Gesammelte Werke: Romane, Erzählungen & Aufsätze. Thomas Wolfe

Gesammelte Werke: Romane, Erzählungen & Aufsätze - Thomas  Wolfe


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Geistliche predigte eine geraume Weile, der große Moment war da: die Musik blies einen Tusch und der kleine Angestellte im Kramwarenvertrieb bekam die Braut. Dann wieder Verwirrung, Glückwünsche, Hysterie. Daisy lag schluchzend in den Armen einer entfernten Kusine, Berti Pentland, die mit ihrem Gatten, dem Inhaber einer Lebensmittelfirma mit vielen Filialen, aus einer Stadt in Süd-Carolina zur Feier gekommen war. Diese beiden hatten viele Geschenke gebracht und als etwas Besondres eine Riesenwassermelone. Beths Freude wurde nachträglich verdorben; sie fand heraus, daß sie das Kleid, an dem sie Wochen im voraus gearbeitet hatte, in der Aufregung verkehrt herum angezogen hatte.

      Daisy verschwand nun fast ganz aus Eugens Leben. Er sah sie in den folgenden Jahren auf kurzen, immer seltner werdenden Besuchen. Der kleine Angestellte im Kramwarenvertrieb hatte sich zu der einzigen gewagten Gebärde seines ganzen Lebens aufgerafft. Er verließ seine baumwollstaubige Vaterstadt, verzichtete auf die langen trägen Geschäftsstunden im Krämereivertrieb, auf den gemütlichen Tratsch mit Baumwollfarmern und Stadtleuten, den er von Kind auf so gern hatte. Er nahm eine Anstellung als Handlungsreisender in der Lebensmittelproduktenbranche an. Sein Standort war die Stadt Augusta im Staate Georgia. Sein Arbeitsgebiet erstreckte sich weit in den Süden bis an die mexikanische Grenze. Diese Entwurzelung aus angestammtem Nährboden, dies Abenteuer in Neuland, diese Bereitschaft, es wirtschaftlich und gesellschaftlich vorwärts zu bringen, war Joe Gambells Hochzeitsgeschenk für Daisy … ein sehr kühnes Unterfangen, das allerdings schon von Anfang an gefährdet war durch Selbstmißtrauen und abergläubische Angst vor neuer Umgebung.

      »Eine Stadt wie Henderson gibt es auf der Welt nicht noch mal«, behauptete er stumpf von jener aus rotem Backstein, Unwissenheit, Verleumdungssucht und Staub bestehenden Zuflucht, in deren Strahlungskreis er herangewachsen war.

      Trotzdem verließ er Henderson und ging nach Augusta, wo er mit Daisy sein neues Leben in einem Lodging House begann. Sie war ein schlankes, leicht errötendes Mädchen, das gewissenhaft und akademisch schön, mit einem reißerischen Anschlag, aber völlig phantasielos Klavier spielte. Eugen konnte sich nie gut an sie entsinnen.

      Im Frühherbst des Hochzeitsjahres unternahm Gant eine Reise nach Augusta und nahm Eugen mit. Die beiden waren höchst aufgeregt und gespannt. Auf dem verschlafnen Umsteigebahnhof Spartanburg mußten sie lange warten; dann rollten sie in den abgenutzten Wagen der Nebenlinie, die nach Augusta führt, durch die ausgetrocknete Gegend. Pinienwälder lagen am Fuß der Berge. Alles und jedes in der Landschaft tranken sie mit durstigen Augen ein. Gants Wanderseligkeit war mächtig erwacht. Für Eugen war das Reisen etwas Neues; die Fahrt nach St. Louis war ihm längst zur blassen Unwirklichkeit geworden. Eine Vision, ein herrliches vorgefaßtes Bild des üppigen Südens, brannte in ihm seltsamer noch als das Phantasieheimweh nach dem unbekannten hohen Norden, nach dessen strengen Wintern, Stürmen und Dunkelheiten er sich oft mit jener Leidenschaft sehnte, die vielleicht nur der Südländer kennt. Echten Winter gab es in Altamont nicht; der Schnee trieb ins Gebirg, blieb ein paar Tage liegen, und man mußte die Gelegenheit zum Eislaufen und Schlittenfahren beim Schopf packen, ehe es dazu zu spät war.

      So kam es denn, daß Eugen die Stadt Augusta nicht in den Farbtönen der schnöden Wirklichkeit sah, sondern wie einer, dem sich ein Fenster ins Feenland auftut, wie einer, der ein Leben im Gefängnis gelebt hat und freigelassen die Erde und das Leben im rosenen Sonnenaufgangslicht erblickt, wie einer, der im fabulösen Bilderreich von Büchern gelebt hat, eine Reise tut und die Fortsetzung und Wahrwerdung dieser Fabelwelt erlebt. Mit frischen, klaren Kinderaugen sah er eine traumhafte Verzauberung.

      Sie blieben zwei Wochen. Im Gedächtnis bewahrte er vor allem die braunen Hochwasserspuren an den Häusern, denn die Stadt hatte kürzlich eine Überschwemmung überstanden, und die Flut war bis über die Erdgeschosse gestiegen. Dann: die breite Hauptstraße; eine würzig duftende Drogerie mit einer leuchtenden Sodafontäne war dort. Dann: die Hügel und Felder um Aiken in Süd-Carolina, wo er umsonst nach John D. Rockefeller suchte, einem legendären Prinzen, der dem Hörensagen nach dort Sport trieb, und wo er sich wunderte, daß zwei Staaten ohne sichtbare Zeichen oder natürliche Trennungslinien aneinandergrenzen können. Schließlich die Engreniermaschine, wo er zusah, wie riesenhafte, unförmige Baumwollballen säuberlich in halb so große Würfel zusammengepreßt wurden.

