Hans Fallada – Gesammelte Werke. Hans Fallada

Hans Fallada – Gesammelte Werke - Hans  Fallada


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und vor zehn Uhr abends wer­de ich ihn nicht wie­der­se­hen. Fünf­zehn und eine hal­be Stun­de al­lein mit mir – was wer­de ich al­les er­fah­ren über mich, das ich noch nicht wuss­te? Mir ist angst, mir ist so sehr angst! Ich glau­be, ich wer­de schrei­en, noch im Schla­fe wer­de ich schrei­en vor Angst! Fünf­zehn und eine hal­be Stun­de! Die hal­be Stun­de hät­te er noch bei mir sit­zen kön­nen. Aber er woll­te durch­aus in sei­nem al­ten Buch le­sen. Men­schen be­deu­ten ihm trotz all sei­ner Güte nichts, ihm be­deu­tet nur sei­ne Ge­rech­tig­keit et­was. Er tut es, weil sie es von ihm ver­langt, nicht um mei­net­wil­len. Es hät­te erst Wert für mich, wenn er’s um mei­net­wil­len täte!

      Sie nickt die­sem grament­stell­ten Ge­sicht Sa­ras im Spie­gel lang­sam zu. Sie sieht sich nach dem Bett um. Das Zim­mer mei­ner Toch­ter. Sie starb 1933. Nicht hier! Nicht hier!, schießt es ihr durch den Kopf. Sie schau­dert. Wie er es sag­te. Si­cher ist die Toch­ter auch durch – die ge­stor­ben, aber er wird nie dar­über spre­chen, und ich wer­de ihn auch nie zu fra­gen wa­gen. Nein, ich kann nicht in die­sem Zim­mer schla­fen, es ist grau­en­voll, un­mensch­lich. Er soll mir die Kam­mer sei­ner Be­die­ne­rin ge­ben, ein Bett noch warm vom Leib ei­nes wirk­li­chen Men­schen, der dar­in schlief. Ich kann hier nie schla­fen. Ich kann hier nur schrei­en …

      Sie tippt die Dö­schen und die Schäch­tel­chen auf dem Toi­let­ten­tisch an. Ver­trock­ne­te Cre­mes, krü­me­li­ger Pu­der, grün be­lau­fe­ne Lip­pen­stif­te – und sie ist seit 1933 tot. Sie­ben Jah­re. Ich muss et­was tun. Wie es jagt in mir – das ist die Angst. Jetzt, da ich auf die­ser In­sel des Frie­dens an­ge­langt bin, kommt mei­ne Angst her­vor. Ich muss et­was tun. Ich darf nicht so al­lein sein mit mir.

      Sie kram­te in ih­rer Ta­sche. Sie fand Pa­pier und Blei­stift. Ich wer­de den Kin­dern schrei­ben, Ger­da in Ko­pen­ha­gen, Eva in Il­ford, dem Bern­hard und dem Ste­fan in Broo­klyn. Aber es hat kei­nen Sinn, die Post geht nicht mehr, es ist Krieg. Ich wer­de an Sieg­fried schrei­ben, ir­gend­wie schmug­gle ich den Brief schon durch nach Moa­bit. Wenn die­se alte Be­die­ne­rin wirk­lich zu­ver­läs­sig ist. Der Rat braucht nichts zu mer­ken, und ich kann ihr Geld oder Schmuck ge­ben. Ich habe noch ge­nug …

      Sie hol­te auch das aus der Hand­ta­sche, sie leg­te es vor sich hin, das in Pa­ke­te ge­pack­te Geld, den Schmuck. Sie nahm ein Arm­band in die Hand. Das hat mir Sieg­fried ge­schenkt, als ich die Eva be­kam. Es war mei­ne ers­te Ge­burt, ich habe viel aus­hal­ten müs­sen. Wie er ge­lacht hat, als er das Kind sah! Der Bauch hat ihm ge­wa­ckelt vor La­chen. Alle muss­ten la­chen, wenn sie das Kind sa­hen mit sei­nen schwar­zen Rin­gellöck­chen über den gan­zen Schä­del und sei­nen Wulstlip­pen. Ein wei­ßes Ne­ger­ba­by, sag­ten sie. Ich fand Eva schön. Da­mals schenk­te er mir das Arm­band. Es hat sehr viel ge­kos­tet; al­les Geld, das er in ei­ner Wei­ßen Wo­che ver­dient hat­te, gab er da­für. Ich war sehr stolz, eine Mut­ter zu sein. Das Arm­band be­deu­te­te mir nichts. Jetzt hat Eva schon drei Mä­dels, und ihre Har­riet ist neun. Wie oft sie an mich den­ken mag, da drü­ben in Il­ford. Aber was sie auch den­ken mag, sie wird sich nie vor­stel­len, wie ihre Mut­ter hier sitzt, in ei­nem To­ten­zim­mer beim blu­ti­gen Fromm, der nur der Ge­rech­tig­keit ge­horcht. Ganz al­lein mit sich …

      Sie leg­te das Arm­band hin, sie nahm einen Ring. Sie saß den gan­zen Tag vor ih­ren Sa­chen, sie mur­mel­te mit sich, sie klam­mer­te sich an ihre Ver­gan­gen­heit, sie woll­te nicht dar­an den­ken, wer sie heu­te war.

