Die einsame Frau des Herzogs. Barbara Cartland

Die einsame Frau des Herzogs - Barbara Cartland


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genossenen Portweines ausschlief.

      Von der Straße aus warf er noch einmal einen Blick zurück. Kein Zweifel, daß das Waisenhaus in einem völlig verwahrlosten Zustand war. Die Fensterrahmen hatten jede Farbe verloren, die Tür hing schief in den Angeln, und der Klopfer war schwarz, weil er seit langem nicht mehr poliert worden war. Mr. Falkirk entschloß sich, hier Ordnung zu schaffen, sobald er die Genehmigung des Herzogs eingeholt hatte.

      Tara verbrachte eine Stunde mit Märchenerzählen, weil aus dem einen versprochenen schließlich drei wurden. Als sie damit fertig war, stand sie auf und rief: „Schluß für heute. Jetzt muß ich kochen, oder ihr bekommt nichts zu essen.“

      „Ich habe Hunger“, sagte ein kleines Mädchen.

      „Ich auch. Ich auch“, klang es aus vielen Kehlen, so daß Tara eilig den Saal verließ, ehe die Kinder sich an sie hängten und nicht wieder losließen.

      Im unteren Stockwerk angekommen klopfte sie an Mrs. Barrowfields Tür und trat ein, als sie keine Antwort erhielt. Wie Mr. Falkirk richtig vermutet hatte, schlief die Heimleiterin fest. Es war sehr heiß, weil sie selbst bei warmem Wetter darauf bestand, daß im Kamin ihres Wohnzimmers Feuer angezündet wurde. Das war für sie ein Symbol für einen Luxus, den sie sich leisten konnte und auf den sie nicht zu verzichten gedachte.

      Um sie nicht zu wecken, öffnete Tara vorsichtig das Fenster einen Spaltbreit. Die fast leere Portweinflasche auf dem Tisch sprach eine deutliche Sprache. Es würde einige Mühe kosten, Mrs. Barrowfield aufzuwecken. Sie schnarchte mit offenem Mund.

      Als Tara die Flasche wegstellen wollte, fiel ihr Blick auf die kleine Schmuckschatulle. Der Mann, der sie nach Schottland mitnehmen wollte, hatte also das Medaillon ausgehändigt bekommen. Dieses Schmuckstück war das Einzige, was sie von den anderen neununddreißig Waisen im Heim der Namenlosen unterschied. Hoffentlich verliert er es nicht, dachte sie ängstlich. Nachdem sie die Schatulle wieder in der Schublade verstaut hatte, verließ sie, die beiden benutzten Gläser in der Hand, das Wohnzimmer und begab sich in die Küche.

      Dort stieß sie auf Mary, eine der alten Frauen, die im Waisenhaus aushalfen. Sie war zahnlos und konnte nur auf einem Auge sehen, nannte sich jedoch Köchin und wurde von Mrs. Barrowfield auch als solche akzeptiert.

      Sie rührte in einem großen Kessel herum, der über dem Feuer hing. Die darin befindliche Suppe roch so unangenehm, daß Tara sich nun vorstellen konnte, daß sie noch schlechter schmeckte als sie roch. Andererseits war die Suppe immer noch besser als gar nichts, weil sie die einzige warme Mahlzeit am Tage für die Kinder bedeutete. Zum Glück gab es heute sogar Brot, weil Tara letzte Woche darauf bestanden hatte, daß Mrs. Barrowfield die ausstehende Rechnung des Bäckers bezahlte und ihm gleich einen kleinen Vorschuß aushändigte.

      Tara wußte als Einzige darüber Bescheid, wie viel Geld, das für die Kinder bestimmt war, für Getränke ausgegeben wurde, damit Mrs. Barrowfields Laune sich nicht so verschlechterte, daß sie den anderen das Leben zur Hölle machte. Gewöhnlich störte Tara das nicht besonders, außer wenn die Kinder so hungrig waren, daß sie nachts nicht schlafen konnten. Dann kämpfte sie wie eine Löwin für ihre Rechte. Die alte Frau wiederum war zu träge, um sich ihr lange zu widersetzen. Am Ende kapitulierte sie immer und rückte wenigstens etwas von dem Geld heraus, das sie für ihre eigenen Bedürfnisse hatte verwenden wollen.

      Als Tara das Brot in gleichmäßige Stücke schnitt, dachte sie daran, daß sie aufpassen mußte, damit die größeren Kinder den kleineren nicht ihren Anteil wegnahmen. Es war ihr Verdienst, wenn die schwächeren Insassen des Heimes nicht von den stärksten und unverschämtesten Jungen tyrannisiert wurden. Dabei vermied sie Gewalt, zu der Mrs. Barrowfield sich gelegentlich hinreißen ließ. Es gelang ihr kraft ihrer Persönlichkeit, einigermaßen Ordnung zu halten.

