Die böse Begierde. Stefan Bouxsein

Die böse Begierde - Stefan  Bouxsein


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Diener des Herrn und erfährst all das, wonach die Seele des Waisen sich ein Leben lang sehnt. Nimm es als Geschenk Gottes und sieh in mir den Vater, den du nie hattest. Den Vater, dem der Sohn die Fragen stellt, die er im Herzen trägt. Du bist mir willkommen zu jeder Zeit, sei es am Tag oder in der Nacht.«

      Wortlos nahm er die Hand des Abts und küsste sie. Dann ging er seines Weges. Zurück in seine Zelle. Zurück zu dem braunen Ledereinband. Zurück zu seinen Wurzeln.

      

      Till fand Siebels und Petri mit Frau Bromowitsch in einem der vier kleineren Zimmer im Untergeschoss. Frau Bromowitsch fing gerade an, über die Familie zu erzählen.

      »Das Unternehmen, die Arenz-Werke, wurde von Walter Arenz in der Nachkriegszeit gegründet. Die Werke gingen aus einer Schlosserei hervor, die der Vater von Walter Arenz bereits betrieben hatte. Nach dem Krieg sammelte Walter Arenz Schrott aus den Trümmern im zerbombten Frankfurt und verarbeitete ihn in seiner Schlosserei weiter. Als Schmied und Schlosser stellte er her, was gebraucht wurde. Bald schon vergrößerte er sein Geschäft und spezialisierte sich auf Fahrradrahmen, die er in großen Stückzahlen produzieren ließ. 1950 heiratete Walter Arenz Wilhelmine Liebig. Sie war Kriegswitwe und hatte einen Sohn, Hermann, den Walter Arenz aber nicht adoptierte. So blieb der Name Liebig erhalten. 1952 brachte Wilhelmine Peter zur Welt und ein Jahr später die Tochter Klara. Hermann Liebig wuchs mit seinen Halbgeschwistern auf. Peter und Klara kamen später in ein Schweizer Internat, als sie etwa fünfzehn Jahre alt waren. Das Unternehmen von Walter Arenz wuchs in den fünfziger Jahren rasant. Er verarbeitete Blech in großen Mengen und belieferte bald die Industrie in ganz Deutschland. Ende der Fünfziger beschäftigte er bereits 300 Leute in mehreren Fabriken. In den sechziger und siebziger Jahren avancierte er zu einem Hauptlieferanten der Automobilindustrie. Hermann Liebig war nach seinem Studium in das Unternehmen eingetreten und entpuppte sich als tüchtiger Geschäftsmann. Bereits als junger Student arbeitete er in der Firmenleitung mit. Außer ihm waren seine Mutter Wilhelmine und Walter Arenz mit der Führung des Unternehmens befasst. Wilhelmine kümmerte sich in erster Linie um die Buchhaltung und die Finanzen. Hermann war maßgeblich für die fortschreitende Automatisierung in den Werken zuständig und schaffte somit den Grundstein für weiteres Wachstum. Er war die treibende Kraft im Unternehmen, trotzdem bevorzugte Walter Arenz seine eigenen Kinder und hatte oft Streit mit Hermann. Peter Arenz studierte auf Drängen seines Vaters Betriebswirtschaft, Klara Arenz setzte ihren eigenen Kopf durch und studierte Journalistik. Walter Arenz starb 1973 im Alter von 58 Jahren. Die Firma gehörte fortan Wilhelmine sowie Peter und Klara. Hermann wurde geschäftsführender Direktor, erbte aber keine Unternehmensanteile von seinem Stiefvater. Wilhelmine kümmerte sich weiter um die Finanzen und gründete eine Holding, in der die Firmenaktivitäten gebündelt wurden. In den achtziger und neunziger Jahren investierte Hermann Liebig in Indien. Gemeinsam mit seiner Mutter verbrachte er ein halbes Jahr in Bombay. Sie bauten dort eine große Fabrik und kauften später mehrere Unternehmen in Europa und in den USA auf. Das erwies sich als sehr klug. Das Unternehmen wuchs ständig weiter. Heute ist es ein weltweiter Konzern mit einem internationalen Management, an dessen Spitze Hermann und Eva in der Holding sitzen.«

      »Sie wissen aber viel über die geschäftlichen Dinge«, staunte Siebels. Frau Bromowitsch lächelte verlegen. »Ja, ich weiß das meiste von Magdalena. Sie hat oft mit mir darüber gesprochen, wenn wir die Zeit miteinander hier im Haus verbracht haben. Sie war von Wilhelmine als ihre Nachfolgerin vorgesehen worden. Aber die Krankheit ließ das nicht zu.«

      »Seit wann arbeitet Eva Liebig im Unternehmen mit?«, fragte Siebels weiter.