      Da­zwi­schen ka­men Aus­brü­che wil­der Angst. Ein­mal war sie schon an der Tür, sie sag­te zu sich: Wenn ich nur wüss­te, sie quä­len einen nicht lan­ge, sie mach­ten es schnell und schmerz­los, ich gin­ge zu ih­nen. Ich er­tra­ge die­ses War­ten nicht mehr, und wahr­schein­lich ist es ganz zweck­los. Ei­nes Ta­ges krie­gen sie mich doch. Wie­so kommt es auf je­den Über­le­ben­den an, wie­so gra­de auf mich? Die Kin­der wer­den sel­te­ner an mich den­ken, die En­kel gar nicht, Sieg­fried dort in Moa­bit wird auch bald ster­ben. Ich ver­ste­he nicht, was der Kam­mer­ge­richts­rat da­mit ge­meint hat, ich muss ihn heu­te Abend da­nach fra­gen. Aber wahr­schein­lich wird er nur lä­cheln und ir­gen­det­was sa­gen, mit dem ich gar nichts an­fan­gen kann, weil ich ein rich­ti­ger Mensch bin, heu­te noch, aus Fleisch und Blut, eine alt ge­wor­de­ne Sara.

      Sie stütz­te sich mit der Hand auf den Toi­let­ten­tisch, sie be­trach­te­te düs­ter ihr Ge­sicht, das von ei­nem Netz von Fält­chen über­zo­gen war. Fält­chen, die Sor­ge, Angst, Hass und Lie­be ge­zo­gen hat­ten. Dann kehr­te sie wie­der zu ih­rem Tisch zu­rück, zu ih­ren Schmuck­sa­chen. Sie zähl­te, nur um die Zeit hin­zu­brin­gen, die Schei­ne im­mer wie­der durch; spä­ter ver­such­te sie, alle Schei­ne nach Se­ri­en und Num­mern zu ord­nen. Dann und wann schrieb sie auch einen Satz in dem Brief an ih­ren Mann. Aber es wur­de kein Brief, nur ein paar Fra­gen: Wie er denn un­ter­ge­bracht sei, was er zu es­sen be­kom­me, ob sie nicht für sei­ne Wä­sche sor­gen kön­ne? Klei­ne, be­lang­lo­se Fra­gen. Und: Ihr ging es gut. Sie war in Si­cher­heit.

      Nein, kein Brief, ein sinn­lo­ses, un­nö­ti­ges Ge­schwätz, dazu auch un­wahr. Sie war nicht in Si­cher­heit. Noch nie hat­te sie sich in den letz­ten grau­en­vol­len Mo­na­ten so in Ge­fahr ge­fühlt wie in die­sem stil­len Zim­mer. Sie wuss­te, sie muss­te sich hier ver­än­dern, sie wür­de sich nicht ent­wi­schen kön­nen. Und sie hat­te Angst vor dem, was aus ihr wer­den konn­te. Vi­el­leicht muss­te sie dann noch Schreck­li­che­res er­lei­den und er­tra­gen, sie, die schon ohne ih­ren Wil­len aus ei­ner Lore zu ei­ner Sara ge­wor­den war. Sie woll­te nicht, sie hat­te Angst.

      Spä­ter leg­te sie sich doch auf das Bett, und als ihr Gast­ge­ber um zehn Uhr ge­gen ihre Tür klopf­te, schlief sie so fest, dass sie ihn nicht hör­te. Er öff­ne­te die Tür vor­sich­tig mit ei­nem Schlüs­sel, der den Rie­gel zu­rück­schob, und als er die Schla­fen­de sah, nick­te er und lä­chel­te. Er hol­te ein Ta­blett mit Es­sen, setz­te es auf den Tisch, und als er da­bei die Schmuck­sa­chen und das Geld bei­sei­te­schob, nick­te und lä­chel­te er wie­der. Lei­se ging er aus dem Zim­mer, drück­te den Rie­gel wie­der her­um, ließ sie schla­fen …

      So kam es, dass Frau Ro­sen­thal in den ers­ten drei Ta­gen ih­rer »Schutz­haft« kei­nen ein­zi­gen Men­schen zu se­hen be­kam. Sie ver­schlief stets die Nacht, um zu ei­nem schreck­li­chen, angst­ge­quäl­ten Tag zu er­wa­chen. Am vier­ten Tage, halb von Sin­nen, tat sie dann et­was …

      1 Um­gangs­sprach­li­che Ab­kür­zung für Schutz­po­li­zist bzw. Schutz­po­li­zei <<<

      11. Es ist immer noch Mittwoch

      Die Gesch hat­te es doch nicht über sich ge­bracht, den klei­nen Mann auf ih­rem Sofa nach ei­ner Stun­de zu we­cken. Er sah so be­mit­lei­dens­wert aus, wie er dalag in sei­nem Er­schöp­fungs­schlaf, die Fle­cke auf sei­nem Ge­sicht fin­gen jetzt an, rot­blau an­zu­lau­fen. Er hat­te die Un­ter­lip­pe vor­ge­scho­ben wie ein trau­ri­ges Kind, und manch­mal zit­ter­ten sei­ne Li­der, und sei­ne Brust hob sich in ei­nem schwe­ren Seuf­zer, als wol­le er gleich jetzt in sei­nem Schlaf los­wei­nen.

      Als sie ihr Mit­ta­ges­sen fer­tig hat­te, weck­te sie ihn und gab ihm zu es­sen. Er mur­mel­te et­was wie einen Dank. Er aß wie ein Wolf und warf da­bei Bli­cke auf sie, aber er sprach mit kei­nem Wort von dem, was ge­sche­hen war.

      Schließ­lich sag­te sie: »So, mehr kann ich Ih­nen nicht ge­ben, sonst bleibt für Gu­stav nicht ge­nug. Le­gen Sie sich nur auf das Sofa und schla­fen Sie noch ein biss­chen. Ich wer­de dann selbst mit Ih­rer Frau …«


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