Gesammelte Werke. Isolde Kurz
sich mir jetzt durch die Treuherzigkeit der Elvira enthüllte, hätte keine ihrer Vorgängerinnen oder Nachfolgerinnen mir je verraten, nämlich dass in der Gegend ganz allgemein an die zeitweilige Übersiedelung der Seelen Verstorbener in Tierleiber, besonders in Eidechsen, Kröten und Schlangen, geglaubt wird; man nenne diese Unglücklichen anime confinate, verbannte, das heißt an einen bestimmten Ort verbannte Seelen, vertraute sie mir an, und in dieser Lage, vermutete sie, werde nun wohl auch die arme Quintilia sich befinden.
Ich sagte: Das wollen wir gleich sehen, und ging mit ihr in die Küche. Dort öffnete ich die Gartentür und rief laut: Quintilia! – Auf meinen Ruf – es klingt wie eine Erfindung und ist doch buchstäblich wahr – kam eine Eidechse blitzschnell die Stufe herauf in die Küche geschossen und geradeaus auf die Elvira zu, die sich bebend gegen den Herd zurückzog. Nach einem so sinnfälligen Beweis war die Personengleichheit nicht mehr zu bestreiten.
Ich beschloss, das Vorkommnis zum Besten der gequälten Tierheit zu nützen und sagte sehr nachdrücklich:
Du siehst nun selbst, wie frevelhaft es von euch Landleuten ist, die unglücklichen Eidechsen, Blindschleichen, Frösche und ähnliches Getier, gleich wie sich ihrer eins zeigt, mit dem Absatz zu zermalmen. Ihr bedenkt dabei nicht, dass es euer Großvater, eure Großmutter oder Schwester oder sonst ein Nahverwandtes sein könnte, was euch zertreten an den Schuhen hängenbleibt. Wenn es wahr ist, dass die Seelen der Verstorbenen für einige Zeit in den Tieren hausen müssen, was ich weder bestätigen noch in Abrede stellen will, denn ich weiß es nicht, so lasst ihr in eurer Grausamkeit auch außer acht, dass ihnen die Zeitdauer ihrer Buße von oben zubemessen ist und dass es dem Menschen nicht gestattet sein kann, diese abzukürzen, indem er die Tiere tötet und damit die Seelen aus ihrem zugewiesenen Wohnsitz treibt. Wer es tut, macht sich nicht nur der abscheulichsten Tierquälerei, sondern auch der Auflehnung gegen eine höhere Ordnung schuldig und wird es büßen müssen, wenn er dereinst selber als anima confinata umherkriecht.
Elvira versicherte, dass sie stets von dieser Rücksicht geleitet worden sei und niemals ein Tier von der Art, wie sie den Seelen zum Wohnsitz dienten, verletzt habe. Aber noch am vorigen Sonntag sei es in ihrem Dorfe vorgekommen, dass ein Haufe junger Burschen des Abends beim Heimwandern eine riesengroße Kröte auf einem Stein habe sitzen sehen. Da habe einer von ihnen gefragt: S’ ha a mandare in paradiso? (Wollen wir sie ins Paradies schicken?), worauf sie einen mächtigen Steinblock auf die Kröte geworfen hätten und dann auf diesem Block herumgetrampelt seien, um die Kröte zu zerquetschen. Des andern Tags, da sie wieder des Weges gegangen, hätten sie den Stein aufgehoben, und es sei keine Spur von der Kröte mehr übrig gewesen.
Dieses Beispiel von Seelenwanderungsglauben war mir bei der entschiedenen Kirchlichkeit des dortigen Landvolks höchst befremdlich. Aber ein genauer Kenner des italienischen Mittelalters wies mich daraufhin, dass die Lunigiana, zu der unser Küstenstrich gehört, jahrhundertelang ein Hauptsitz der Häresie gewesen und dass die Kirche nur die Ketzer, aber nicht die Ketzerei ausrotten gekonnt, mit deren zum Volksaberglauben herabgesunkenen Überresten sie sich augenscheinlich abfindet.
