Die böse Begierde. Stefan Bouxsein

Die böse Begierde - Stefan  Bouxsein


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Niemand konnte die Deutschen aufhalten. Nur das Zucken, von dem Fritz jetzt häufiger befallen wurde, beeinträchtigte ihn. Doch davon wollte er nichts wissen. Es dauerte ja nie länger als ein paar Minuten. Ich hatte bei meiner Arbeit im Krankenhaus Schwester Hildegard davon erzählt und um Rat gefragt. Schwester Hildegard hatte sich entsetzt umgesehen, als ich ihr die Symptome schilderte. Sie gab mir zu verstehen, dass ich kein Wort mehr davon sagen sollte. Dann nahm sie mich mit in eine Kammer, abseits von dem normalen Krankenhausbetrieb, wo uns niemand hören konnte. Mein Fritz habe Epilepsie, verriet sie mir. Ich nickte nur, ich hatte schon davon gehört. Doch was sie mir dann erzählte, traf mich bis ins Mark. Die SS-Oberärzte hätten vom Führer den Auftrag bekommen, Epilepsie-Erkrankte zu sterilisieren. Sie würden der Rassenreinheit schaden und dürften sich nicht vermehren, denn es sei eine erbliche Krankheit. In meinem Bauch wuchsen die Zwillinge heran. Die Kinder von Fritz, die er nach Hitlers Willen gar nicht hätte zeugen dürfen. Schwester Hildegard beschwor mich, alles Menschenmögliche zu tun, um das Leiden von Fritz geheim zu halten. Auf keinen Fall dürfe er zur Wehrmacht. Wenn er dort einen Anfall bekäme, würden sie ihn fortschaffen.

       Ich ahnte, dass der Chef von Fritz von diesen Anfällen wusste und Fritz nur deshalb unentbehrlich war für die Fabrik. Doch wie lange konnte das gut gehen? Und wie sollte ich ihm erklären, dass sein geliebter Führer ihn zur Zwangssterilisation verdammen wollte? Die Rassengesetze waren streng. Nicht nur Fritz war in höchster Gefahr. Auch das beginnende Leben in meinem Leib wurde von dieser Krankheit und unserem Führer bedroht. Ich musste meine Familie schützen. Ich ging heimlich in die Fabrik und sprach mit Propofski, dem Chef von Fritz. Es war riskant, doch ich musste das Risiko eingehen, wenn ich Fritz vor sich selbst und vor dem Führer beschützen wollte.

      Die Stationen der Uni-Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie lagen in der Nähe des Niederräder Mainufers, nicht weit von der Villa Liebig entfernt. Petri hatte sich auf der Fahrt bereits telefonisch angekündigt. Nun stand er mit Siebels am Empfang, sie warteten auf Professor Dr. Rübsam. Petri klärte Siebels über die Arbeit der Stationen auf. »Man ist hier in der Lage, alle psychiatrischen Störungen medizinisch und diagnostisch zu erfassen. Die verschiedenen Stationen haben unterschiedliche Schwerpunkte. Gerontopsychiatrische Störungen werden auf Station 93-1 behandelt, depressive Störungen auf der 93-5. Die 93-11 kümmert sich um Alkoholabhängigkeiten, auf der 93-3 wird überwiegend psychotherapeutisch behandelt. Auf Station 93-13 werden schizophrene Psychosen behandelt. Unser nackter Freund wurde auf Station 93-7 gebracht, eine Aufnahmestation zur Intensiv- und Notfallbehandlung psychiatrischer Patienten aller Diagnosen. Dort wird man ihn unter die Lupe nehmen und dann entscheiden, wie es mit ihm weitergeht.«

      »Eine Aussage auf dem Präsidium wäre eine tolle Sache«, erwiderte Siebels. »So wie es aussieht, war er dabei, als Magdalena Liebig abgestochen wurde. Wir können auch noch nicht ganz ausschließen, dass er sie ermordet hat. Ich hoffe, Ihr Psycho-Kollege beeilt sich mit seiner Diagnose und verfrachtet ihn dann direkt weiter zu meinen Händen.«

      »Da kommt Professor Rübsam.« Petri ging dem Mann im weißen Kittel entgegen. Er stellte dem Professor den Hauptkommissar vor und erkundigte sich nach dem Befinden des Patienten. Siebels schätzte den Professor auf Anfang fünfzig. Er hatte eine hohe Stirn, trug eine goldumrandete Brille auf seiner dünnen Nase und war von schlaksiger Gestalt.

      »Da haben Sie uns ja ein Prachtexemplar geschickt«, stöhnte Rübsam. »Der Mann hat schwerwiegende Probleme. Ich habe ihn erst mal in die Neurologie rüberbringen lassen. Bevor ich ihn hier behandele und ihm Medikamente verabreiche, will ich die neurologischen Befunde vorliegen haben. Wahrscheinlich werden ihn die Kollegen aber dort in der Epilepsie-Spezialambulanz behalten.«

      »Epilepsie?«, erkundigte sich Siebels.

