Gesammelte Werke: Romane, Erzählungen & Aufsätze. Thomas Wolfe
Es war ja nur Spaß! Hat er wirklich geglaubt«, – sie redete ihn dann stets in der dritten Person an – »es war Ernst? Nein, nein! Ei, er ist ja stark wie ein junges Bullchen, ein richtiger kleiner Riese ist er, ich hab Angst gehabt, die Mauer würde einbrechen! Ja, ja …« – und nun mimte sie Eliza, um ihn zum Lachen zu bringen – »hm, wieso! Was soll das heißen? Willst Du sofort gehorchen, Kind! Das ist gute Suppe, sehr gute Suppe ist das …« Und er lachte gegen seinen Willen, unter Seufzern, denn diese Versöhnungen waren ihm noch qualvoller als der Schimpf.
Später, wenn er sich ein wenig beruhigt hatte, schickte sie ihn ins Lädchen und ließ ihn Pickels, Törtchen, etwas Gutes zu trinken holen. Er ging mit rotgeweinten Augen, Tränenspuren auf den Wangen, blieb plötzlich auf der Straße stehen und fragte sich verzweifelt, brennend vor Scham, warum, wieso, weswegen dieses Unheil über ihn hereingebrochen sei.
Unablässig haßte Helene alles, was sie langweilte, und jegliche Respektabilität. Trotzdem war sie im Grund eine ausgesprochen konventionelle Person. Das gelegentlich Vulgäre an ihr war nur Ausdruck ihrer Vitalität. Sie war unschuldig wie ein Kind; selbst die einfachsten Bosheiten verstand sie nicht. Sie hatte mehrere Verehrer; einfache, gradsinnige, ländliche Burschen, die schwer soffen. Einer, ein hagerer, alkoholischer Stadtgeometer mit hochrotem Gesicht, der aus Altamont stammte, betete sie an. Ein anderer, ein lachender blonder Hüne, kam von den Kohlenfeldern von Tennessee. Wieder ein andrer, ein junger Mann aus Süd-Carolina, stammte aus demselben Städtchen wie Daisys Verlobter.
Diese Burschen – Hugh Parker, Jim Phelps, Joe Cathcart – waren ihr treu ergeben. Sie liebten die unermüdliche, dominierende Energie an ihr, ihre eindringliche Sprachfertigkeit ihre große Aufrichtigkeit, ihre tiefe Güte. Sie spielte und sang für sie, setzte ihre ganze Persönlichkeit ein, um sie zu unterhalten. Sie brachten ihr Schachteln Konfekt und kleine Geschenke, waren eifersüchtig aufeinander, aber einig in der Behauptung, sie sei »Ein feiner Kerl«.
Auch Whisky pflegten sie ihr mitzubringen. Sie hatte sich das Trinken ein bißchen angewöhnt. Ein Schlückchen regte ihr fiebriges Wesen stark an, elektrisierte ihr Blut, erfrischte sie, gab ihrer Energie etwas Hektisches, Ruckweises. Sie nippte an der Flasche, trank nie viel auf einmal, war oft leicht angeheitert, nie aber richtig beschwipst oder gar betrunken.
Sie machte kein Hehl aus der Sache: »Ich trink 'nen Whisky, wenn's einen gibt«, sagte sie.
Lebenslustige junge Halbweltweiber mochte sie fast immer gern. Das Verzehrende, Gefährliche, der Humor und die Freizügigkeit des eleganten Lebens zogen sie magnetisch an. Der Kurort wimmelte im Sommer von Liebesabenteuerinnen, die der strengen Sonntagszüchtigkeit der Dörfer, der sonntäglichen Lust sturer Gatten entflohen waren. Helene mochte Leute, die, wie sie sagte, »dann und wann 'nen Whisky brauchen«.
Sie befreundete sich mit Mary Thomas, einer jungen, flotten, hochbeinigen Kokotte aus Kentucky; sie war Maniküre in einem der großen Hotels in Altamont.
»Mich interessieren zwei Sachen«, sagte Mary, »am Gockel der Du-Weißt-Doch und an der Henne die Wie-Heißt-Schon.« Sie hatte ein lautes, ansteckendes Lachen. Sie wohnte in Dixieland, hatte ganz oben ein kleines Zimmer mit einer Schlafaltane. Eugen hatte ihr einmal Zigaretten geholt; sie stand in einem dünnen durchsichtigen Unterrock gegen das Licht, ihre langen wollüstigen Beine zeichneten sich stark ab.
Mary schenkte Helene Kleider, Hüte, Seidenstrümpfe. Manchmal tranken sie zusammen. Mit humoriger Gefühlsduseligkeit verteidigte Helene die Freundin.
