Das verborgene Netzwerk der Macht. Klaus-Peter Horn
zunächst ungestört weiter auf Erfolgskurs zu dampfen – bis plötzlich die Krise sichtbar ausbricht.
Das Recht auf Zugehörigkeit
Sie gehören zu verschiedenen sozialen Systemen: zu Ihrer Herkunftsfamilie (Ihren Eltern und Geschwistern), Ihrer Gegenwartsfamilie (Ihrem Mann / Ihrer Frau und Ihren Kindern) und zu einem oder vielleicht mehreren Arbeitssystemen. Haben Sie sich schon einmal gefragt, wie es wäre, wenn man Ihnen plötzlich die Zugehörigkeit zu Ihrer eigenen Familie oder Ihrem eigenen Unternehmen streitig machte? Leider geschieht so etwas immer häufiger. In Restrukturierungen und Fusionen wird das Recht auf Zugehörigkeit chronisch missachtet. So weiß nach Umbenennung und Umfirmierung im neuen Unternehmensgebilde manchmal niemand mehr, von wem die Ursprungsfirma vor 40 oder 70 Jahren gegründet wurde, oder der Gründer wird sogar bewusst nicht mehr erwähnt.
Zugehörigkeit verjährt nicht
Zugehörigkeit aber verjährt nicht. Der Gründergroßvater gehört auch heute noch genauso dazu wie der junge Geschäftsführer. Gleiches gilt auch für Mitarbeiter, die in Rente gegangen sind oder die in mageren Zeiten die Firma verlassen mussten. Es stärkt das Unternehmen, wenn man sich an sie erinnert und ihnen Gutes wünscht. Denn genau wie der Gründer waren sie einmal die Firma und bilden heute deren Wurzel. In der Praxis hat es sich bewährt, durch Fotos der Gründer an geeigneter Stelle im Unternehmen an deren Zugehörigkeit zu erinnern. Kennen Sie solche Räume oder Foyers, in denen man Büsten der Gründer, historische Szenen aus der Gründerzeit, alte Produkte oder Maschinen bewundern kann? Die positive Wirkung so einer bewussten Erinnerung wird auch daran deutlich, dass sich Mitarbeiter und Kunden gern dort aufhalten. Man spürt, dass hier die Wurzeln heutigen Erfolgs gesehen und gewürdigt werden.
Probleme bei Ungerechtigkeiten
Alle, die zu einem System gehören, müssen dazugehören dürfen – auch gekündigte Mitarbeiter.
Wenn schwere Ungerechtigkeiten im Spiel sind, können die Auswirkungen besonders massiv sein. So kam ein bekanntes Unternehmen mit einer seiner Tochterfirmen auf keinen grünen Zweig. Es stellte sich heraus, dass diese Firma im Dritten Reich von ihren jüdischen Inhabern für einen Spottpreis zwangsverkauft wurde (siehe auch Kap. 3.4). Aus systemischer Sicht ist es also kein Wunder, dass sich kein Erfolg einstellte, bis die Gründer und Eigentümer gewürdigt waren.
Es gibt auch Fälle, in denen jemand nicht mehr zu seinem Unternehmenssystem gehören kann, wenn er z. B. aufgrund schwerer Vergehen ausgeschlossen werden musste. Wenn etwa ein Prokurist versucht hat, den Chef durch Verleumdung zu entmachten, hat das nicht nur juristische, sondern auch systemische Folgen für ihn.
Vorrang des Früheren vor dem Späteren
Im Zuge einer Reorganisation nimmt ein neuer Produktionsleiter die Fertigung in die Hand. Er erkennt Fehler und Einsparpotenziale und beginnt nun aufzuräumen. Einen »Schlampladen« nennt er die Werkshallen und »Schläfer« die Ingenieure und Meister, die dafür verantwortlich seien. Beinahe, so seine Botschaft, hätten sie das Unternehmen an die Wand gefahren. Aber nun, mit ihm, beginne ein anderer Wind zu wehen. Eine Reihe von sinnvollen Maßnahmen wird eingeleitet, aber sie greifen nicht dauerhaft. Auch kann er die Mitarbeiter nicht für sich gewinnen. Je mehr er sie anfeuert, umso lethargischer und lustloser verrichten sie ihre Handgriffe am Band. Was ist passiert?
Der neue Chef muss vom letzten Platz aus führen
Der neue Produktionschef hat in guter Absicht, aber mit systemischer Ignoranz einen schweren Fehler begangen. Als Neuer steht er in der Ordnung des Systems auf dem letzten Platz, verhält sich aber, als stehe er auf dem ersten! Das gesamte soziale System reagiert allergisch auf solch eine Anmaßung. Andererseits ist er der neue Chef. Kompetent und engagiert will er wirklich etwas für das Unternehmen erreichen. Dazu muss er allerdings lernen, vom letzten Platz aus zu führen. Das gelingt ihm, indem er sich vor Augen führt, dass viele seiner Mitarbeiter schon in diesem Unternehmen dessen Produkte hergestellt und vertrieben haben, als er noch die Schulbank drückte. Mit diesem Perspektivenwechsel ändert sich seine Einstellung und mit ihr seine Ausdrucksweise und sein Tonfall. Er beginnt, ihre Leistung zu würdigen – auch wenn sie mit veralteter Technik und Struktur erbracht wurde.
