Gesammelte Werke: Romane, Erzählungen & Aufsätze. Thomas Wolfe
von Pap Reinharts Vaterhaus lugten aus einer dunklen Plantagengruppe hervor. Die fetten Kühe der Molkereifarm grasten langsam auf den weiten Triften. Und weiter unten im Baum- und Buschversteck lagen die üppigen Äcker von Judge Webster Tayloes Gut Lunns Cove. Die Straße war mit einer weißen Staubdecke dicht belegt, sie wand sich auf die Talsenke, kreuzte einen Bach. Ins Bachbett waren große, weiße Wackersteine gelegt; von Stein zu Stein setzend sprangen sie hinüber. Ein junger Bursch fuhr vorbei, die Milchkannen schepperten auf seinem Wagen. Er grüßte mit einer langsamen Armgebärde, ein freundliches Grinsen im sonnverbrannten Gesicht. Eine Frau auf einem Acker richtete sich auf und starrte, die Augen mit der Hand beschattend, zu ihnen herüber. In einer Wiese mähte ein Mann mit blinkender Sense das hohe Gras, wie ein zorniger Gott, der seine Feinde fällt.
Sie gingen ein Stück am Rand der Talmulde entlang, bogen von der Straße ab, stiegen wieder bergan, gingen durch pfadloses, offnes Gelände, durch starkriechendes Ampferkraut und stachliges Klettengestrüpp, kamen zu einer Wiese am Waldrand, bachdurchflossen, goldgelb besprengt von duftendem Löwenzahn.
»Laß uns hier rasten!« schlug Eugen vor.
Sie lagen nebeneinander im hohen Gras. Sie lagen auf dem Rücken und blickten durch lichtgrünes Gezweig in den südmeerblauen Himmel mit den treibenden Wolkenflotten. Der nahe Bach rauschte wie die Stille. Die Stadt lag jenseits des Bergs in einer andern, unvorstellbaren, völlig vergeßnen Welt.
»Wie spät ist's?« fragte Eugen. Denn sie waren dorthin gekommen, wo es keine Zeit mehr gibt. Laura sah auf ihre Armbanduhr. Ihr wunderbares Handgelenk.
»Ei!« rief sie überrascht aus, »erst halb eins!«
»Was frag ich nach der Uhr«, sagte er heiser, faßte ihre schöne Hand und küßte sie. Ihre langen, kühlen Finger umschlossen seine Hand. Sie zog sein Gesicht an ihren Mund.
Sie lagen umschlungen auf dem paradiesischen Zauberteppich. Ihre grauen Augen waren tiefer und klarer als ein klarer Teich, er küßte die Sommersprossen ihrer zarten Haut, er starrte verehrungsvoll auf ihre kecke Stupsnase. Er beobachtete das Spiel des Lichts, der tanzenden Sonnenkringel und des widerspiegelnden Scheins der Bachkaskade auf ihrem Gesicht. Die ganze zaubrische Welt – Blumen und Feld und Himmel und Wald und Berg und die süßen Laute und die Augenglücke und die Düfte der Erde – sie wuchs in ihn hinein, wurde eine einzige Stimme in seinem Herzen, eine Sprache in seinem Hirn, harmonisch, strahlend und ganz – ein einziger, leidenschaftlicher, lyrischer Laut.
»Liebste, Süßeste, entsinnst Du Dich noch an gestern nacht?« fragte er zärtlich, als ob er Kindheitserinnerungen auskramte.
»Ja«, sagte sie und umhalste ihn, »glaubst Du, ich könnte es vergessen?«
»Weißt Du noch, worum ich Dich bat?« forschte er inständig weiter.
»Ach, was können wir nur tun? Was können wir nur tun?« stöhnte sie leis. Sie wandte ihr Gesicht ab, schlug einen Arm vor die Augen.
»Was ist?! Was ist los, Liebe?«
»Eugen, mein Lieber, Du bist ja nur ein Kind! Und ich bin eine erwachsne Frau.«
»Du bist erst einundzwanzig«, sagte er. »Das sind fünf Jahre Unterschied. Das ist nichts.«
»Ach«, sagte sie. »Du weißt nicht, wovon Du sprichst. Es ist ein Riesenunterschied.«
»Wenn ich zwanzig bin, wirst Du fünfundzwanzig sein; wenn ich sechsundzwanzig bin, wirst Du einunddreißig sein; wenn ich achtundvierzig bin, wirst Du dreiundfünfzig sein. Was macht das? Nichts! Nicht das geringste!« sagte er verächtlich.
»Alles in der Welt!« sagte sie. »Alles! Wenn ich sechzehn wäre und Du einundzwanzig, dann machte es nichts. Aber Du bist ein Junge, und ich bin eine Frau. Wenn Du ein junger Mann sein wirst, werde ich 'ne alte Jungfer sein; wenn Du alt wirst, werde ich am Sterben sein. Wie kannst Du wissen, was Du in fünf Jahren treiben wirst? Du hast gerade auf der Universität angefangen. Du hast keine Pläne. Du weißt noch nicht, was Du mit Deinem Leben anfangen willst.«
»Ja, ja, das weiß ich sehr wohl!« gellte er wütend. »Ich werde Jurist und geh in die Politik. Vielleicht …« fügte er mit düstrem Vergnügen hinzu, »wird es Dich dann gereuen, wenn ich mir einen Namen gemacht habe!« Bitter-freudig sah er seine einsame Berühmtheit voraus. Gouverneurspalast. Vierzig Zimmer. Allein. Allein.
