Gesammelte Werke. Isolde Kurz
Für mich auf deine Hügel scheint.
Nie wollt’ ich scheidend dich betrauern,
So hatt’ ich trotzig oft geprahlt,
Wie nun der Schmerz die düstern Mauern
Schon mit der Sehnsucht Farben malt.
So lass uns denn in Frieden scheiden,
Von Groll bewahr’ ich keine Spur.
Dein Bild soll ewig mich begleiten
Und wecke teure Schatten nur.
Und kehr’ ich einst mit müdem Flügel,
Wenn meine Bahn ein Ende hat,
Dann gönne bei des Vaters Hügel
Der Tochter eine Ruhestatt.
Dann kam der Morgen, wo wir zu Fünfen in der Bahn saßen, Mama, Edgar, Balde, die treue Josephine, die uns nie verließ, und ich, um einem neuen, unbekannten Leben entgegenzufahren. Ich setzte mich rückwärts, und meine Augen saugten sich so lange wie möglich an dem wohlbekannten Stadtprofil fest. Der Kirchturm schwand als letzter um die Ecke. Die Jugendstadt versank, und die Weite der Welt, die langersehnte, tat sich auf.
1 Für den Druck schöner verändert: Wie ganz wir uns aus Lebensgrund verstehen. <<<
Erinnern Sie sich, liebe Freundin, wie Sie vor Zeiten einmal mit dem Schreiber dieser Blätter das kleine Friedhöfchen von La Tour de Peilz am Genfer See besuchten? – Die ersten Vogelstimmen waren in der Luft, und die Bäume zeichneten ihr zartes Geästel noch laublos, aber schon mit verdickten, drängenden Knötchen wie mit abertausend Perlen in den tiefblauen Äther. Sie sprachen nur die zwei Worte: Heiliges Leben! Dann aber blickten Sie mich fragend an, weil ich vor einem namenlosen Grabstein mit befremdender Inschrift stehen blieb. Und Ihr alter Freund versprach, Ihnen von dem Schläfer zu erzählen, dessen Ruhe diese Grabschrift hütet. Ein Menschenalter verging, bevor er dazu die Muße fand. Jetzt, da er sich selber anschickt, in den dunklen Nachen zu steigen, sendet er Ihnen diese Blätter. Verfahren Sie damit nach Ihrem Ermessen: streichen Sie, kürzen Sie nach Bedarf, lassen Sie Jahre, Jahrzehnte vergehen, lassen Sie die ganze Welt sich wandeln; jener Tote hat Zeit zu warten. Nur einmal noch soll er im Glanz der Jugendtage wieder aufstehen, ehe die einst so verheißungsvollen Züge für immer verlöschen.
Kann sein, es lebt noch da und dort einer, der ihn gekannt und geliebt und dann verurteilt hat. Kann sein, es sind noch irgendwo Spuren seines Werkes erhalten. Dann findet er vielleicht spät noch das Verstehen und die Lossprechung, die dem Lebenden versagt waren.
Sein Freund und der Ihre
Ewers.
*
Was waren das für goldene Tage, meine Tübinger Studententage. Denke ich daran zurück, so höre ich tausend Lerchen zwitschern!
Als Sohn deutscher Eltern in Amerika geboren, hatte ich schon ein Menschenleben hinter mir, als ich mit wenig mehr als zwanzig die kleine Universität am Neckar bezog. Denn ich war seit frühester Jugend auf eigenen Füßen gestanden, hatte als halbwüchsiger Junge in den Pampas kleinere Jungen unterrichtet, war dreizehnjährig in den Sezessionskrieg entlaufen, hatte mit den Indianern gelebt, war Zeitungsberichterstatter geworden, alles ohne noch jemals einen regelrechten Unterricht genossen zu haben. Da war dann plötzlich inmitten des tätigen Lebens mein deutsches Blut in mir erwacht, das nach gründlicheren Kenntnissen und einer wissenschaftlichen Ausbildung dürstete, und ich fuhr nach Europa, um mit einer kleinen Erbschaft, die mir zugefallen war, auf einer deutschen Hochschule durch Geschichte, Literatur und verwandte Fächer die Lücken meiner Weisheit zu stopfen.
