Gesammelte Werke: Romane, Erzählungen & Aufsätze. Thomas Wolfe

Gesammelte Werke: Romane, Erzählungen & Aufsätze - Thomas  Wolfe


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hallte es gemächlich auf der Straße. Mistress Goulderbilts Milchgaul Nummer 6, eine stattliche bräune Stute, zog den kremfarbnen, glasklinkernden, mit extrasahniger, teurer Flaschenmilch vollbeladnen Molkereiwagen. Der Fahrer, der gesund nach frischem Schweiß und Milch roch, eine Haut wie Milch und Blut hatte, war ein junger Farmerbursch. Zwölf Kilometer war er von Biltburn her über die sternhellen betauten Felder und durch die Wälder zur Stadt gefahren.

      Im Pisgah-Hotel, gegenüber dem Bahnhof, klinkte die letzte Tür leis ins Schloß. Miss Berenice Redmond gab dem Nachtportier acht Eindollarnoten und ging endgültig zu Bett mit dem Ersuchen, vor ein Uhr nicht gestört zu werden. Eine rangierende Lokomotive rasselte lärmend auf den Geleisen. Über die Biltburn-Straßenkreuzung ging Tom Cline, mit gleichmäßig-müdem Atem vor sich hinpfeifend. Nummer 3 hatte bereits 142 Zeitungen zugestellt, er hatte nur noch die hölzernen Stufen zur Eagle Crescent Bank zu ersteigen und dort die acht Häuser zu bedienen. Befangen blickte er über das planlose Auf und Ab des hügligen Negerviertels hinweg nach dem Bergrand im Osten. Die Sterne im perlgrauen Himmel sahen wie ertrunken aus. Nicht mehr viel Zeit übrig, dachte Nummer 3. Er hatte ein fahles Gesicht, Hängebacken mit dichtem, blondem Bartflaum, ein langes, volles, fliehendes Kinn. Er leckte sich die volle aufgesprungne Unterlippe der Länge nach ab.

      Ein Siebensitzer-Hudson, vier Zylinder, Modell 1910, schoß mit lautem Motorgeknatter vom Bürgersteig vor dem Bahnhof los, schlingerte über den ebnen Platz am Fuß der South End Avenue – wo Neger zu pennen und Feuerwehrleute zu üben pflegten – und sauste mit 80-km-Geschwindigkeit auf die Stadt zu. Der Bahnhof erwachte; in den leeren Schuppen hallte es, helle Hammerschläge auf Waggonräder, metallisches Absatzklappern auf den Fliesen. Verschlafen, mit träg-sehnsüchtigen Bewegungen goß ein Negerweib Wasser auf die Fliesen des Wartesaals und zog den Fußboden dann mit einem grauen Putzlumpen auf.

      Es war 5 Uhr 30. Ben hatte das Haus um 3 Uhr 25 verlassen. In 40 Minuten würde Gant aufwachen, sich ankleiden, sein Morgenfeuer schüren.

      »Ben«, sagte Harry Tugman, als sie aus dem Zeitungsbau heraustraten, »wenn Jimmy Dean mir nochmal in den Druckersaal kommt und Scherereien macht, dann kann er sich jemand anders suchen, der ihm sein Lauseblättchen druckt. Teufel noch eins! Ich krieg jeden Tag 'ne Stelle an 'ner großen Zeitung.«

      »Ist er heut nacht heruntergekommen?« fragte Ben.

      »Ja … und schnell wieder raufgegangen«, sagte Harry Tugman.

      »Ich sagte ihm, er solle sein Schwänzchen nach oben tragen.«

      »Was hat er gewollt?« erkundigte sich Ben.

      »Er sagte: › bin Chefredakteur, ich!‹ – ›Und wenn Sie des Präsidenten Schneuzfetzen sind‹, sagte ich, ›dann ist es mir genau so sauwurscht. Wenn Ihnen was dran liegt, daß heut 'ne Zeitung gedruckt wird, dann scheren Sie sich aus dem Druckersaal!‹ Und glaub mir, da hat er sich schleunigst verzogen.«

      In der kühlen, perlblauen Dunkelheit bogen die beiden ums Postamt an der Ecke und steuerten schräg über die. Straße auf den .»Uneeda Lunch Nr. 3« zu. Dieses Restaurant, genannt »der Fettlöffel«, war ein kleines Bohnenpeißel, vier Meter Straßenfront, zwischen einen Optikerladen und einen griechischen Schuhputzersalon eingeklemmt.

      Drinnen saß Dr. Hugo McGuire auf einem hohen Barstuhl, einen Teller brauner, nierenförmiger Bohnen vor sich, die er geduldig eine nach der andern mit der Gabel anspießte. Ein scharfer Geruch von Whisky hing um ihn. In den feisten, gewandten Metzgerhänden hielt er unbeholfen die Gabel. Sein Gesicht mit dem schweren Unterkiefer hatte große braune Bartstoppelflecken. Er drehte sich auf dem Barstuhl um und stierte eulenhaft, als die beiden eintraten. Schließlich gelang es ihm, den schwanken Blickstrahl seiner geröteten Stielaugen auf Ben zu richten.