»Also Du wirst Jurist werden, schön«, sagte Laura. »Und Du wirst die ganze Welt bereisen. Und ich soll dasitzen und auf Dich warten, und heiraten soll ich auch nie. Armer kleiner Junge!« Sie lachte leis. »Du weißt ja gar nicht, was Du vorhast.«
Er sah sie an, Verzweiflung und Elend im Gesicht. Die Sonne hatte ihren Glanz verloren.
»Und Dir ist es gleich!« würgte er hervor. »Und Dir ist es gleich!« Er wandte sein Gesicht weg. Sie sollte nicht sehn, daß Tränen in seinen Augen standen.
»Ach Du Lieber, Du Liebster! Mir ist es gar nicht gleich. Mir macht es ungeheuer viel aus. Aber das Leben ist anders, als Du denkst. Nicht so romanhaft. Was Du Dir da vorstellst, klingt wie eine schöne Geschichte. Siehst Du denn nicht, daß ich eine erwachsene Frau bin? In meinem Alter, mein Lieber, denken die Mädchen meistens ans Heiraten. Was war, wenn ich auch dran dächte?«
»Heiraten!« Das Wort fuhr ihm aus dem Mund, aus dem gähnenden, klaftertiefen Abgrund seines Entsetzens, als hätte sie das Abscheulichste beim Namen genannt, das Unaussprechlichste vorgeschlagen. Dann faßte er sich. Da sie das Ungeheure erwähnt hatte, nahm er es ohne weiteres als eine Tatsache hin. Er war so.
»So! Das ist's!« tobte er zornig. »Du willst heiraten! Aha! Du hast Kerle, was? Du gehst mit ihnen aus, was? Und Du weißt das die ganze Zeit und hältst mich zum Narren!«
Nackt, Brust an Brust rang er mit dem Schrecken. Er geißelte sich. Er erfuhr in diesem Augenblick, daß die ganze, gräßliche, fratzenhafte Grausamkeit des Lebens nicht im Entlegnen und Phantastischen, sondern im Einfachen, alltäglich Möglichen liegt … im Entsetzen der Liebe, des Verluste, des Heiratens, den neunzig Sekunden Verrat im Dunklen.
»Du hast Kerle, was? Sie dürfen Dich anfassen. Sie streicheln Deine Beine, tasten Deine Brüste ab, sie …« Es verschlug ihm die Stimme, so sehr würgte der Schmerz.
»Nein! Aber nein! Lieber! Das hab ich doch gar nicht gesagt!« Sie richtete sich auf und faßte seine beiden Hände. »Es ist doch nichts Außergewöhnliches, daß man sich verheiratet. Die meisten Menschen tun es. Aber mein Lieber! Mach doch so kein verzweifeltes Gesicht! Nichts ist geschehn! Nichts! Nichts!«
Er umarmte sie wild. Er konnte nicht sprechen. Er begrub sein Gesicht an ihrem Hals.
»Laura! Liebste! Süße! Laß mich nicht allein! Ich bin allein gewesen, ich bin immer allein gewesen!«
»Allein sein, das willst Du doch, mein Lieber. Du wirst immer allein sein wollen. Anders könntest Du das Leben überhaupt nicht ertragen. Du würdest meiner bald müde werden. Unendlich müde. Du wirst vergessen, daß Du mich je gekannt hast. Vergessen, vergessen.«
»Vergessen!! Ich werde nie vergessen! Dazu werd ich nicht lang genug leben.«
»Und ich werd nie einen andern lieben! Und Dich nie verlassen. Und immer auf Dich warten! Ach, Du Kind, Du Kind!«
Sie umschlangen einander im Wunder dieses strahlenden Augenblicks, hier auf dieser verzauberten Insel, wo die Welt so still war. Sie glaubten alles, was sie sagten. Und wer könnte behaupten – welche Entzauberung auch immer gefolgt sein mag –, daß wir je der Verzauberung vergäßen! Daß wir auf dieser bleiernen Erde je des Apfelbaums, der Lieder und des Golds vergäßen? Fern, jenseits dieses zeitlosen Tals pfiff schrill und gespenstisch ein Zug, der nach Osten fuhr. Wie eine bunte Rauchsäule, wie das Wrack einer Wolke trieb das Leben dahin. Ihre Welt ward wieder eine einzige, singende Stimme. Sie waren jung und würden nicht sterben. Dies würde ewig dauern.
Er küßte sie auf die leuchtenden Augen. Er verwuchs mit ihrem jungen Mänadenleib, sein Herz schlug köstlich an ihre schmalen, festen Brüste. Sie war sanft und schmiegsam wie eine Weidengerte in seiner Hand. Sie war schnell wie ein Vogel, huschender noch als die tanzenden Lichter auf ihrem Gesicht. Er hielt sie fest. Ganz fest, damit sie sich nicht wieder in einen Baum verwandle oder im Wald verschwände