Gesammelte Werke: Romane, Erzählungen & Aufsätze. Thomas Wolfe
ortsansässige alte Familien wie die Pentlands. Altamont hatte sich rapid aus einem windigen Nest, aus einem auf den Hügeln verstreuten Dorf zur Stadt entwickelt. Das Kastensystem war willkürlich, die Klitterung der Gesellschaft in Klassen war – wie in allen Kurorten – äußerst flüssig und wandelbar. Es hing von Geld, Ehrgeiz und Anmaßung ab.
Tarkintons und Isaacs waren, wie die meisten Nachbarn, mit Ausnahme der Schotten, Baptisten. Gesellschaftlich standen die Baptisten auf der untersten Stufe der Achtung. Sie galten für vulgär. Ihr Prediger war ein runder Mann mit weißer Weste und rotem Gesicht. Allsonntäglich erzielte er große rhetorische Effekte, brüllte wie ein Löwe, girrte wie ein Täubchen und schmückte seine Ausführungen mit intimen Anspielungen auf seine Gattin. Diese Anspielungen erregten das Lachen der Gemeinde, wurden aber von den feineren Christen der andren Sekten für unzüchtig gehalten.
Die hochkirchlichen Episcopalianer standen am höchsten auf der Leiter. Die Presbyterianer waren weniger modisch und smart, wurden aber allgemein als hochanständig anerkannt. Die Methodisten hielten die Mitte zwischen den Vulgären und den Feinen, zwischen Plattheit und hohem Dekorum.
Diese presbyterianische, steifleinene und wohlgebürstete Sonntagsvormittagswelt mit ihrer nüchternen Hochanständigkeit, ihrer vornehmen Zurückhaltung, mit ihrer Suggestion von ruhigem Wohlstand, unbestrittner gesellschaftlicher Stellung, ritueller Ordentlichkeit, gewählter Aufmachung bewegte Eugen tief wegen ihrer Stille. Er spürte stets, daß er nicht dazu gehöre. Aus dem Wirrwarr seines Alltags tauchte er dort für ein paar Stunden auf, sah zu und ging dann – schließlich auf Jahre – als ein Fremdling weg. Was blieb, war Sinn und Verständnis für den echten Schmerz, das wahre Mysterium, die heilige Sinnenschönheit aller Religion, etwas Tieferes und Schöneres als jene erhabne Anständigkeit.
XII
Im Winter und im stumpf hinsterbenden Spätherbst haßte er Dixieland am meisten; die trüben, vom Fliegendreck verschmutzten elektrischen Lampen; die lausige Sucherei nach einer warmen Ecke im Haus; Eliza, die in einen alten Sweater, ein schmutziges wollnes Halstuch, einen abgelegten Männerrock eingewickelt, umherging, ihre von Kälte aufgesprungnen Hände mit Glyzerin eingeschmiert hatte. Die Wände, naßkalt und schwammig, atmeten Kränke und Tod aus. Eine Frau starb am Typhus; der Gatte kam aufgeregt in die Diele, hob die Hände und ließ sie fallen, als gehörten sie ihm nicht mehr. Das Paar war aus Ohio.
Droben, auf einer Schlafaltane, hustete ein abgezehrter Jude in die unaufhörliche Dunkelheit.
Helene war wütend: »Um Gottes willen, Mama, warum nimmst Du solche. Leute ins Haus? Siehst Du nicht, daß er die galoppierende Schwindsucht hat?«
»Hm, was soll das heißen? Wieso denn?« sagte Eliza und schürzte die Lippe. »Er sagte, es wäre ein Bronchialkatarrh. Ich fragte ihn und er lachte ganz vergnügt und laut und sagte: ›Aber Mistress Gant‹, sagte er …« und nun folgte eine endlose Erzählung, die vom Hundertsten ins Tausendste ging. Helene kochte vor Wut. Eliza pflegte mit grundsätzlicher Blindheit alles zu verteidigen, was Geld einbrachte.
Der Jude war ein gütiger Mensch. Er hustete leis in seine weiße Hand. Er aß sein Brot als »Weckschnitten« zubereitet; die Scheiben, in Ei getränkt, wurden in Butter in der Pfanne gebraten. Eugen entwickelte einen scharfen Appetit für diese unbekannte Speise; unschuldig taufte er sie »Judenbrot« und konnte nicht genug davon bekommen. Lichtenfels lachte leise, hustete. Seine Frau lachte dunkel und voll. Eugen erledigte allerlei Besorgungen für ihn und bekam wöchentlich ein Geldstück dafür. Der Kranke hatte ein Konfektionsgeschäft in New Jersey. Im Frühling mußte er in eine Heilstätte, wo er später starb.
Im Winter hatte Eliza nur wenige Hausgäste. Es waren im Grund immer dieselben Gesichter, dieselben Persönlichkeiten. Schon allein durch die ständige Wiederholung des Typs wirkten sie mittelmäßig. Sie versammelten sich fröstelnd im Wohnzimmer, saßen stundenlang um das Kohlenfeuer im offnen Kamin, räkelten sich im Schaukelstuhl, machten blöde Gesichter, redeten mit öden Mienen ödes Zeug, langweilten sich über sich selbst, die Welt und Dixieland sicher so sehr, wie Eugen sich über sie langweilte.