      »Schon sehr lange. Kurz nach Magdalenas Geburt stellten die Ärzte fest, dass sie an einer schweren Form von Epilepsie litt. Eva Liebig konnte mit der Krankheit ihrer Tochter nicht umgehen. Sie fühlte sich überfordert. Wilhelmine stellte mich damals als Kindermädchen für Magdalena und deren Halbschwester Sarah ein. Sarah war zwei Jahre älter als Magdalena und stammte aus der ersten Ehe von Hermann Liebig. Sarahs Mutter war bei der Geburt gestorben und Hermann hatte nach einer kurzen Trauerzeit Eva geheiratet. Sarah und Magdalena waren ein Herz und eine Seele. Aber Eva fühlte sich zunehmend nutzlos im Haus. Wilhelmine nahm Eva eines Tages mit in die Firma. Sie wollte ihr einfach mal etwas Abwechslung bieten. Eva war aus dem gleichen Holz geschnitzt wie Wilhelmine, sie lernte viel von ihr und bildete sich in Abendkursen weiter. Gegen den Willen von Walter setzte Wilhelmine Eva einige Jahre später offiziell als Mitglied der Firmenleitung ein. Eva wurde dann Anfang der siebziger Jahre Personalchefin und wechselte zirka zehn Jahre später in das Marketing. Walter Arenz blieb zwar bis zu seinem Tod 1973 die oberste Instanz im Unternehmen, konnte sich aber selten durchsetzen, wenn Wilhelmine, Eva und Hermann anderer Meinung waren als er. Die Familie Liebig war immer dominierend bei den Arenz-Werken. Das ist bis heute so geblieben.«

      »Das ist sehr interessant«, murmelte Siebels und überlegte, ob das alles etwas mit dem Mord an Magdalena Liebig zu tun haben könnte.

      »Wie sind denn die Verhältnisse im Unternehmen seit dem Tod von Wilhelmine Liebig?«, wollte Siebels wissen.

      »Schwierig«, seufzte Frau Bromowitsch. »Hermann und Eva führen die Geschäfte. Aber Peter und Klara Arenz halten fast die Hälfte der Anteile am Unternehmen. Und die Liebigs sind jetzt beide 67 Jahre alt. Es gab viel Streit in der Zeit nach Wilhelmines Ableben. Aber über die jüngsten Ereignisse kann ich Ihnen leider nicht mehr viel erzählen. Da sprechen Sie am besten mit Dr. Jürgens. Er ist der Anwalt der Familie. Seine Kanzlei kümmert sich auch um die Vermögensverhältnisse der Familie.«

      Siebels bedankte sich vorerst für die ausführlichen Informationen und notierte sich noch die Adressen des Anwalts und des Hausarztes Dr. Breuer sowie die von Sarah Liebig und Peter und Klara Arenz.

      »Was macht eigentlich Sarah Liebig?«, erkundigte sich jetzt noch Till.

      »Sarah ist Künstlerin. Sie malt.«

      »Das schwarze Schaf der Familie?«, erkundigte sich Siebels.

      »Oh nein. Sarah ist eine sehr begabte Malerin und wird von allen sehr geschätzt. Als Malerin und als Mensch.«

      Die Spurensicherung hatte ihre Arbeit beendet und die Männer vom Bestattungsunternehmen kamen ins Haus.

      »Auf direktem Weg in die Gerichtsmedizin«, gab Dr. Petri ihnen Anweisung.

      »Ich hätte noch eine Bitte«, kam Siebels nochmals auf Frau Bromowitsch zu. »Könnten Sie bitte mit unseren Kollegen von der Spurensicherung noch einmal alle Räume nach der Kleidung des fremden Mannes absuchen? Sie wissen doch sicherlich, was Herrn Liebig gehört und was eventuell zu dem nackten Mann gehören könnte?«

      »Ja, natürlich«, versicherte die Haushälterin, die wieder zu schluchzen anfing, als der Leichnam die Treppe heruntergebracht wurde.

      In der Jackentasche von Siebels erklang eine Mundharmonika. Die Melodie von »Spiel mir das Lied vom Tod« ertönte genau in dem Moment, als der Sarg mit Magdalena Liebig an ihm vorbeigetragen wurde. Das Handy war nagelneu. Sabine hatte es ihm gestern geschenkt, weil sein Altes den Schleudergang bei der Kochwäsche nicht vertragen hatte. Der Klingelton mit der Bonanza-Melodie auf seinem alten Handy hatte bei den Kollegen immer für Erheiterung gesorgt. Jetzt starrte sogar Till ihn entsetzt an. Dummerweise stand auch Jensen nur zwei Meter von ihm entfernt und schaute mit offenem Mund abwechselnd zu Siebels und zu dem Sarg, der gerade durch die Villa der Eingangstür getragen wurde. Frau Bromowitsch schluchzte daraufhin noch lauter. Siebels stammelte eine Entschuldigung, fischte umständlich nach dem Handy und nahm verärgert den Anruf entgegen. Es war Sabine.

      Jensen ging kopfschüttelnd davon und Petri reichte der Haushälterin ein frisches Taschentuch.

      »Hallo mein Schatz«, meldete sich Sabine fröhlich.

      »Vielen Dank für den pietätlosen Klingelton«, brummte Siebels missgelaunt.

      »Gefällt er dir nicht?«

      »Doch doch. Suuuper. Vor allem, wenn im gleichen Moment ein Mordopfer an mir vorbeigetragen wird. Das macht Eindruck auf die Angehörigen.«

      »Ups. Sorry. Sollte


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