      »Ja. Und zwar in einer sehr ausgeprägten Form. Ich gehe davon aus, dass er schon lange darunter leidet und noch nicht in fachmännischer Behandlung war. Darüber hinaus hat er aber auch noch andere Probleme. Probleme psychischer Art. Er hat auf der Station einen schweren epileptischen Anfall erlitten. Als wir ihn unter Kontrolle gebracht hatten, fing er an, seine Stirn gegen die Wand zu schlagen. Zum Glück waren die Polizisten, die ihn gebracht haben, noch anwesend. Drei Mann mussten ihn auf das Bett drücken, bis wir ihn dort anbinden konnten. Er hat sich die Stirn blutig geschlagen und ich vermute, er hat es nicht zum ersten Mal getan.«

      »Ich hoffe, die Beamten sind noch bei ihm?«, erkundigte sich Siebels.

      »Davon gehe ich aus«, bestätigte Rübsam.

      »Hat er was gesagt?«

      »Ja. Aber fragen Sie mich nicht, was. Er spricht in verschiedenen Sprachen, aber meist nur in kurzen Satzfetzen. Er erregt sich sehr schnell und fällt dann urplötzlich wieder in eine Art Trance. Deswegen ist er auch für uns ein interessanter Fall. Aber die Behandlung der epileptischen Anfälle hat jetzt Vorrang.«

      »Deutsches war nicht dabei?«, erkundigte sich Siebels und sah Schlimmes auf sich zukommen.

      »Doch, einen Ihrer Kollegen beschimpfte er als Hurensohn, als wir ihn ans Bett gebunden haben. Haben Sie seine Identität schon klären können?«, wollte Rübsam wissen.

      »Nein. Leider nicht. Vielleicht frage ich ihn einfach und hoffe, dass er auf Deutsch antwortet.«

      »Falls er das nicht tut, habe ich noch einen Hinweis. Ich weiß aber nicht, ob Ihnen das weiterhilft.«

      »Im Moment nehme ich jeden Hinweis dankbar entgegen.«

      »Auf seinem Oberarm hat er eine Tätowierung. Sieht aus wie selbstgemacht, auf keinen Fall von einem professionellen Tätowierer. Es sind vier Buchstaben: O-C-S-O.«

      Siebels notierte sich die vier Buchstaben. Rübsam verabschiedete sich. Siebels und Petri entschlossen sich, den Weg von der Psychiatrie zur Neurologie zu Fuß zurückzulegen.

      Der Streifenwagen, der Till zur Liebfrauenkirche gefahren hatte, parkte direkt an der Hauptwache. Im vorweihnachtlichen Einkaufstrubel ging es im Zentrum von Frankfurt zu wie in einem Ameisenhaufen. Zu Tausenden strömten die Menschen auf die Zeil. Die Einkaufsmeile war das Mekka der Konsumenten aus dem Rhein-Main-Gebiet und sie pilgerten in Scharen herbei. Kaufhof, Karstadt, Woolworth und all die anderen hatten die Pforten geöffnet und die Schaufenster dekoriert. Aus den oberen Etagen der Bankentürme schauten die Herren des Geldes dem Treiben zu und rieben sich die Hände. Die Konsumenten waren wieder da, zusammengepfercht in Herden strömten sie durch die Konsumtempel. Die Kassen klingelten, aus den Lautsprechern rieselte leise der Schnee, der Aufschwung war auch unten angelangt und prallte zurück nach oben. Die Wirtschaft florierte und die Obdachlosen froren. Till liebte dieses Durcheinander von Arm und Reich. Der Unternehmensberater auf dem Weg zum Delikatessengeschäft, der Obdachlose mit einem Schild in der Hand. Habe Hunger. In der anderen Hand eine Flasche Weinbrand. Dazwischen der Mann aus Afrika, der lauthals in die Menge schrie. Glaube an Jesus und du wirst gerettet werden. Menschen in grünen Uniformen mit baumelnden Schlagstöcken an den Hüften mischten sich unter das Volk. Junge Mädchen trotzten der Kälte und zeigten nackte Hüften, Tierschützer rollten Plakate von verunstalteten Hunden aus. Männer mit schwarzen langen Bärten priesen islamische Schriften an, Frauen mit blonden Rastalocken ihre selbstgemalten Bilder von Frankfurt und New York. Die Hauptwache pulsierte, das Herz der Stadt schlug wild. Die U-Bahnen brachten minütlich Nachschub an Konsumenten, an den Parkhäusern leuchteten rote Schilder. Besetzt. Taxifahrer luden Leute in ihre Taxen und vollgepackte Tüten in die Kofferräume. Die Rolltreppen aus den U-Bahn-Schächten brachten die Neuankömmlinge ans Tageslicht, die Früheinkäufer standen bereits hoch oben auf den Aussichtsterrassen und tranken einen Glühwein.

      Zwischen dem Kino und dem Sportpalast stand still und erhaben die Liebfrauenkirche. Till blieb einen Moment vor der braunen Holztüre stehen. Plakate gaben Termine für Orgelkonzerte und Gottesdienste bekannt. Die Tür öffnete sich. Eine alte, gekrümmte Frau kam heraus aus dem Haus der Stille. Till ging hinein. Die Holztür schlug langsam hinter ihm zu. Überrascht stellte er fest, dass er eine Schwelle übertreten hatte. Die Grenze zwischen Hektik und Ruhe. Still und andächtig


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