Die wichtigsten Werke von Jodocus Temme. Jodocus Temme
Dir? Zu gleicher Zeit mit Mahlberg?«
»Sprechen wir nachher davon, Onkel. Wohin ist Gisbertine?«
»Du fragst mich zu viel.«
»Sie wollte nicht zu mir zurück?«
»Sie wäre lieber in die Hölle gegangen.«
»Und welchen Grund hatte Sie?«
»Es gebe Herzen, die sich nur lieben, aber nicht heiraten dürften, wenn sie glücklich bleiben wollten. Es war Narrheit, denn die Herzen heiraten nicht.«
»Sie sagte also, dass sie mich noch liebe?«
»Nun ja.«
»Und Du sagtest ihr, dass auch ich sie noch immer liebe?«
»Konnte ich anders?«
»Und sie wollte nicht wieder zu mir?«
»Du hörst es. Aber kommen wir nun auf die Gendarmen zurück.«
»Gendarmen, Onkel Florens?«
»Ah, ich vergaß, dass ich vergessen hatte, Dir davon zu sagen. Das kommt von dem ewigen Unterbrechen. Seit einer Stunde sind Gendarmen in der Nähe, heimlich, im Walde versteckt; der Bernhard, der sie sah, meinte, sie hätten einen heimlichen Überfall auf das Herrenhaus vor, und wenn ich damit Gisbertinens und Beckers Mitteilungen in Verbindung bringe — hm, den Auftrag Gisbertinens wenigstens musste ich ausführen.«
»Bah, Onkel Florens, ich fürchte mich nicht.«
»Du hast ein gutes Gewissen, meinst Du?«
»So meine ich.«
»Hm, mein Freund, das ist für einen Menschen, der des Hochverrats angeklagt werden soll, gerade das allergefährlichste Ding.«
»Und dann meine ich auch, Onkel, solche geheime nächtliche Überfälle in ruhigen Häusern, verbunden mit plötzlichem Verschwinden von Menschen, kennt man wohl unter dem russischen Regiment in Polen und haben wir in Deutschland unter der französischen Herrschaft erlebt, aber in Preußen hat man noch nie davon gehört.«
»Aber, mein Bursche, Frankreich und Russland sind zwei große Lehrmeister, und Du warst ja so eilig, Mahlberg zu warnen.«
»Für einen Freund ist man immer besorgter als für sich.«
»Und als für einen Onkel, wie ich sehe.«
»Bah, lieber Onkel, Dich als Demagogen zu verhaften — nimm es mir nicht übel — das wäre gar zu lächerlich.«
»Das würde nicht viel hindern. Indes ich bin der Mann, der es abwarten kann.«
»Auch ich. Und am Ende auch Mahlberg.«
»Halt«, sagte der Domherr. »Mit ihm ist es etwas anderes. Gisbertine sagte mir, der Haupterfinder des modernen Demagogentums sei der Herr von Schilden.«
»Schilden!« rief der junge Freiherr. »Schilden! Wir müssen um jeden Preis Mahlberg finden.«
Sie suchten ihn in dem Birkenwäldchen.
»Hm«, sagte der Domherr, »Gisbert, Du fragst ja nicht mehr nach Gisbertinen!«
»Ich muss an den armen Mahlberg denken.«
»Du hast Recht. Was bei Euch beiden, bei Dir und Gisbertinen, Eure eigene Narrheit ist, das ist bei Mahlberg und seiner Frau ein großes Unglück, das schwerste Unglück, die Schuld, die den Unschuldigen mit ins Verderben reißt.«
»Hast Du keine Hoffnung für die beiden, Onkel?«
»Ich weiß es nicht. Und doch. Manchmal ist das Unglück nicht so zähe wie die Narrheit.«
Gisbert antwortete nicht.
Sie hatten das ganze Birkenwäldchen durchsucht, den Namen Mahlberg leise und laut gerufen. Sie fanden keine Spur des Gesuchten. Menschen, die sie nach ihm fragen konnten, waren ihnen nicht begegnet. Sie umgingen das Wäldchen; es war ebenso vergeblich.