In Tübingen fehlte es mir aber zunächst an einem passenden Umgang. Zwischen einem Menschen von meiner buntscheckigen Vergangenheit und den Familiensöhnen, die ganz warm aus dem engen häuslichen Nest auf die Hochschule kamen, war die Kluft zu groß. Ich ließ mir zuweilen einen der harttrabenden »Philistersgäule« satteln und ritt in den sonnigen Spätherbsttagen allein in die reizvolle Gegend hinaus. Im übrigen lebte ich still über meinen Büchern und fand mich inmitten des lauten Studententreibens einsam wie im Urwald.
Man spricht soviel vom Blitzstrahl der Liebe. Dass es auch einen Blitzstrahl der Freundschaft gibt, werden wenige verstehen, ich aber sollte es in jener Zeit erfahren.
Eines Morgens, als ich in einer der langen Alleen spazierenging, die in dreifacher Reihe dem Städtchen vorgelagert sind, begegnete ich einem jungen Mann von ungewöhnlich anziehender Erscheinung, der in Gang und Haltung etwas Soldatisches an sich hatte, womit ein seltsam abwesendes, verträumtes Auge im Widerspruch stand. Er war mir durch sein edles Äußere schon früher in den Straßen aufgefallen; auch zu Pferde hatte ich ihn mehrmals gesehen und bemerkt, dass er kein Sonntagsreiter war, sondern mit bequemer Selbstverständlichkeit im Sattel saß. Aber als er jetzt in dem raschelnden Kastanienlaub nahe an mir vorüberging und mich mit einem schnellen Blick streifte, da durchfuhr mich’s: diesen oder keinen suchst du dir zum Freund. Ich nahm es für eine gute Vorbedeutung, dass ich ihn noch am selben Vormittag in einem Kolleg über ältere deutsche Literatur wiederfand. Er saß nur wenig von mir entfernt, und ich war die ganze Zeit über mehr mit ihm als mit dem Vortrag beschäftigt. Ich hätte es kaum in Worte fassen können, was mich so ganz eigen zu ihm hinzog. Aber alles an ihm fesselte mich: die Stirn, die unter dem dichten Haar mit edler Wölbung in den Schädel überging, die dunklen, über der Nase leise zusammentreffenden Augenbrauen, die Art, wie er den Kopf trug, lauter Äußerlichkeiten, die mir der Ausdruck für etwas waren, wofür ich noch keinen Namen hatte. Während die anderen mit vorgeneigten Köpfen emsig kritzelten, hielt er die Augen ruhig auf den Vortragenden geheftet und machte nur dann und wann eine rasche Aufzeichnung. Von da ab saßen wir fast einen Winter lang zweimal wöchentlich im gleichen Hörsaal beisammen, ohne je ein Wort zu tauschen. Mein Herz brannte danach, ihn anzureden, aber sein abgeschlossenes Wesen benahm mir den Mut. Und doch war ich sicher, dass auch er mich bemerkt hatte, denn bei jedem besonderen Anlass begegneten sich unsere Augen. Ich will ihn Gustav Borck nennen, es ist der Name, den er sich später gewählt hat; warum ich seinen wirklichen Namen, dem ein »von« vorgesetzt war, nicht nenne, wird sich aus seiner Geschichte von selbst erklären. Außer dem Namen konnte ich nichts von ihm erkunden, als dass er Norddeutscher war, als Jurist immatrikuliert, und dass er ein Türmchen hart am Neckar bewohnte, worin ein Unsterblicher in vierzigjähriger geistiger Umnachtung gelebt hatte. Dort konnte man vom jenseitigen