommando von Axel Krefting den Hafen von Arendal. Ihre Peilung »Westnordwest«: zur Ostkante Grönlands. »Das war der erste verhängnisvolle Schritt, der mich auf Abwege führte, fort jedenfalls von dem sicheren Pfad der Wissenschaft. Denn eher begeisterte ich mich jetzt fürs Jagen und den Wintersport, eher für polare Probleme als etwa für ein ordentliches zoologisches Studium.«

      Nur: War es keinen Spurwechsel wert, nach dreihundert Jahren in der Kiellinie des bislang berühmtesten Mitglieds der Familie zu fahren? Fridtjof Nansen konnte die seinem ›Praktikum‹ tief innewohnende Bewandtnis nicht erkennen.

      Dabei knüpfte sie an die Tatsache an, dass Hans Nansen, der Ururururgroßvater des Jünglings, 1614 zur Packeisgrenze gesegelt und dort prompt eingeschlossen worden war. Später, 1619, hatte er von Kopenhagen aus einen Turn in die Barents-See unternommen und am Ende, 1633, seine eigenen Eindrücke mitsamt den Lesefrüchten aus Logbüchern von anderen Voyageuren zu einem Compendium Cosmographicum vereinigt.

      Da sich ein Exemplar dieser Arbeit in der häuslichen Bibliothek auf Store Frøen befand, hatte Fridtjof Nansen darin die Auskunft einholen können: »Grönland ist ein sehr großes Land, gehört zum Königreich Norwegen, ist in früheren Zeiten von norwegischen Schiffen besucht und von Norwegern bebaut worden.« Genaueres als diese Überlieferung hatte Hans Nansen nicht weiterzugeben, denn: »In den letzten Jahrzehnten ist die Küste von Grönland nicht mehr angelaufen worden, sodass es uns völlig unbekannt geblieben ist.«

      Dass diese Worte seines Ahnen noch 1882 Gültigkeit besaßen, wurde Fridtjof Nansen an Bord der »Viking« auf bedeutungsvolle Weise vor Augen geführt: In Sichtweite Grönlands fror der Robbenfänger – wie damals Hans Nansens Nussschale – fest, und während er drei Wochen lang ohnmächtig gen Süden trieb, stellte die Insel ihre Reize herausfordernd zur Schau.

      Da Krefting allerdings damit rechnete, dass die Eiskruste aufbrechen würde, außerdem die Jagdsaison zu Ende ging und die Crew jetzt heimkehren wollte, war ein Verlassen der »Viking« unmöglich. »Hiermit«, seufzte Nansen, »wurden alle meine Pläne umgestürzt; meine schönen Träume, jene so oft von den Entdeckern vergeblich nachgesuchte Küste zu betreten, gingen also für dieses Mal in Rauch auf, und mit Wehmut sah ich das stolze Alpenland allmählich dem Horizonte näher versinken. Ich musste mich mit dem Anblicke begnügen und warf meine sehnsuchtsvollen Blicke hinüber, wenn die Gipfel in der Abendsonne glühten und meiner träumenden Fantasie Bilder grüner, idyllischer Täler und Herden von Rentieren und Moschusochsen vorzauberten.«

      »Für dieses Mal« hatte Fridtjof Nansen auf die Ausführung seiner Pläne verzichtet. Und so konnte er zwar – insofern war der Rat von Robert Collett nicht fruchtlos geblieben – eine Stellung als Konservator im Museum zu Bergen antreten. Aber was half’s: Während er nach dem Grundsatz »learning by doing« am Labortisch – wovon ein Foto bewahrt ist – Würmer sezierte und mikroskopierte und präparierte und analysierte und klassifizierte und sich auf dem Sektor der Anatomie und Histologie von Kleinstlebewesen zum Experten heranbildete, irrlichterten doch im Hintergrund seines Bewusstseins die verführerischen Eindrücke aus dem ewigen Eis.

      Noch einmal schloss er daher einen Kompromiss mit der Abenteuerlust und machte sich sowie den Seinen 1886 vor, dass die Kavalierstour nach Kiel, Berlin und Frankfurt am Main und weiter nach Como, Pavia, Mailand und ferner Florenz und Rom und Neapel ein Lehrausflug sei. In Wahrheit wollte er Abstand gewinnen zu seiner Befindlichkeit und prüfen, welcher Weg hinter und welcher vor ihm lag. Einer Freundin schrieb er am 21. Mai 1886 vom Fuße des Vesuvs: »Da ist ein Gewirr von Stimmungen [in mir], viel Sentimentales gepaart mit beinhartem Realismus, viel Leichtsinn gepaart mit der kältesten Berechnung; da ist dies Wursteln im Hier und im Heute gepaart mit einem krankhaften Verlangen, die Zukunft auszuspähen; da sind kümmerliche Ansätze von Idealismus gepaart mit dem krudesten Materialismus; da ist ein schwacher Durst nach Wissen gepaart mit Verachtung der Zivilisation sowie einem Hang nach Ursprünglichkeit und Natur; kurz gesagt: die köstlichste Mischung der heterogensten Bestandteile, ein Chaos der Disharmonien.«

      Nansen ging nicht daran, dies Gemenge von Eigenschaften, Vorurteilen und Wünschen zu ordnen oder gleichzurichten. Nein, auch wenn er künftig stets darunter leiden sollte und vereinzelt gar Selbstmordgedanken wälzte – er akzeptierte es. Das hatte den Effekt, dass er seine Dissertation über The Structure and Combination of the Histological Elements of the Central Nervous System 1887 noch zu Ende brachte, eine andere Monografie im Jahr darauf aber mit den Worten abbrach: »Ich muss meine Leser um Nachsicht bitten, wenn ich diese Darstellung in einem unvollendeten Zustand hinausgehen lasse; der Grund dafür ist, dass ich im Begriff bin, eine arktische Expedition anzutreten.«

      Er wollte sehen, was sich hinter dem gleißenden Saum von Grönland verbarg, hinter den irisierenden Visionen »grüner, idyllischer Täler mit Herden von Rentieren und Moschusochsen« – traf es zu, was seit Jahrhunderten geraunt und überdies schwarz auf weiß dargelegt worden war: dass im Inneren Grönlands ausgedehnte Wälder lagen, von Menschen nie betretene Haine, Gefilde einer heilen Welt?

      Die


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