Sie kehrten zum Tanzplatze zurück.
Der Bursche Bernhard war dort.
Der Domherr rief ihn zu sich.
»Hast Du einen fremden Herrn in der Nähe gesehen?«
»Außer den Gendarmen niemand.«
»Suche ihn auf. Ihn suchen die Gendarmen; sie dürfen ihn nicht finden. Er ist etwas älter als mein Neffe, sieht blass aus, trägt einen braunen Rock und geht wenig lahm. Wenn Du ihn triffst, so führe ihn —hm, ja — in das Herrenhaus, in mein Zimmer; dann bringst Du mir sofort Bescheid. Du musst ihn finden.«
»Ich werde, Euer Gnaden.«
Der gewandte Bursche flog fort.
Der Domherr ging weiter, die Herrin des Hauses aufzusuchen.
Sie tanzte nicht mehr. Sie stand zur Seite am Arme ihres Bräutigams. Die beiden schienen in einem sehr ernsten Gespräche zu sein.
»Sie haben etwas miteinander«, sagte sich der Domherr. »Aber sie müssen selbst damit herauskommen.«
Karoline hatte ihn gesehen. Sie ließ den Arm des Obristlieutenants los und kam auf ihn zu.
»Onkel Florens, ich sollte Dir erzählen, wie ich Friedrichs kennen gelernt habe. Es ist schon ein Jahr her, dass ich es Dir versprach. Wir fanden seitdem nicht die rechte Zeit dazu.«
»Ist sie jetzt da?« musste der Domherr doch fragen, trotz seines Entschlusses, sie nicht zu fragen.
»Ja, ja«, sagte sie mit raschen Worten und mit einem langsamen Seufzer.
»Erinnerst Du Dich auch noch, wo Du mir erzählen wolltest?« sagte der Domherr.
»Gehen wir hin, lieber Onkel.«
Sie verließen den hellen, lauten, fröhlichen Platz, gingen an dem Garten des Herrenhauses, hinter diesem an dem Birkenwäldchen hin und kamen zu einer kleinen, mit Tannen bepflanzten Anhöhe. Die Tannen umgaben und verbargen einen kleinen, mit einem eisernen Gitter umgebenen Friedhof. Die Tür in dem Gitter war nicht verschlossen. Der Domherr und Karoline traten durch sie in das Innere.
Sie befanden sich auf dem Kirchhofe für die Familie der Gutsbesitzer auf Ovelgönne.
Die Familie Lohrmann besaß das Gut schon seit Jahrhunderten. Manches Grab bedeckte den kleinen Friedhof mit kleineren Gittereinfriedigungen, mit Kreuzen, mit Denkmälern.
Die beiden gingen durch die Reihen der Gräber; an einem mit einem einfachen Kreuze von weißem Marmor blieben sie stehen. Der Marmor trug eine Inschrift; man konnte sie in der Dunkelheit des Abends nicht lesen.
Sie zeigte wohl Namen und Geburts- und Sterbejahr des Toten an, der unter Kreuz und Grabhügel ruhte.
»Hier!« sagte Karoline.
»Ja, hier!« wiederholte der Domherr.
Sie sprachen beide mit leiser, feierlicher, fast zitternder Stimme.
Sie standen an dem Grabe der Mutter des jungen Mädchens.
Und was war die Mutter des Mädchens dem Domherrn gewesen?
»Setzen wir uns, Karoline«, sagte der Domherr.
Sie setzten sich auf das Grab, an das Kreuz.
»Und nun, Karoline, ich habe Dir noch nie von Deiner Mutter erzählt.«
»Als dass sie eine brave Frau gewesen sei, Onkel Florens.«
»Das war sie und — und — Sprechen wir vorher von ihr und dann von Dir. Höre mir zu, Karoline.
Vor weit über dreißig Jahren saß ich auch hier, nicht auf diesem kleinen Hügel. auf dem sich das einfache Kreuz erhebt, aber dort rechts, zehn Schritt von hier, an der alten dichten Tanne dort. An meiner Seite saß Deine Mutter. Es war ein Abend wie heute, im Anfange des August;