Gesammelte Werke. Wilhelm Raabe

Gesammelte Werke - Wilhelm  Raabe


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hat­te die Frau einen Au­gen­blick ge­zö­gert und zu­rück­ge­se­hen und ge­horcht.

      Der alte Herr glaub­te, sie hor­che noch ein­mal auf den fröh­li­chen Lärm, auf das hei­te­re Stim­men­ge­wirr der Neu­jahrs­nacht dort un­ten im Fest­saal des Hau­ses.

      »Sie sind gott­lob recht hei­ter«, mein­te er, »wüss­te auch nicht, wes­halb nicht. Und auch wir – Mut­ter! – nicht wahr, Alte?… Wie spät ist es denn ei­gent­lich? Elf Uhr! Noch früh am Tage, wenn­gleich wirk­lich ein we­nig spät im Jah­re.«

      »Ja, Wal­ter!« hat­te die Grei­sin er­wi­dert, aber nur, um doch eine Ant­wort zu ge­ben. »Ich hör­te ei­gent­lich nicht auf dich; ich dach­te an un­ser Änn­chen«, füg­te sie hin­zu, als sich die Tür hin­ter ih­nen ge­schlos­sen hat­te und sie in der letz­ten Stun­de des ab­lau­fen­den Jah­res mit sich al­lein wa­ren.

      Das jun­ge Volk! Längst hat es drei Vier­tel des Hau­ses nach sei­nem Ge­schmack und Be­dürf­nis ein­ge­rich­tet und mit vol­lem Rech­te des Le­bens. An das Reich der bei­den Al­ten hat kei­ne Hand ge­rührt, au­ßer dann und wann eine Kin­der­hand, de­ren vol­les Recht des Le­bens es frei­lich ist und im­mer­dar sein wird, in der Groß­vä­ter und der Groß­müt­ter Haus­rat, Schub­la­den und Schrän­ken zu wüh­len und zu kra­men und sich die vom An­fang der Welt an da­zu­ge­hö­ri­gen er­stau­nungs­wür­di­gen, lus­ti­gen und trau­ri­gen Ge­schich­ten er­zäh­len zu las­sen.

      Es war ein­mal!… Oh, noch ein­mal von dem, was war!… Und so war es ge­kom­men, dass die jüngs­te Toch­ter des Hau­ses die El­tern um Mit­ter­nacht noch wach fand un­ter den Glo­cken, die das neue Jahr ein­läu­te­ten. Eine Kin­der­hand aber war es wie­der­um ge­we­sen, die an den Schlei­ern der Ver­gan­gen­heit ge­zupft hat­te: »Es war ein­mal! Ich bin da! – Mama, du sagst in die­ser Stun­de nicht: ›Man hat doch kei­nen Au­gen­blick Ruhe vor dir, Kind!‹ – Ich bin da; und nun lasst mich sit­zen auf mei­nem Stuhl, lasst uns er­zäh­len: Es war ein­mal!… lasst uns er­zäh­len von dem, was ein­mal war!«…

      Und sie hat­ten da­von er­zählt, die bei­den Grei­se näm­lich. Das Kind hat­te nur drein­ge­spro­chen.

      »Sie wäre ge­wiss auch eine statt­li­che Frau und eine gute ge­wor­den«, sag­te die alte Dame. »Ich mei­ne, am meis­ten hät­te sie wohl der Theo­do­re ge­gli­chen, wenn wir sie be­hal­ten hät­ten, das lie­be Kind. Sie ha­ben alle da un­ten – un­se­re mei­ne ich, Papa! – ein hüb­sches, lus­ti­ges La­chen; aber ich kann nichts da­für, ich muss es sa­gen: wie das Kind, un­ser Änn­chen, ist doch keins so glück­lich in sei­nem La­chen ge­we­sen. Die an­de­ren ken­nen wir ja auch nun schon lan­ge mit ih­ren Sor­gen und ih­ren Nö­ten und ih­ren un­nüt­zen Är­ger­nis­sen. Keins von ih­nen lacht und kreischt und ki­chert so, wie mein Änn­chen es tat. Hät­ten wir die En­kel nicht, so wür­de das Haus wohl manch­mal still ge­nug sein – selbst dir, Groß­pa­pa.«

      Da war das La­chen, das vor so lan­gen, lan­gen Jah­ren zu­erst das Haus hell und hei­ter ge­macht hat­te! Auch der alte Herr, der Groß­pa­pa, dem das Haus nie ru­hig ge­nug sein konn­te, kann­te es ganz ge­nau.

      »Also, ihr wisst es doch noch, wie es war, als wir drei al­lein wa­ren und dein Haar noch nicht so weiß, Va­ter, und auch dein’s nicht so hübsch grau, mein Müt­ter­chen, und ich euer lie­bes, ein­zi­ges Mäd­chen! Hier sit­ze ich auf mei­nem Stuhl und be­hal­te mein Recht, al­len mei­nen Schwes­tern und Brü­dern und al­len mei­nen Nich­ten und Nef­fen zum Trotz. Ich bin die Äl­tes­te! Wer auch nach mir ge­kom­men ist, wie vie­le auch ge­ses­sen ha­ben auf die­sem Sche­mel­chen – mir ge­hört es, mir habt ihr es hier­her ge­stellt; das ist mein Sitz am Her­de! Wer kann mir mei­nen Platz neh­men in eu­rer See­le, wer in dem Hau­se, das ihr ge­baut habt und in dem ihr mich ein­mal euer Glück nann­tet?!«

