DIVINE - BLICK INS FEUER. Cheryl Kaye Tardif
»Hierfür könnte es mehrere Erklärungen geben. Die X-Disc fand IV-Schläuche, so wie die von einem Infusor aus dem Krankenhaus. Washburn war damit an seinen Sessel gefesselt. Eine Sache ist daran allerdings seltsam. Der Sessel war vollständig in die Liegeposition ausgefahren.«
Jasi nagte an ihrer Unterlippe, während sie überlegte, warum sich jemand die Mühe machen sollte, den Stuhl auszufahren… oder Plastik-Schläuche aus dem Krankenhaus zu verwenden.
Wäre ein Seil nicht praktischer gewesen? Und wie war der Brandstifter an die Schläuche gekommen?
»Bin gleich wieder da, Natassia. Ich muss meine Sachen holen.«
Sie lief einen engen Gang entlang, bis sie an einer Tür mit dem Schild PSI Vorbereitungsraum angelangt war. Sie zog ihren Ausweis durch das Lesegerät und trat ein. An einer Wand befand sich eine Reihe von Schließfächern.
Sie steckte ihren Ausweis in den Kartenschlitz von Schließfach J12.
Der Schrank piepte kurz, bevor er sich öffnete.
Während sie den klobigen, schwarzen Rucksack herauszog, fluchte sie leise über dessen Gewicht. Sie stellte die Tasche auf einen Metalltisch in der Mitte des Raumes und stieß die Schranktür mit dem Absatz zu. Der Reißverschluss des Hauptfachs klemmte. Genervt ruckelte sie so lange daran, bis er sich endlich öffnete. Enthalten waren zwei dünne Taschenlampen, gelbe Nummerntafeln für die Spurensicherung, ein Stück fluoreszierende Kreide und weitere Ausrüstung für den Einsatz vor Ort.
Von einem Regal über den Schließfächern schnappte sie sich die letzte Flasche OxyBlast und verstaute sie in der Tasche. Zufrieden schloss sie den Rucksack und hievte ihn auf ihre Schulter.
Dann ging sie zurück ins Command Office.
»Alles klar, Ladys, dann wollen wir mal los.« Ben hatte soeben den Kopf durch die Tür gesteckt.
»Ladys?«, lachte Natassia. »Jasi, hat Agent Roberts uns gerade Ladys genannt?«
»Also, auf eine von euch beiden trifft diese Beschreibung jedenfalls nicht zu«, knurrte Ben leise.
»Komm schon, Natassia«, prustete Jasi. »Konzentrier dich.«
»Ich bin konzentriert.«
Jasi beobachtete sie und gluckste. Sie musste Natassia Prushenko einfach bewundern. Die Frau war nicht nur wunderschön, sondern strotzte nur so vor Selbstbewusstsein.
Natassia war eine russische Immigrantin. In gewisser Weise kam sie durch ein Tauschgeschäft der russischen Regierung als Gegenleistung für einige Gefallen der PSI-Abteilung zum CFBI. Sie sprach fünf Sprachen und war die beste Opfer-Empathin mit der Jasi jemals zusammengearbeitet hatte.
Und Jasi hatte in den letzten Jahren schon mit einer Menge Empathen gearbeitet.
Natassia war erst vor knapp zwei Monaten zu ihrem Team gestoßen, zum Zeitpunkt der Parlamentsmorde. Jasi hatte aus erster Hand erfahren, was Natassias Fähigkeiten ihrer Partnerin abverlangen konnten. Manchmal absorbierte ein Opfer-Empath die Emotionen des Opfers in einem solchen Ausmaß, dass es fast unmöglich wurde, sich wieder davon zu lösen – wieder in die Realität zurückzukehren.
»Alles Gute, Jasi. So macht ein Geburtstag doch erst richtig Spaß, oder?« Natassia verkniff sich ihr breites Grinsen, als Jasis Kopf zu ihr herumfuhr.
»Okay, der Hubschrauber ist startklar«, meldete sich Ben.
Sie hielten sich die Ohren zu und rannten über das Rollfeld. Die vier Rotorblätter des Ops-Helikopters schnitten dröhnend durch die Luft. Der Lärm war ohrenbetäubend, bis der Pilot jedem einen Kopfhörer reichte.
Wenige Minuten später waren alle an Bord und glitten über die Baumkronen hinweg.
»Wir fliegen zuerst zum Tatort«, sagte Jasi, während sie ihren Datakom in die Steckdose vor ihr steckte.
