Gesammelte Werke. Isolde Kurz
du ewig morgiges, sagte er, du Widerspruch der Natur, Kind des Überflusses und der Not, das seine Fülle nicht beherrschen kann, die ihm immer überströmt, zerrinnt, dass es mit leeren Händen steht, und o Schmach! bei den ärmeren Nachbarn borgen geht.
Bei solchen Worten erhob sich dann wohl ein Sturm des Widerspruchs, aber er ließ sich nicht irremachen.
Welch ein Edelgut liegt verschüttet in unserem Boden: Kleist, Hebbel, Grabbe, Hölderlin! Wer nennt ihre Namen draußen in der Welt, und wer kennt sie bis heute im Vaterland! Und noch immer wächst die Zahl der Unverstandenen. Was wird das für ein Augenblick sein, wenn sie einmal alle aufstehen zur Geisterschlacht, ein Heer von lauter Feldherrn, um zusammen die Welt zu erobern.
Mit Kuno Schütte und Olaf Hansen begegnete er sich in dem Wunschtraum von einer kommenden Weltherrschaft des germanischen Geistes, der ohne Unterdrückung, ohne weltliche Macht alle anderen als ein großes Band der Einheit umschlingen sollte. Keine Erinnerung an die gemeine Wirklichkeit des Völkerlebens hemmte den Flug dieser Geister, von Weltbegebenheiten war nie die Rede; um die Luft rein zu erhalten, las man nur selten eine Tageszeitung, man lebte, dachte, sprach, als ob es gar keine Staatsgebilde gäbe, die eifersüchtig sind und wachsen wollen. Kein Schaumwein konnte erregender sein als Gustav Borck, wenn er einmal überfloss. Er war imstande, sich Abende lang mit Kuno Schütte, dem Eddabeflissenen, in Stabreimen zu unterhalten; es klang schaurig und geheimnisvoll wie dunkle Weissagungen einer nahenden Weltwende. Auch Olaf Hansen warf gelegentlich einen Spruch dazwischen, der noch ahnungsvoller und ureigener war, wie ein verwehter Ton aus unbekannten Reichen. Wir anderen konnten nur zuhören und staunen. Die dunkeläugige Adele saß, den Kopf in beide Hände gelegt, mit am Tisch und horchte andachtsvoll.
Andere Abende gab es, wo nur von Selbsterlebtem geredet werden durfte, das irgend den Stempel des Besonderen trug. Kuno Schütte erzählte seine Geistergeschichten, an die er damals selber noch nicht völlig glaubte. Heinrich Sommer gab schaurig-schnurrige Anekdoten aus dem Seziersaal zum besten, Gustav spornte die anderen, doch er selber schwieg.
Unser rührender Olaf wollte zuweilen auch etwas erzählen, aber er stotterte, verwirrte sich und blieb stecken. Er wusste zwar, bevor er zu reden anfing, immer ganz genau, was er sagen wollte, aber sobald er damit vor die Menschen treten sollte, verstand er sich selbst nicht mehr. Wir deckten immer einmütig sein Misslingen mit unserem Beifall zu.
An solchen Abenden war ich’s, der den Vogel abschoss. Meine Tage bei den Indianern gaben allein schon einen unerschöpflichen Stoff. Da war unter anderem die Fest- und Friedensrede des großen Häuptlings, genannt »der fliegende Tod«, über den Unterschied zwischen dem roten und dem weißen Manne, die ich ihn selber hatte halten hören, als er inmitten befrackter Gäste in seiner Stammestracht dasaß, von oben bis unten mit Skalpen behängt, die auf den ersten Blick wie unschuldiges Pelzwerk aussahen. Diese Rede mit ihrem ungesuchten Bilderreichtum, voll natürlichen Adels und stellenweise von blumenhafter Anmut entzückte unseren Gustav so, dass ich sie für ihn niederschreiben musste.
Glückliche Amerikaner, seufzte er voller Neid, ihr lebt die Poesie, wir anderen schreiben sie. Überall flutet euch das Leben frei wie eure großen Ströme. Heute Kaufmann, morgen Soldat, übermorgen Schulmeister, ihr taugt zu jedem Beruf, weil ihr euch keinem verschreibt, ihr kommt nicht als Angestellte zur Welt, sondern als Menschen.