Im Sommer gefiel es ihm besser. Da kamen träge Frauen aus dem heißen reichen Süden der Staaten, Mädchen aus New Orleans mit schwarzem Haar und weißer Haut, weizenblonde aus Georgia, lüsterne aus Süd-Carolina, die die gedehnte Sprechweise der Neger hatten. Da kam vom Mississippi die Lässigkeit der Malariakranken, die einen Stich ins Gelbe aber ganz blendend weiße Schneidezähne hatten. Ein Gast aus Süd-Carolina mit einem roten Gesicht, nikotinfleckigen Fingerspitzen, nahm Eugen täglich zu den Baseballspielen mit. Ein andrer, Pflanzer vom Mississippi, lang, dürr, gelb im Gesicht, malariakrank, wanderte durch duftige Gebirgstäler mit ihm. Nachts hörte er volles Frauenlachen von den dunklen Veranden, zärtlich und grausam zugleich; dazu die gurrenden Kehllaute der Männer. Er beobachtete die verstohlene Buhlerei; dunkles Getu um Mitternacht hinter verschlossenen Türen; völlig unschuldige Mienen am Morgen. Mit blutigem Schnabel hackte das Gelüst ihm ins Herz; die eifersüchtige Tugend machte ihn moralisch; er war entrüstet, weil diese Welt ihm verwehrt war.
Morgens ging er in Gants Haus, trieb sich herum, besuchte Helene, spielte im Garten mit einem Nachbarsohn, Buster Isaacs, einem Vetter von Max, einem pausbäckigen, munteren kleinen Kerl … Helene kochte »Fudge«, eine Art Karamellen aus Zucker, Schokolade und Rahm. Der Duft der Leckerei rief sie ins Haus. Sie schickte ihn in ein kleines jüdisches Lädchen unten an der Straße nach Delikatessen. Dann saßen sie mitten am Vormittag und tafelten: Essiggürkchen, Pickels, Tomatenscheiben mit dicker Mayonnaise, amberfarbnen perkolierten Kaffee, Feigenbisquits, helle kleine »Ladyfinger«-Trauben, heißen seimigen dickgebutterten, mit Walnußsplittern bestreuten Fudge, Sandwiches mit zartem Schinken und Gurken, eisgekühlte, milde »aufstößerische« Getränke.
Eugens Vertrauen in Helenes Gantschen Reichtum kannte keine Grenzen, solche Fülle konnte nur aus dem Unerschöpflichen quillen. Hennen gackelten in die Morgensonne aus den Hintergärten der Nachbarschaft; der Eismann, ein herrlich gebauter Neger, kam; Eugen stand dabei, wenn er die langen Eisstangen durchsägte, und fing das kalte Gesplitter auf. Helene rief ins Wohnzimmer; sie saß am Klavier, spielte, sang, lehrte ihn Lieder: »Wilhelm Teil«, »Mein Herz bei Deiner Stimme süßem Klang …«, »Das Lied ohne Worte«, »Holde Aida«, »Die verlorne Saite«. Ihre lange muskulöse Kehle spannte sich, wenn der hohe Sopran aufschwang.
Ihre Freude an ihm war unersättlich. Sie verwöhnte ihn mit Leckerbissen. Manchmal warf sie ihn persönlich unerwartet aufs Sofa, hielt ihn mit der einen Hand fest, während sie ihn mit der andern kitzelte oder auf die Wangen patschte.
Wenn sie aber nervös überreizt war, dann packte sie ihn oft scharf an. Dann haßte sie ihn, sein traumverlornes, dunkles, brütendes Gesicht, Die wilde Lebenslust biß und juckte sie. Genau wie Lukas, genau wie Gant, suchte sie ständig nach Aufregung. Menschen, die sich in sich selbst zurückziehen konnten, waren ihr im Grunde verhaßt. So wurde sie oft wütend, wenn sie ihn ins Träumen versunken oder in ein Buch vertieft fand. Sie riß ihm das Buch aus der Hand, machte eine Schnute und Stielaugen, goß Gift und Galle schimpfend über ihn aus:
»Elender kleiner Blödel, Du schreckhafter kleiner Schaute mit Deiner verschlafenen Pentland-Visage! Die Leut' lachen über Dich, Du verkaufter Knirps. Ein querköpfiger kleiner Pentland bist Du, Du stinkst nach der Sippe, Papa hat es selber gesagt, daß Du ganz wie der üble Vetter Greely bist. Überhaupt, ich zieh' Dir jetzt Mädchenkleider an und laß Dich so herumlaufen!«
Manchmal war die schwelende Wut so groß, daß sie ihn auf den Boden warf und ihn trat.
Die Mißhandlungen verletzten ihn nicht so tief wie die zügellose Gehässigkeit ihrer Zunge. Sie war wahnsinnig geschickt im Erfinden von Kränkungen. Eugen, starr vor Entsetzen, stürzte aus dem Elfenhimmel in die Hölle. Plötzlich war sein freigebiger Engel in eine schlangenhaarige Furie verwandelt. Sein Glaube an Liebe und Güte war verloren, er bellte wie ein toller Hund, bockte auf, schlug sich den Kopf an die Wand, wünschte, daß er zerbräche, daß sein Ich aus dem zerbochnen blutigen Gefängnis des Körpers entfliehen könne.
Seine Verzweiflung tat Helene gut. Das war, was sie wollte. Sie hatte ihre Wut an ihm ausgelassen, nun war sie erlöst, befreit, gereinigt. Nun konnte sie, in langsamer Zutunlichkeit gegen ihn, sich wieder sammeln. Sie hob den Widerstrebenden