»Na, sie macht wenigstens kein Hehl daraus. Es liegt ihr nichts dran, ob's die Leut' wissen.«
Oder: »Sie ist nicht schlimmer als die keuschen Susannen. Aber ehrlicher ist sie, das steht fest.«
Oder, durch eine versteckte Anspielung aufgebracht: »Was wissen Sie denn tatsächlich von ihr? Nehmen Sie sich vor den Leuten in acht mit diesem Gerede, sonst fallen Sie mal schwer dabei rein.«
Trotzdem vermied sie es, sich öffentlich mit Mary zu zeigen. Ja, ungereimterweise machte sie gelegentlich ihretwegen Eliza Vorwürfe:
»Wie kommst Du nur dazu, Mama, solche Weiber ins Haus zu nehmen? Die ganze Stadt weiß doch, wie sie's treibt. Dein Haus ist bald so verrufen wie ein regelrechtes Schnepfennest, das kannst Du mir glauben.«
Eliza, geärgert, schürzte die Lippe:
»Wieso? Das geht mich doch gar nichts an? Ich gebe nicht darauf acht. Ich trage meinen Kopf hoch und kann jedermann ins Auge sehn. Aber ich verkehre wenigstens nicht mit solchen Leuten.«
Ihre alten Schulfreundinnen – die fleißige Teeny Duncan, die stillvergnügte, ernsthafte Gertrude Brown, die Lehrerstochter Genevieve Pratt mit dem einfachen, gutmütigen Gesicht – hatte Helene längst aus den Augen verloren. Ihre Gefährtinnen waren nun lebhafter, vulgärer, jünger: Grace Deshaye, Tochter eines Installateurs, eine stramme, feiste Blondine; Pearl Hines, Tochter eines frommen Baptisten und Sattlers, breit und schwer gebaut mit breitem und schwerem Gesicht und einer mächtigen Singstimme für Ragtimes. Am besten aber stand sie mit Nan Gudger.
Nan Gudger war schlank, munter, äußerst lebhaft. Ihre Taille war so eng, daß ein Mann sie mit beiden Händen umspannen konnte. In der Vertrauensstellung der Buchhalterin einer großen Handelsfirma war sie unfehlbar genau. Von ihrem Gehalt unterstützte sie großzügig ihre Familie. Ihre Mutter hatte einen großen Kropf; Eugen konnte die Alte nicht ansehen, ohne daß er eine Gänsehaut bekam. Ihre Schwester Carry war auf beiden Beinen gelähmt; spindeldürr, mit übertrieben breiten Schultern, humpelte sie auf Krücken im Hause herum. Die beiden Brüder, kräftige Lümmel, 18 und 20 Jahre alt, Nichtstuer von Ruf, hatten immer Messerwunden oder blaue Beulen im Gesicht, Merkzeichen jener männlichen Kämpfe, die in Kneipen und Hurenhäusern ausgefochten werden.
Die Familie bewohnte ein zweistöckiges baufälliges Holzhaus an der Clingman Street. Die Frauen arbeiteten fleißig, um die jungen Männer zu ernähren. Eugen kam oft mit Helene ins Haus. Helene fand das vulgäre, humorvolle, aufgeregte Leben der Gudgers anziehend. Die unverblümten, saftigen Redensarten Carrys machten ihr besonders Spaß.
Am Ersten jedes Monats gaben Nan und Carry ihren Brüdern Taschengeld und dazu eine besondere Summe für einen Besuch im Bordell.
»Oh, das ist doch nicht möglich, Carry, tut Ihr das wirklich?« fragte eifrig-ungläubig Helene.
»Aber sicher, mein Honig!« bestätigte Carry. »Sie brauchen das für die Gesundheit.«
»Nein, wirklich nicht! Es ist Spaß«, lachte Helene.
»Ach du lieber Gott, weißt Du Kindskopf denn das nicht einmal?« Carry spuckte ins Feuer. »Das tut den Bengeln gut. Sonst werden sie krank.«
Eugen war im Bilde. Er rutschte auf dem Boden vor Lachen. Er verstand den Humor der Lage. Zwei Frauen gaben im abergläubischen Interesse der Wohlfahrt und der Gesundheit Geld her … zwei junge nikotinstinkende haarige Lauserte gingen dafür huren.
»Was gibt's denn da zu lachen, Du Gelbschnabel!« sagte Carry und stach ihn mit der Krücke in die Rippen. »Du bist ja noch nicht trocken hinter den Ohren.«
Carry hatte die leidenschaftliche Wildheit der Leute aus dem Gebirg. Verkrüppelt wie sie war, atmete sie die hitzige Lust ihrer Brüder ein. Stumpfe, rohe, unwissende, gutmütige, mörderische Menschen. Nan aber war untadlig, hatte feine Manieren, trat anständig auf. Sie hatte dicke, schwulstige Lippen wie ein Neger, ein herzhaftes tropisches Lachen. Sie ersetzte die hinfälligen Möbel des Hauses mit neuer standardisierter Ware; hochpolierten Tischen und Stühlen, die aus den Fabriken in Grand Rapids in Michigan kamen. Im Wohnzimmer stand ein neues Büchergestell; es war immer abgeschlossen; hinter den Glasscheiben träumten ungelesen die Klassiker in der Harvardausgabe und ein billiges Konversationslexikon.
Als Mistress Selborne zum erstenmal aus dem heißen Süden nach Dixieland kam, war sie erst dreiundzwanzig, sah aber älter aus. Alles an ihr war Reife. Sie war eine hochgewachsene üppige Blondine, wohlgepflegt und elegant. Sie hatte müßig-träge Bewegungen und einen sinnlich-wogenden Gang. Ihr Lachen war zärtlich und voll Verführung. Ihre Stimme klang sinnlich beschwingend, voll, weich, verlockend, angenehm. Ihr dunkles, reiches, melodisches Lachen sprudelte von mitternächtlicher Heimlichkeit. Sie stammte aus einer altvornehmen, aber verarmten