      »Hallo, mein Junge«, bellte er gutmütig. »Was kann ich für Dich tun?«

      »Um Gottes willen«, sagte Ben geringschätzig lachend mit einem Kopfschnick zu Harry Tugman, »nun hör Dir das an, bitte!«

      Sie hatten kaum am unteren Ende Platz genommen, als der Leichenbestatter Horse Hines in der Tür erschien. Obschon Horse Hines beileibe kein magerer Mann war, sah er dennoch wie ein Skelett in schwarzem Gehrock aus. Wie ein Pferdemaul klaffte in dem weißen, steifen Gesicht ein langer, grobschlitziger Mund; sein starres, geschäftlich-verbindendes Lächeln entblößte große, gelbe Pferdezähne.

      »Gentlemen, Gentlemen«, sagte er ohne ersichtlichen Grund und rieb sich die langen Hände, als wäre Frostwetter. Das Fleisch an seinen Fingern rasselte hohl, als klängen alte Knochen aneinander.

      Dr. Coker, Tuberkulosespezialist, genannt der »Lungenhai«, der mit unablässigem, sardonischem Interesse McGuires Bohnenjagd verfolgt hatte, nahm nun die lange Zigarre aus dem satanischen Gesicht, hielt sie zwischen den fleckigen Fingern und tippte seinen Zechkumpan auf die Schulter.

      »Komm, Hugo, gehn wir!« sagte er ruhig. Er deutete feixend auf den Leichenbestatter. »Es macht 'nen üblen Eindruck, wenn wir mit dem da zusammen gesehn werden.«

      »'Morgen, Ben«, sagte Horse Hines und setzte sich weiter unten an die Schankbar. »Zu Hause alles in Ordnung?« erkundigte er sich leis.

      Ben warf ihm einen düstern Seitenblick zu, wandte sich mit einem schnellen, bittern Lippenflackern zum Barkellner.

      »Herr Doktor«, fragte Harry Tugman mit dem servilen Respekt des Laien vor dem Medizinmann, »was verlangen Sie eigentlich für 'ne Operation?«

      »Operation? Was?« bellte McGuire zurück. Es war ihm gerade geglückt, eine Bohne aufzuspießen.

      »Blinddarm rausnehmen«, sagte Harry Tugman, denn ihm fiel sonst nichts ein.

      »300 Dollar, wenn's in den Bauch 'reingeht«, sagte McGuire. Er verschluckte sich und hustete.

      »Gib acht, Hugo«, warnte Coker mit seinem gelben Teufelsgrinsen, »sonst ersäufst Du in Deinen eignen Absonderungen wie die alte Lady Sladen.«

      »Was?« rief Harry Tugman. »Ist Mistress Sladen gestorben?« Er dachte eifersüchtig an die versäumte Reportage.

      »Ja, gestern abend spät«, antwortete Coker.

      »Guter Gott, tut mir leid«, sagte Harry Tugman erleichtert.

      »Ich habe gerade die alte Dame aufgebahrt«, berichtete Horse Hines zartfühlend. »Ein Haufen Haut und Knochen!« Er seufzte mitleidig. Seine hartgesottenen Augen wurden feucht.

      Ben wandte ihm das Gesicht zu. Er sah aus, als sei ihm speiübel.

      »Joe«, sagte Horse Hines zum Kellner, »gib mir 'nen Kumpen von der Einbalsamierungsflüssigkeit da!« Er deutete mit dem langen Pferdekinn auf die Kaffeeurne.

      »Um Gottes willen!« murmelte Ben angewidert. Dann platzte er heraus. »Verdammt, waschen Sie sich eigentlich die Hände, ehe Sie herkommen?«

      Ben war zwanzig; niemand dachte daran, daß er so jung war.

      »Möchtest Du nicht ein Stück kalten Schweinebraten, mein Junge?« fragte Coker mit seinem gelben Teufelsgrinsen.

      Ben fauchte im Rachen, er preßte die Hand auf den Magen.

      »Was hast Du denn, Ben?« lachte Harry Tugman und schlug ihm auf den Rücken.

      Ben kletterte vom Stuhl, nahm seinen Kaffeekumpen und den Teller mit dem braunen Stück Mince-Pie und setzte sich auf die andere Seite von Harry Tugman. Alle lachten. Mit finsterem Seitenblick musterte Ben den Doktor McGuire.

      »Bei Gott, Tug«, sagte er zu Harry Tugman, »da sitzen wir wahrhaftig mitten unter ihnen.«

      »Nun hör Dir mal den Kerl an!« sägte McGuire zu Coker.

      »Nicht aus der Art geschlagen, was? Ich war bei seiner Geburt zugezogen, ich hab ihn durch den Typhus gebracht, hab seinem Alten über siebenhundert Räusche weggeholfen und bin für meine Mühen auf achtzehn verschiedne Weisen Sohn-einer-Hündin geschimpft worden. Aber wenn nur eins in der Familie 'n bißchen Bauchweh hat«, fügte er stolz hinzu, »dann sollst Du mal sehn, wie sie zu mir gelaufen kommen. Stimmt's, Ben?« fragte er mit einem Kopfschnicken.

      »Ach, nun hör Dir das an, bitte«, lachte Ben gereizt und barg sein spitzes Gesicht in seinem Kaffeekumpen. In seiner Bitterkeit


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