      Sie war noch mit Brotschneiden beschäftigt, als sie aus dem Augenwinkel entdeckte, daß die alte Frau in einer Ecke der Küche stand und im Begriff war, unter ihrem fadenscheinigen Mantel etwas verschwinden zu lassen. Was da vor sich gehen sollte, war ihr nur allzu bekannt. Tara griff ihr über die Schulter und nahm ihr weg, was sie verstecken wollte.

      Es war ein großes Stück Fleisch, billig zwar, aber es war alles, was sie sich leisten konnten und die Grundlage für die Suppe, in der die sogenannte Köchin seit einer Stunde herumrührte. Die alte Frau stieß einen empörten Schrei aus, als sie ihre Beute so schnell wieder los wurde.

      Tara nahm keine Notiz davon, legte das Fleisch auf den Tisch und begann, es in winzige Stückchen zu zerschneiden.

      „Die Kinder haben Hunger“, stellte sie fest. „Wenn sie nichts zu essen bekommen, müssen sie sterben.“

      „Und wäre das so schlimm? Wer will sie denn haben?“

      Diese Frage hatte sich Tara selbst schon manchmal gestellt, ohne eine Antwort zu erhalten.

      „Seien Sie nicht so gierig, Mary“, antwortete sie ruhig. „Es wäre Ihnen doch sicher nicht recht, wenn diese Kinder nicht lebensfähig wären, weil Sie ihnen ihr Essen gestohlen haben.“

      „Ich habe Hunger, wenn ich abends nach Hause komme, und auch meine armen Katzen bekommen keinen Bissen“, jammerte Mary.

      „Die sollen Mäuse fangen, was die armen Kinder nicht können, genausowenig, wie sie sich jemals selbst einen Apfel vom Baum pflücken dürfen.“

      Tara seufzte.

      „Oh, Mary, wenn das Waisenhaus doch irgendwo auf dem Lande stünde, dann wäre das Leben viel einfacher als hier in London.“

      „London ist schon in Ordnung, wenn man Geld hat“, erwiderte die alte Frau säuerlich.

      „Wenn man Geld hat, ist das Leben überall in Ordnung“, mußte Tara zugeben.

      Sie warf das zerkleinerte Fleisch in den Suppenkessel und fügte noch ein paar Zwiebeln hinzu, die sie in einem Regal gefunden hatte. Als sie diesmal umrührte, erfüllte ein völlig anderes Aroma den Raum.

      „Passen Sie auf, daß die Suppe nicht anbrennt, Mary“, erklärte sie. „Ich werde inzwischen die Kinder herbeirufen. Haben Sie ihre Teller gespült?“

      Mary knurrte als Antwort nur, ein Beweis, daß sie das weder getan noch beabsichtigt hatte. Es war immer das Gleiche mit ihr. Man konnte sich nicht auf sie verlassen, und die andere alte Frau, die nachmittags kam, um die Böden zu putzen, war um kein Haar besser.

      Da das Heim so überfüllt war, gab es kein Speisezimmer mehr. Es war mit einigen Betten und Matratzen in einen zweiten Schlafsaal verwandelt worden. Die Kinder mußten daher ihre Mahlzeiten in der Halle einnehmen, was sie teils stehend, teils auf den Stufen sitzend taten.

      Das machte Tara ihre Aufgabe besonders schwer, aufzupassen, daß jeder seinen gerechten Anteil erhielt. Sie betätigte eine kleine Glocke, worauf alle Türen aufflogen und die Kinder von allen Seiten herbei strömten. Nur die Babys blieben oben, und Tara mußte zusätzlich ein wachsames Auge auf die Kanne Milch haben, die auf einem Regal stand. Sobald sie den Rücken drehte, würden die Kinder, die wegen ihres Alters keine Milch mehr bekamen, Tassen und Löffel hinein tauchen, um ein bißchen davon zu trinken.

      Während der nächsten Minute ging es in der Küche wie in einem Tollhaus zu.

      „Jeder bekommt ein Stück Brot! Fred, leg das sofort hin, du hast deinen Teil schon gehabt! Paß auf, Helen, damit du deine Suppe nicht verschüttest! Drängelt nicht, es ist für jeden etwas da!“

      Diese und ähnliche Zurufe ließen sich bei keiner Mahlzeit vermeiden. Es geschah nicht aus Mangel an Liebe, daß keiner gehorchte und jeder versuchte, dem anderen etwas abzujagen. Der primitivste Selbsterhaltungstrieb sagte ihnen, daß sie essen mußten, wenn sie überleben wollten.

      Als Tara den letzten Löffel Suppe ausgegeben hatte, merkte sie, daß ein kleiner Junge gerade in das letzte Stückchen Brot biß. Für sie war wieder einmal nichts mehr übrig geblieben, wie das schon so oft geschehen war.

      ,Es ist mein Fehler’, dachte sie. ,Ich hätte mein Brot essen sollen, ehe ich die Kinder gerufen habe.’

      Wenigstens bot sich ihr die Chance, ab


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