      Einmal hatten ihn ein paar Kinder auf der Straße wegen seiner langen Locken verhöhnt; in einem Wutausbruch hatte er sie maßlos und glorreich beschimpft. Einmal hatte er sich über seine Schwester geärgert Und war in seinem Jähzorn kurzerhand davongerannt. Er lief stundenlang einer Landstraße am Flußufer und durch Baumwollfelder nach, ins Abenteuer hinein. Gant holte ihn auf einem geliehenen Wagen ein.

      Sie gingen ins Theater; es war eines der ersten Stücke, die er sah, ein biblischer Stoff: die Geschichte von Saul und Jonathan. Von Szene zu Szene flüsterte er Gant die Ereignisse, die da eintreten würden, ins Ohr, eine Vorsichtsmaßnahme, die den Alten höchlich belustigte, denn er erzählte monatelang davon.

      Kurz ehe sie nach Hause abreisten, gab Joe Gambell in einem Anfall von Mißlaune seine Stellung auf und kündigte seine bevorstehende Rückkehr nach Henderson an. Sein Abenteuer hatte genau drei Monate gedauert.

      XIII

      In den folgenden Jahren, bis er elf oder zwölf Jahre alt war und nicht mehr auf eine Kinderfahrkarte mitgenommen werden konnte, reiste Eugen mit Eliza in den reichen, geheimnisvollen Süden. Eliza wurde während ihres ersten Winters in Dixieland von schwerem Rheumatismus befallen; ihr Körper war aufgedunsen, der Doktor diagnostizierte ein Nierenleiden. So begann sie – auf der Suche nach Gesundheit und unklar auch auf der Suche nach Reichtum – ausgedehnte, wenn auch keineswegs großzügige Reisen nach Florida und Arkansas zu machen.

      Sie äußerte sich stets sehr hoffnungsvoll über die Möglichkeit, in einem tropischen Winterkurort ein zweites Boardinghouse aufzumachen und so im Sommer ihr Haus in Altamont, im Winter das im warmen Süden zu führen. Im Winter vermietete sie nun Dixieland auf ein paar Monate, manchmal auch auf ein Jahr, obschon sie alsdann keineswegs daran dachte, sich die einträgliche Kursaison im Sommer entgehen zu lassen. Sie vermietete, mehr oder weniger absichtlich, an unerfahrene Frauen, die sich abenteuernd im Geschäft der Pensionsinhaberin versuchten, für ein oder zwei Monate im voraus bezahlten, aber weder Mittel noch Ausdauer hatten, ein Unternehmen wie Dixieland außerhalb der Kurzeit länger zu halten. Wenn Eliza dann von ihrer Reise zurückkehrte, war entweder ein fälliger Termin nicht erledigt oder irgendein andrer Punkt im Kontrakt nicht eingehalten worden. Sie rückte triumphierend in die Schlacht, erzwang den Eintritt in die Burg mit Hilfe von Polizisten, Detektiven, mit Befugnissen, Vollmachten, Vorladungen und all der anderen schweren Artillerie juristischer Kriegführung und riß rachsüchtig ihr Vermögen wieder an sich.

      Ihre Reiseziele lagen stets im Süden. Den Norden hielt sie, obschon sie ihn öfters zu erkunden drohte, für verdächtig. Nicht etwa, daß sie wegen des verjährten Bürgerkriegs gegen Land und Leute dort eine feindselige Gesinnung hegte, aber sie empfand Furcht, Mißtrauen, Fremdheit: der echte Yankee, der Mensch aus den Nordoststaaten der Union, war ein Ausländer für sie. So reiste sie also in den Süden, in jenen Süden, der wie die dunkle Helena in Eugens Blut brannte, und sie nahm ihn stets mit. Er schlief noch immer in ihrem Bett.

      Eugens Gefühl für den Süden galt nicht so sehr dem Historischen. Es war vielmehr Kern und Sehnsucht seiner romantischen Natur. In ihm war jene grenzenlose und unerklärliche Trunkenheit, jener Magnetismus des Blutes, der manche Menschen ins Herz der Hitze und darüber hinaus in die smaragdene Kälte des Südpols treibt, so wie es dem Romantiker Coleridge in dem unvergleichlichen »Rime of the Ancient Mariner« ging, einem Gedicht, über das nichts geht. Diese Sehnsucht nach dem Süden wurde fraglos gesteigert durch das, was er gelesen und geträumt hatte. Dazu kam, daß der Geschichtsunterricht in der Schule eine Gloriole um die Gegend wob: da hörte er von dem »guten alten Süden« in jenen »guten alten Zeiten«, wo Leute noch in sogenannten »Herrenhäusern« wohnten, wo die Sklaverei eine von dauerndem Banjogestrumm und Schiebetänzen begleitete Wohlfahrtseinrichtung war, wo alle weißen Frauen rein, adlig und schön und alle weißen Männer kühne, todverachtende Kavaliere waren. Jahre später, als Eugen längst mit Widerwillen an diesen billigen Schwindel dachte, tat er immer noch so, als sei er dem Süden fanatisch ergeben, und entschuldigte die Tatsache, daß er in den Nordstaaten wohnte, mit Gründen der Notwendigkeit. Schließlich


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