Wenn er jetzt seine innovativen Konzepte einbringt, schaut er dabei die Meister und Gruppenleiter, mit denen er spricht, anders an. Er fragt nach ihren Erfahrungen und Gewohnheiten, bittet um ihre Meinungen und Vorstellungen, bevor er seine Entscheidung als neuer Chef trifft. Indem er so vom letzten Platz aus führt, gewinnt er das Vertrauen und die Unterstützung seiner Mitarbeiter und kann seine Führungsposition voll einnehmen.
Vorrang des höheren Einsatzes für das Ganze
Auch in Teams sind nicht alle gleich
Teams und flache Hierarchien sind in. Neue Wege zu mehr Effektivität sind sinnvoll und nützlich, aber sie bergen auch bestimmte Gefahren. Vielleicht haben Sie schon Start-up-Teams kennen gelernt, die in ihrer mitreißenden Euphorie die Gleichwertigkeit der Zugehörigkeit mit völliger Gleichberechtigung verwechseln. So schön ein Wir-Gefühl auch ist – oft schütten die Teammitglieder in ihrem Bemühen um flache Hierarchien das Kind mit dem Bade aus und werfen systemerhaltende Prinzipien wie Kompetenzvorrang und Verantwortungsvorrang achtlos über Bord. In solchem Klima gedeihen pseudo-egalitäre Ideologien, wie: »Wir arbeiten alle gleichberechtigt. Wir sind alle gleich wichtig. Jeder darf mitreden und mitentscheiden.« In Extremfällen wird der Vorschlag einer Aushilfskraft oder eines Praktikanten genauso gewichtet wie der erfahrener Kompetenzträger.
Der Chef muss Chef sein und verantwortlich führen
Auch wenn in solchen Teamsitzungen alle beifällig nicken und sich damit zu ihrer fortschrittlichen Haltung gratulieren, wird doch ein gewisses Unbehagen spürbar. Denn den wirklich Verantwortlichen bleiben nur Pflichten, keine Rechte. Wer mehr Einsatz für das Ganze bringt, hat aber in zwischenmenschlichen Systemen mehr Gewicht. Sein Wort zählt mehr. Wie kommt man aus so einer Teamfalle wieder heraus? Eine einfache Frage führt hier zu mehr Klarheit: »Wer fühlt sich für das ganze Team verantwortlich und handelt auch so?« Diejenigen, die so handeln und dazu stehen, können als Teamleiter untereinander Führungsstrukturen entwickeln. Die übrigen sind ihre Mitarbeiter.
Anders gesagt: Ein Chef muss Chef sein und sein dürfen. Nimmt er die Rolle nicht an, indem er nicht nur Aufgaben, sondern auch Chefentscheidungen wegdelegiert, hat er den Stuhl, auf dem er sitzt, schon verloren. Seine Mitarbeiter werden ihn nicht mehr ernst nehmen. Erkennt andererseits ein Mitarbeiter seinen Chef nicht als Chef an, weil er sich selbst für fähiger hält, befindet er sich im systemischen Abseits und muss »zurückgepfiffen« werden. Auch ihm hilft es, die Wirklichkeit anzuerkennen und seinem Chef beispielsweise zu sagen: »Sie sind hier der Chef. Auch wenn ich nicht immer Ihrer Meinung bin, erkenne ich das an!«
Kompetenzvorrang
Kompetenz am richtigen Platz wird anerkannt
Kennen Sie auch hoch begabte und fähige Leute, die in ihrer Firma kaum Anerkennung ernten? Dieses Dilemma kann systemische Ursachen haben. Der Produktionsleiter im obigen Beispiel »Vorrang des Früheren vor dem Späteren« saß in dieser Falle fest. Seine neuen Mitarbeiter erkannten seine hohe Kompetenz nicht an. Erst als ihm klar wurde, wie sehr er ihre Rechte als langjährige Mitarbeiter ignoriert hatte und seine Einstellung änderte, begannen sie, ihn zu akzeptieren. Das Beispiel zeigt, wie in Arbeitssystemen verschiedene Dimensionen von Vorrang koexistieren und einander bedingen.
Entscheidend für die Systemharmonie ist das Prinzip der Würdigung, das sich durch alle systemerhaltenden Prinzipien wie ein roter Faden hindurchzieht. Wenn der Spätere die Früheren als Frühere würdigt, anerkennen diese bereitwillig seine Fachkompetenz. Vorrang hat auch, wer hohe Kompetenz in ein Arbeitssystem einbringt.
Hierzu zählen besondere Fähigkeiten und Leistungen ebenso wie sichtbare Ergebnisse oder eine außergewöhnliche berufliche Erfahrung. Anerkennung und Würdigung sind also Grundprinzipien