Natassia nickte. »Okay. Danach werde ich sehen, ob Washburns Überreste mir etwas verraten. Vielleicht haben wir ja Glück. Die Chancen stehen gut, dass Washburn den Täter kannte.«
»Ich besorge mir die Berichte für beide Feuer und mache ein paar Anrufe, um die ersten Vernehmungen klar zu machen«, sagte Ben und zog sich die Handschuhe aus. »Dann fange ich mit meinem Täterprofil an. Was haben wir bis jetzt?«
»Ein krankes Arschloch, das gern Feuer legt«, murmelte Jasi.
»Jep, so viel ist sicher. Hey, kommst du in Kelowna zurecht? Brauchst du irgendetwas außer der üblichen Ausrüstung?«
Sie gab ihm eine kurze Liste. »Nur das hier. Den Rest hab ich dabei.«
Ben überflog die Liste und tippte die Anfrage in seinen Datakom.
Wenige Minuten später leuchtete das Gerät mit einer Antwort auf.
»Es wird alles für dich bereitstehen, Jasi. Geh einfach vor Ort zum Leiter der Behörde für Brandursachenermittlung.«
Ihr Tag würde lang und anstrengend werden, das war klar. Sie rief sich die bereits einige Jahre zurückliegende Katastrophe ins Gedächtnis. Ein zerstörerischer Waldbrand hatte um den Okanagan Mountain gewütet, fast dreihundert Häuser in Schutt und Asche gelegt und mehr als fünfundzwanzigtausend Hektar unberührter Natur verwüstet.
Als sich der Privathubschrauber allmählich dem trostlos daliegenden Tatort näherte, lehnte sich Jasi in ihrem Sitz zurück, band ihre langen rotbraunen Haare schnell zu einem Pferdeschwanz zurück und schloss die Augen. Es war wichtig, dass sie wachsam und ausgeruht ankam.
Agent Jasi McLellan schmeckte bereits den bitteren Qualm in der Luft.
Und noch etwas anderes – den Tod.
Kapitel 3
Loon Lake nahe Kelowna, British Columbia
Der Helikopter setzte Jasi und ihr PSI-Team etwa eineinhalb Kilometer von der Brandstelle ab. Sie wurden von schweren grauen Rauchschwaden empfangen. Der Qualm waberte über dem Tatort wie eine durchgeschmorte Heizdecke, eingestellt auf die höchste Stufe. Die lächelnde Sonne brannte auf sie herab, was die Hitze nur noch unerträglicher machte.
Feuerwehrautos parkten an der Seite eines grasbewachsenen Feldes, das von großen Bäumen und dichtem Unterholz umgeben war. Ein überdimensionales Militärzelt in Khaki war in der Mitte des Feldes aufgestellt worden. In der Nähe lagen einige erschöpfte Feuerwehrleute schlafend im Schatten. Verschiedene Einsatzwagen der Polizei standen quer über die Schotterstraße, um die Zufahrt für die Öffentlichkeit zu blockieren.
Ein erschöpfter Polizist mit Ruß im Gesicht schlenderte auf sie zu. »Hi, Ben.«
Ben grinste und stellte den Mann vor. »Das ist Sergeant Eric Jefferson, Polizei von Kelowna.«
»Wie läuft’s denn so, Ben?«, fragte Jefferson nach einer kurzen Vorstellungsrunde. »Übernimmst du den Fall?«
»Eigentlich werde ich übernehmen«, mischte sich Jasi ein.
Ben verzog entschuldigend das Gesicht. »Eric und ich haben zusammen auf dem VPA-Gelände trainiert.«
Die Vancouver Police Academy hatte weltweit einen erstklassigen Ruf für die hervorragende Ausbildung von Polizeibeamten. Die Academy besaß mehrere Hektar Land außerhalb der Stadt. Das raue Terrain war zu einem Trainingsgelände für Schießübungen umgebaut worden, das von CFBI-Agents und Polizisten genutzt wurde. Außerdem gab es ein separates Areal für das Sprengstoffkommando.
»Ein Van wird euch dann abholen«, sagte Jefferson. »Und gleich kommt auch noch jemand mit der Ausrüstung, die ihr bestellt habt.«
»Wo ist der Chief?«, erkundigte sich Jasi.
»Drüben bei den Zelten, glaub ich.«
Jefferson warf einen kurzen Blick über die Schulter zu einem Truck, der in ihre Richtung fuhr. »Eure Ausrüstung ist da.«
Ein Officer Mitte vierzig und in tadelloser Uniform sprang von dem Fahrzeug. Er kniff die Augen zusammen, als er sie alle am Straßenrand entdeckte. Ein Feuerwehrmann in Schutzkleidung, jedoch ohne Helm und Maske, stieg mit einer feuerroten Ausrüstungstasche über der Schulter aus der Beifahrerseite. Er war stämmig gebaut und hatte blonde