Gesammelte Werke. Isolde Kurz
Manen dieses außerordentlichen Mannes für das herzliche Wohlwollen zu danken, das er mir schon von meiner frühesten Jugend zuwandte. Was er seinen Deutschen war, braucht von mir nicht gesagt zu werden. Was er mir war, kann ich ohne Ruhmredigkeit aussprechen, denn es war seine Güte, nicht mein Verdienst, wenn er mich schon als Kind zu sich heranzog. Er lud mich als Zwölfjährige mit der Mutter zum Kaffee, den er selbst braute und einschenkte, ich musste dann neben ihm auf dem Kanapee sitzen, er ließ sich meine Zöpfe aufflechten und erzählte mir Geschichten, unter andern das ganze Märchen von den Pfahlbauern, das er später dem »Auch Einer« einverleibt hat. Wäre er länger in Tübingen geblieben, so hätte ich im Heranwachsen gegen die Anfeindungen des Philistertums einen Halt und Trost gehabt. Aber ihn selber trieb die Kleinstädterei von dannen, und er zog den Lehrstuhl an der Stuttgarter Technischen Hochschule dem der Tübinger Universität vor, weil er dort freiere Menschen, die sich in der Welt umgesehen hatten, fand. – Als ich dann in den frühen achtziger Jahren zum ersten Mal aus Italien wiederkam und ihn in Stuttgart besuchen wollte, stieß mir das peinliche Versehen zu, dass ich mir die Vormittagsstunde desjenigen Wochentags, wo er ganz ungestört bleiben wollte, um sein Kolleg vorzubereiten, in der Eile als die für Besuche willkommenste aufschrieb. Erst als ich die Klingel gezogen hatte und er selbst im Schlafrock mit einem Blatt Papier in der Hand mir öffnete, erkannte ich mit jähem Schrecken den Missgriff. Er ließ mich aber durchaus nicht mehr entwischen, ich musste sogar viel länger, als ich ursprünglich beabsichtigt hatte, in der bei solchem Ruhme wahrhaft ergreifenden Einfachheit seiner Gelehrtenstube ihm gegenübersitzen, und es schien ihn gar nichts zu stören als sein Schlafrock, der ihm nicht schön genug war, denn er klagte wiederholt, dass er einen viel schöneren bestellt habe und nun zu seinem Ärger vom Schneider im Stich gelassen sei, wo er ihn doch so nötig hätte, um »einen anständigen Eindruck zu machen«. – Und jetzt reisen Sie ab, wo der neue Rock fertig ist? sagte er ein paar Tage später vorwurfsvoll. So rührend jugendlich im kleinsten wie im größten war und blieb er bis ans Ende. Ein paar Jahre später hielt ich mich abermals einige Winterwochen in Stuttgart auf, da ließ er sich in seiner ritterlichen Zuvorkommenheit nicht abhalten, mich fast täglich, trotz Wind und Wetter und trotz der nassen Füße, die der fast Achtzigjährige zu scheuen hatte, in meiner Pension zu besuchen. Wenn man die kleine, zarte, obschon zähe Gestalt sah, das geistig verfeinerte Gesicht mit der übermächtigen Stirn und dem abgeblassten Veilchenblau der Augen, die noch gar nicht vertrocknete, fast rosige Haut, die sich fest um die abgezehrten Wangen legte, so mahnte das ganze Bild des Mannes ergreifend und beängstigend, dass dieses ausdauernde Gehäuse allmählich doch zu dünnwandig wurde für den Geist, der es bewohnte. Ich wurde schließlich so besorgt, dass ich ihm einen früheren Tag der Abreise nannte und mich selber um die mir noch zugedachte Zeit brachte, die nie mehr vergütet werden konnte, denn es war das letztemal, dass ich ihn mit Augen sah.