      »Du hast recht, Mut­ter«, sag­te der alte Herr; »ich weiß ei­gent­lich nicht, wie wir ge­ra­de jetzt dar­auf kom­men; aber das Kind hat im­mer zu mir – zu uns ge­hört. Nur weil wir es wuss­ten, ha­ben wir nicht im­mer dran ge­dacht. So geht es aber mit al­lem Wis­sens­wür­di­gen in der Welt.«

      »Mein Änn­chen!« seufz­te ein­fach die Grei­sin; doch die blon­den Lo­cken wur­den wie mut­wil­lig von neu­em ge­schüt­telt, und wie­der leg­te sich der klei­ne Fin­ger schalk­haft auf den Mund: »Ja, ich war im­mer da, wenn ihr auch nicht an mich zu den­ken glaub­tet: an man­chem schwü­len Som­mer­ta­ge, in man­cher kal­ten, dun­keln, trost­lo­sen Win­ter­nacht, an man­chem Fes­te in der licht­strah­len­den Win­ter­nacht, an man­chem son­ni­gen, seuf­zer­vol­len Früh­lings­mor­gen. Jetzt ha­ben die an­de­ren da un­ten im Saa­le eue­re Sor­gen, Freu­den und Ar­bei­ten. Ihr aber habt Zeit für mich. Eure an­de­ren, die nach mir ge­kom­men sind, ha­ben mir wohl mein al­tes Spiel­zeug ver­kramt und zer­bro­chen; aber mein Plätz­chen im Hau­se ha­ben sie mir nicht neh­men kön­nen. Ich habe es ih­nen nur ge­lie­hen, ei­nem nach dem an­de­ren; doch mein Ei­gen­tum ist es und bleibt es; nicht wahr, Papa und Mama? Ihr habt zwar un­ter den an­de­ren gott­lob nun auch wie­der ein Änn­chen – ein En­kel­kind mit mei­nem Na­men –, aber das tut nichts, wir ver­tra­gen uns schon um die­sen klei­nen Stuhl und um – euch!… Es war wohl ein klei­ner Sarg, in den ihr mich le­gen muss­tet; aber – ich bin im­mer über mei­ne Jah­re klug ge­we­sen. Ich habe es wohl oft heim­lich er­lauscht, wenn ihr das über mich sag­tet. Da­mals wuss­te ich frei­lich nicht recht, was ihr da­mit sa­gen woll­tet und ob es ei­gent­lich ein Lob für mich sei; jetzt aber weiß ich es. Ei ja, ich bin sehr klug für mei­ne Jah­re ge­we­sen! Nun lacht nur, wie ihr da­mals ge­weint habt, als ich von euch weg­ge­führt wur­de und nicht über die Schul­ter zu­rück­se­hen durf­te. Seht ihr wohl, da lä­chelt ihr we­nigs­tens schon. Die Jah­re sind nun hin­ge­gan­gen, lan­ge, lan­ge Jah­re! Heu­te Abend habt ihr euch vor­ge­nom­men, noch ein­mal jung zu sein mit eu­ren Kin­dern und En­keln. Es ist euch auch wohl ge­lun­gen, doch nicht ganz. Ganz jung seid ihr erst jetzt wie­der, da ich mich zu euch ge­setzt habe, ich – eue­re Äl­tes­te und eue­re Jüngs­te. Nimm mei­nen Kraus­kopf wie­der zwi­schen dei­ne Hän­de, Mut­ter, lass mich wie­der auf dei­nem Knie sit­zen, Vä­ter­chen; drau­ßen schneit es sehr, und der Nord­wind bläst, und es ist spät in der Nacht; ihr aber schickt mich dies­mal noch nicht zu Bett; – wir wol­len jetzt ein­an­der noch nicht zu Bet­te schi­cken; wir wol­len noch ein­mal ein Weil­chen sit­zen und er­zäh­len von dem, was ein­mal war

      Sie hat­ten nur noch fünf Mi­nu­ten in ih­ren Groß­vä­ter­stüh­len ne­ben dem Ofen sit­zen wol­len, um sich von dem Fes­te, dem Hän­de­drücken, all den Küs­sen und gu­ten Wün­schen zu dem neu­en, kom­men­den Jah­re ein we­nig zu er­ho­len, wie es den äl­tes­ten Leu­ten in der Fa­mi­lie ge­ziemt in der Sil­ves­ter­nacht, wäh­rend die Ju­gend um die lich­ter­glän­zen­de Fest­ta­fel wei­ter­ju­belt und -lärmt, nach der Uhr sieht und den Se­kun­den­zei­ger mit la­chen­dem Auge ver­folgt bis her­an an den neu­en erns­ten Grenz­stein ih­rer Er­den­zeit. Und sie, die be­reits Grei­se wa­ren, hat­ten nicht nach der Uhr ge­se­hen; sie hat­ten gar nicht ein­mal dar­an ge­dacht. Die Se­kun­den der letz­ten Stun­den des Jah­res wa­ren ih­nen da­hin­ge­glit­ten wie die vie­len, lan­gen, ar­beits­vol­len, in­halt­rei­chen Jah­re ih­res Da­seins sel­ber bis in die­ses jüngs­te und das eben vor der Tür ste­hen­de hin­ein.

      »Du fragst wohl, Va­ter, wie wir ge­ra­de jetzt dar­auf kom­men, und sagst, dass du an das Kind lan­ge nicht ge­dacht hast«, sag­te die alte Dame. »Es


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