DIE LETZTE FIREWALL. William Hertling
schrie Sarah. »Gar nichts. Du lebst in der Traumwelt deiner toten Mutter.«
Die Erinnerung an ihre Mutter überkam Catherine und machte den Raum plötzlich klaustrophobisch eng. Sie musste hier raus. Sie schüttelte stumm den Kopf und marschierte auf die Haustür zu.
»Ach, Cat«, sagte Maggie und holte sie an der Tür ein, »nimm dir das mit Sarah nicht so zu Herzen.«
»Du bist nicht meine Mutter«, sagte Catherine mit gebrochener Stimme, ließ Maggies Hand von ihrer Schulter gleiten und stürmte aus dem Haus.
Kapitel 5
Beim Treffen der Abteilungsleiter nahm Leon seinen Platz ein. Sobald Mike und er sich gesetzt hatten, füllten sich acht weitere Sitze mit Menschen und zwei mit Androiden, sodass sechs Plätze für die Visualisierungen von KIs frei blieben.
»Vielen Dank für Ihr Kommen«, sagte Mike. Die Tagesordnung tauchte in dem gemeinsam von der Gruppe geteilten Netzaccount auf und schwebte über der Mitte des Tisches. »Wir haben jetzt vierzig Minuten Zeit für einen ›Runden Tisch‹ mit den Abteilungen. Ich weiß, dass Sonja uns etwas Wichtiges mitzuteilen hat. Ich beende die Runde dann mit den neuesten Infos bezüglich des Budgets.« Mike wandte sich nach links und machte eine einladende Geste zum ersten Redner.
Vaiveahtoish, ein Androide oder menschenähnlicher Roboter, war Leiter der Abteilung für Naniten-Forschung. Sein bronzefarbenes Visier blitzte auf, als er in geschliffenem Englisch mit leicht ausländischem Akzent zu sprechen begann. »Wir haben damit begonnen, die Version 2.1 unserer Naniten-Richtlinien und Verhaltensregeln zu veröffentlichen.« Während der Android das Konzept vorstellte, zeigte er im Netz Schaubilder mit Änderungen und ihren Auswirkungen. Köpfe drehten sich, um die Daten anzusehen.
Naniten, mikroskopisch kleine Roboter, waren seit einem Jahrzehnt ein Innovationsprojekt, das von sich ständig weiter entwickelnden Generationen der KIs fortgeführt wurde. Bis zum jetzigen Zeitpunkt war der Einsatz immer streng kontrolliert worden und sie waren nur wenigen, von KIs geführten Forschungslabors zugänglich. Es gab lediglich ein paar experimentelle Freisetzungen und eine einzige kommerzielle Anwendung. Wie die Technologie mussten auch die Verhaltensregeln ständig auf den neuesten Stand gebracht werden.
Leon, der schon am Vortag mit Vaiveahtoish gesprochen hatte, wusste bereits, was sein Kollege zu sagen hatte und sah sich an dem ovalen Tisch um, der ein notwendiger Kompromiss zwischen dem runden Gleichheitsprinzip und dem verfügbaren Platz war. Das Institut war innerhalb von zehn Jahren von zwei auf acht Abteilungen gewachsen.
Leon erinnerte sich an den Tag zurück, als er vor mittlerweile zehn Jahren das Institut zum ersten Mal betreten hatte. Er war neunzehn gewesen und hatte seinen ersten Anzug getragen.
Beschwingt war er über freiliegende Kabel und Bauschutt hinweg geklettert. Zu seiner Linken zogen zwei Frauen mit Schutzhelmen und gelben Westen ein dickes Kabel durch ein neues Loch in der Wand. Vor ihm stand ein Mann auf der vorletzten Stufe einer sehr hohen Leiter und verlegte orangefarbene CAT-10 Glasfaserkabel an der Decke.
»Bitte, hier entlang«, sagte eine Frau, die ein graues Kostüm und eine verspiegelte Sonnenbrille trug. Sie hatte eine harte Stimme und ihr Jackett beulte sich über der linken Hüfte.
Leon folgte ihr. Noch vor ein paar Monaten hatte er sich vor den Agenten des Secret Service gefürchtet. Jetzt starrte er ihr nur noch auf den Hintern.
»Konzentrier dich, Junge. Konzentrier dich«, sagte Mike leise zu ihm.
Leon zwinkerte dem älteren Mann zu und beobachtete stattdessen die Bewegung ihres Haares.
Als sie den Korridor hinuntergingen, wurde der Baulärm leiser. Die Agentin führte sie durch eine Tür. Dahinter befand sich ein noch nicht renovierter Konferenzraum: kühle Marmorwände, eine altmodische Wandtafel und keine Fenster. Leon ließ seine Finger neugierig über die alte Tafel gleiten. Danach waren sie weiß. Er wischte die Finger an der neuen, schwarzen Anzugjacke ab und bemerkte zu spät den Schaden, den er damit angerichtet hatte.