Er hatte den höchsten faustischen Lebensgipfel erstiegen, von dem aus sich die Verworrenheit der Dinge zu großen, übersichtlichen Gruppen gliederte. Dabei wehte aber keine eisige Altersluft um ihn her, es gab kein Versteifen ins Gewohnte, kein Wiederholen des längst Gedachten. Seine Gedanken entstanden im Augenblick, wo er sie aussprach, das Neueste war ihm ebenso lieb wie das Alte, wenn es einen tüchtigen Boden hatte. Bisher war ein wundervolles Beispiel des ganz großen Deutschen, der mit leidenschaftlicher Inbrunst an der Muttererde haftet und zugleich mit dem Geist durch alle Länder schreitet. Und da er alle Register in der Gewalt hatte, so quoll er auch bei den ernstesten Gegenständen von Anekdoten, Witzen, Schnurren nur so über. Seine feinhörige Sprachmeisterschaft fühlte man in jedem Wort. Er erklärte mir auch seinen dritten Teil Faust als aus dem unwiderstehlichen Zwang entstanden, in den hüpfenden, gleitenden Reimen des zweiten Teils weiterzuwirbeln; ein warnender Wink für solche, die den Urkeim eines Gedichts immer in der Idee suchen. Er wollte jedoch nicht nur geistreich sein, er wollte helfen, wirken. Er brachte Bücher, die er liebte, beriet in literarischen Angelegenheiten. Und war dabei so menschlich-vertraulich, als ob man ihm gar keine Ehrfurcht schulde.
Zu seinem achtzigsten Geburtstag sandte ich aus Florenz einen Lorbeerkranz und eine eben aufgegangene Magnolienblüte aus dem eigenen Garten, diese nach italienischer Sitte zusammengeschnürt, damit der Duft nicht vor der Zeit entweiche. In einigen begleitenden Strophen wurde der Kranz als Sinnbild der langen Ruhmesbahn, die Blume mit den stark strömenden und verströmenden Düften als Ausdruck des höchsten ausgeschöpften Augenblicks gedeutet. Er antwortete noch mit einem Gedicht, das kurz vor seinem Tode geschrieben wurde und jedenfalls zu seinen letzten gehört, wenn es nicht das allerletzte ist. Ich weiß nicht, was ich mehr darin bewundern soll, die edle, in unserer Zeit sagenhaft anmutende Bescheidenheit oder das Selbstgefühl des seltenen Mannes, der sich bewusst ist, noch am äußersten Lebensziel alle Möglichkeiten der Weiterentwicklung in sich zu tragen:
Zur Blume, die des Duftes feinste Geister
Im Kelche sammelt, spendend sie entlässt,
Zum Kranze, der, ein Schmuck für größre Meister,
Den Strebenden begrüßt am Greisesfest,
Lässt du aus Dichterworten mich ersehen,
In welche Tiefen deine Blicke gehen.1 Die dumpfen Seelen, die gedankenschiefen, Was wissen die von Ewigkeit und Zeit? Den Zeitmoment zur Ewigkeit vertiefen, Das ist es, ja, das gibt Unsterblichkeit. Dazu ward Leben, das bringt Rat und Licht, Bringt Reim ins ungereimte Weltgedicht.
Die letzte Zeile ist eine Anspielung auf den Schluss meines Gedichtes »Weltgericht«:
Das ungereimte Weltgedicht,
Nehmt’s, wie es ist, und krittelt nicht.
Er hatte für dieses Gedicht eine besondere Vorliebe und pflegte es gleich nach seinem Erscheinen mit sich in der Tasche zu tragen und in Gesellschaften vorzulesen, wovon auch Ilse Frapan in ihren warmherzigen Vischererinnerungen spricht. Er nahm es in Schutz gegen die heftigen Angriffe der Scheinfrommen, die nicht imstande waren, durch den Scherz hindurch die innere Pietät zu erkennen, und er schrieb mir damals nach Italien lange, launige Episteln im gleichen Versstil und mit spaßhaften Erfindungen im Geiste des »Auch Einer«, die er mir als Zusätze vorschlug. Er sprach auch noch von einer italienischen Reise und dachte an ein Wiedersehen in Venedig, wo mir jetzt ein Bruder, der uns nachgezogene Alfred, lebte. Statt dessen kam so rasch nach dem Altersfeste die erschütternde Todesbotschaft. – Nach seinem Hingang schien die Welt um vieles kälter und leerer geworden,