Jahre später begegnete ich der gleichen Vorstellung noch einmal in fast noch groteskerer Gestalt. Mein Nachbar, der Bauer Mansueto, fragte mich eines Morgens beim Aufbinden der Reben an meiner Rebenlaube mit etwas unsicherem Ton, ob ich schon von der großen Schlange gehört hätte. Ich hatte noch nichts gehört. Auf der Villa des verstorbenen Generals X., die etwa einen Kilometer von meinem Hause entfernt lag, sei eine Schlange von gewaltigen Maßen erschienen, »groß und dick wie ein Mensch«, sie stehe wie ein solcher völlig aufrecht und schaue mit grässlich funkelnden Augen durch die Gitterstäbe des Gartens. Halb Forte de’ Marmi ströme nach der Villa X. hinaus, um die gespenstige Schlange zu sehen. Er sei auch draußen gewesen, der Anblick sei unheimlich. Man habe die Finanzsoldaten mit ihren Gewehren hingeschickt, und diese hätten Schuss auf Schuss auf das Untier abgegeben. Aber wenn der Rauch sich verziehe, so stehe sie aufrecht nach wie vor unter den Pinien und schaue die Leute höhnisch an. Er rate mir dringend, wenn ich es nicht glauben wolle, selber zu gehen und mich zu überzeugen.
Diesen Rat hätte ich natürlich gerne befolgt, aber ich hatte damals meine Mutter schon leidend im Häuschen droben, die sich zu erregen pflegte, wenn ich sie auf mehr als zehn Minuten allein ließ. Von der meerwärts gelegenen Gartentür aus konnte ich aber unten am Strand lange Züge von Menschen auf dem Hin- und Herweg sehen, die sich begegneten und gestikulierend stehenblieben. Auf einem Sandhügel, wenige Schritte von meiner Haustür, saß ein uraltes Bettelweib, die rief ich an: O Großmutter! Habt Ihr auch die Schlange gesehen? – Sie bejahte düster und heftig. Che sia lù? (Ist wohl er es?) setzte sie lauernd hinzu. Er? Was für ein Er? fragte ich verwundert. Lù’! lù’! il generale! – Aber gute Nonna, wie käme denn der General in die Schlange? – Lo saprà lù’! (Das wird er wissen), war die noch düstrere Antwort.
Als ich meiner Patientin dieses Wunder erzählte, gab sie mir Urlaub, um den Tatbestand zu ergründen. Ich begab mich an den Strand hinunter und hielt zunächst eine Gruppe der Zurückkehrenden auf. – Die Schlange, freilich. Es war die reine Wahrheit. Sie hatten sie alle gesehen. Fürchterlich sah sie aus. Aufrecht stand sie wie ein Mensch. Sie stand auf dem Schwanz. Und die Augen funkelten. – Und die Soldaten mit den Gewehren? – Ja, auch die! Es hatte alles seine Richtigkeit. Ob ich denn die Schüsse nicht gehört hätte? – Ich hatte nichts gehört und ging nun weiter, um selbst zu hören und zu sehen. Da stieß ich auf den einäugigen Armando, einen geweckten und verwegenen Burschen, der so halb und halb in meinen Diensten stand, weil ich ihn zuweilen mit gröberer Arbeit beschäftigte und während meiner Abwesenheit mein Haus von ihm bewachen ließ.
Kommen Sie auch die Schlange sehen? rief er mir zu. – Jawohl, sagte ich, wie steht’s denn damit?
Er lachte aus vollem Halse: Hat sich was mit der Schlange. Es gibt so wenig eine Schlange in der Villa X. wie in der Ihrigen. Der Waldhüter, der die Villa mit den Vignen nachts bewachen soll, aber lieber in der Schenke beim Wein sitzt, hat jetzt, wo die Trauben zu reifen beginnen, die Fabel von der Schlange aufgebracht. Aber das hat er wohl selber nicht erwartet, dass die Leute das Untier auch am hellen Tage sehen würden.
Ein solcher Massenwahn ging mir über alle Begreifbarkeit. Aber als immer neue Gruppen zurückkamen und auf Armandos Anruf übereinstimmend versicherten, die Schlange stehe noch immer und blicke durchs Gitter und es werde noch immer auf sie geschossen, stand ich von dem Forschungsgange ab.
Es