In solchen Augenblicken konnte ich glauben, ihm innerlich ganz nahe zu sein, ich sollte ihn aber bald auch von einer völlig anderen Seite kennenlernen.
Am Ostersonntag war ich frühmorgens nach einem Ort im Schönbuch geritten, dessen Name mir entfallen ist, hatte mein Pferd im Wirtshaus eingestellt und war dann in den Wald hinausgewandert, wo schon die Knospen schwollen und zwischen den Pfützen des gehenden Schnees das erste Grün hervorsah. Auf einer Waldblöße sollte ich des Försters Töchterlein erwarten, ein keckes Blut, das bei den Studenten »das schwarzbraune Mädchen« hieß und das ich vom Eislauf her kannte. Da es aber noch früh war und die Kirche nicht zu Ende sein konnte, stieg ich seelenruhig – denn mein Herz war nur mäßig beteiligt, weil ich wusste, dass ich nicht der einzige war, der ihr gefiel – in den höheren Wald hinauf, wo die dünne Kruste noch harsch war. Da sah ich abseits vom Wege Gustav Borck auf einem Baumstamm sitzen, wie er ganz versonnen mit dem Stock allerlei Runen in den Schnee zeichnete. Er ließ mich herankommen, ohne den Kopf zu erheben; als ich ihn aber anrief und in unschuldiger Freude über die unerwartete Begegnung mich nähern wollte, fuhr er wütend auf:
Wer sind Sie? Was wollen Sie? Gibt es keinen anderen Platz im Wald, wo Sie sich niedersetzen können?
Ganz verdutzt rief ich ihn mit Namen und nannte ihm meinen eigenen, aber er sprang auf, sah mich mit völlig fremden Augen an, die wie aus Weltenferne herausblickten und sagte:
Wer gibt Ihnen das Recht, mich anzureden?
Er ist wahnsinnig, Gustav Borck ist wahnsinnig geworden, sagte ich voll Entsetzen zu mir selber und trat langsam, unschlüssig zurück. Da rief er wild:
Bleiben Sie meinetwegen, ich trete Ihnen den Platz ab, – raffte ein Heft an sich, das neben ihm lag, und stürmte mit langen Schritten davon.
Ich blieb wie versteinert stehen, die würzige Morgenluft, die schwellenden Knospen, das schwarzbraune Mädchen, alles ward zunichte vor dem einen Gedanken: Gustav Borck ist wahnsinnig geworden! In die Stadt zurückgekehrt, war es mein erstes, Heinrich Sommer aufzusuchen und ihm den Vorfall mitzuteilen. Aber der Mediziner lachte mich aus.
Nicht geisteskrank ist er, sagte er grimmig, sondern der Hochmutsteufel reitet ihn. Glaubst du denn, er habe dich nicht erkannt? Wie oft ist er an mir vorbeigegangen, als ob ich Luft wäre, auch wenn wir noch den Abend zuvor beisammen saßen. Verwöhnt haben wir ihn, das ist seine ganze Krankheit, und nun lässt er sich in jeder Laune gegen die Freunde gehen.
Zwischen Borck und Sommer hatte nie ein rechtes gegenseitiges Verständnis geherrscht, deshalb überzeugten mich seine Worte nicht. Unser kleiner Kreis war der Ferien wegen auseinandergeflogen, nur Olaf und Kuno fanden sich noch des Abends am gewohnten Platze ein, Borck blieb schon seit geraumer Zeit aus, und Adele bekannte uns jetzt, dass sie lange vor uns die Anzeichen einer wachsenden Gemütsveränderung an ihm wahrgenommen habe. Sein Blick sei oft so fremd und gestört gewesen, als ob er etwas Verlorenes suche, und man habe ihm deutlich angesehen, dass er nur mit dem Körper in unsrer Mitte sei. Um ihr gefällig zu sein, zog Olaf bei Gustavs Hauswirtin, einer treubesorgten Studentenmutter, die mit Begeisterung an ihrem