Als er die Kreide hastig abklopfte, rief einer der Agenten laut: »Die Präsidentin der Vereinigten Staaten, Rebecca Smith!«
Präsidentin Rebecca Smith betrat den Raum, gefolgt von ihrem Tross.
»Setzen Sie sich doch bitte, meine Herren«, sagte sie, als sie am Kopf des Tisches Platz nahm.
Mike und Leon nahmen nebeneinander Platz.
»Mike Williams, Leon Tsarev, das ist Forschungsminister Feld. Brad, darf ich dir Mr. Williams und Mr. Tsarev vorstellen, die Abteilungsleiter des Instituts für Angewandte Ethik.«
Sie nickten einander höflich zu.
»Ich habe mir Ihre Vorschläge angesehen, Mr. Williams«, sagte Feld. »Wie ich sehe, haben Sie zwei Abteilungen vorgesehen. Da wäre zum einen die Ethik-Abteilung, die die Grundlagen, die Regeln und die Anreize für die Steuerung ethischen Verhaltens entwickeln soll.«
»Das ist korrekt«, sagte Mike.
»Und zum anderen die Abteilung für Programmarchitektur, die sich auf die Umsetzung des Reputationssystems konzentrieren wird. Sie wollen erreichen, dass die KIs sich gegenseitig überwachen. Diesem Team wird Mr. Tsarev vorstehen.«
Leon sagte zunächst nichts, aber Mike sah ihn bedeutsam an. »Ja, das stimmt«, sagte Leon und versuchte, seine Stimme fest klingen zu lassen.
Feld sah Leon über den Rand seiner Brille hinweg an.
»Mr. Tsarev, wie alt sind Sie?«
»Neunzehn, Sir«, antwortete Leon.
»Hmm … und Sie sind in der Lage, eine Abteilung zu leiten, weil …?«
»Weil ich die erste virenbasierte KI erschaffen habe. Ich bin vertraut mit ihrem Design und habe ihre Methode, Entscheidungen zu treffen, die Reputation zu bewerten und ihre Form der Organisationsstruktur studiert.«
»Ja, ja. Ich zweifle nicht an ihren technischen Fähigkeiten. Aber können Sie eine ganze Abteilung voller Wissenschaftler leiten, von denen jeder älter als Sie sein wird?«
Leon versuchte sich an einer Antwort, schrumpfte aber unter den Blicken des Mannes zusammen.
»Brad, es ist bereits entschieden«, ging Präsidentin Smith dazwischen. »Quäl den Jungen nicht.«
»Also schön«, fuhr Feld fort, »ich werde der Interimsdirektor des Instituts sein, bis ein ständiger Leiter gewählt worden ist. Wir werden von jetzt an zusammenarbeiten.«
PING. PING. PING.
Leon kehrte in die Gegenwart zurück, als Mike ihm als ›dringlich‹ gekennzeichnete Nachrichten über das Netz schickte. Verblüfft sah er in die Runde. Sonja Metcalfe, die Leiterin der Abteilung für Sonderermittlungen sprach gerade.
»Der Fall ist eskaliert und wir werden uns deshalb persönlich damit befassen.«
Sie wandte sich Mike zu. Leon blinzelte und ging im Netz noch einmal im Schnelldurchgang die letzten Posts durch, wobei er nachdenklich auszusehen versuchte. Er konnte sich auf diese Dinge keinen Reim machen. Unfälle und Morde?
»Tut mir leid, aber wären Sie so freundlich, das zu wiederholen?«, bat Leon.
Sonja starrte ihn an. »Passen Sie dieses Mal besser auf«, schickte sie ihm als private Nachricht, die in seinem Gesichtsfeld schwebte und sich auch dann nicht löschen ließ, als er sie über sein Implantat beiseiteschieben wollte.
Nach einem kleinen Schnaufen sprach sie mit lauter Stimme weiter: »Wir haben hier eine Reihe scheinbar zusammenhangloser Todesfälle.« Sie verstummte und blickte Leon direkt an.
Mit einer Handbewegung deutete er an, dass sie fortfahren konnte. Er hörte ihr zu. Verdammt. Sie hatte ihm nie wirklich vertraut. Gleich als sie eingestellt worden war, hatte sie sich bei Feld beschwert und gesagt, dass sie nicht glaube, dass ein 24-jähriger in der Lage sei, eine ganze Abteilung zu leiten. Fünf Jahre später war sie immer noch in diesem Denkmuster gefangen.