Die böse Begierde. Stefan Bouxsein

Die böse Begierde - Stefan  Bouxsein


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Eine unbemerkte Schwangerschaft wäre durchaus möglich gewesen. Aber ich bin mir sicher, dass sie mir spätestens ein paar Tage nach dem Ableben von Wilhelmine einen Enkel präsentiert hätten, wenn es einen gäbe. Das haben sie aber nicht und mir ist auch nicht bekannt, dass sich einer von beiden auf die Suche nach unbekannten Erben gemacht hätte.«

      Siebels dachte an verschollene Enkel, auf die Unternehmensanteile im Wert von mehreren Milliarden Euro warteten. Und dann dachte er an den nackten Mann, der anscheinend an Epilepsie litt, so wie Magdalena.

      9

      Mit schweren Schritten ging er zum stillen Gebet ins Oratorium. Er hatte gewartet, bis die Brüder die gemeinsame Gebetszeit beendet hatten. Er wollte alleine sein mit seinen Gedanken und mit Gott. Zeit seines Lebens war er ein Koinobit gewesen. Ein Mönch in der klösterlichen Gemeinschaft. Sein Leben verlief in einem festen Gefüge, geschützt hinter dicken Mauern. Die Stunden am Tage und die Stunden der Nacht hatte er stets gemäß den Regeln der Benediktiner und des Wortes des Abtes auszufüllen gehabt. Die Gebetszeiten, die Tischzeiten, die Arbeitszeiten, sie wiederholten sich Tag für Tag. Es blieb kein Raum für Taten, die dem Willen Gottes widersprachen. Nun schien es ihm, als würde die Welt kopfstehen und die Zeit rückwärtslaufen. Er mied die Gemeinschaft und suchte die Einsamkeit. Er versuchte, sich die Vergangenheit vorzustellen, und dachte zum ersten Mal über die Zukunft nach. Sein ganzes Leben hatte aus Gegenwart bestanden. Er hatte sich nicht für Fisch oder Fleisch entscheiden müssen, weil doch nur Brot zu haben war. Noch stand er ganz am Anfang. Noch lag der größte Teil der Vergangenheit verschlossen vor ihm in dem braunen Ledereinband. Noch konnte er auch den Rest seines Lebens in der Allgegenwart des Klosters verbringen. Aber er ahnte, dass es eine Zukunft für ihn geben würde, wenn er die Vergangenheit erst kennen gelernt hatte. Eine Zukunft, zu der er nur gelangen konnte, wenn er die schützenden Mauern des Klosters verlassen würde. Wenn seine Schritte und seine Gedanken sich an die Zeit anpassen würden. An die Zeit der Welt. Die Zeit, die den Menschen mit sich trieb, immer der Zukunft entgegen. Der Zukunft, die dem Menschen immer einen Schritt voraus war. Was dann hinter einem lag, war verlorene Zeit und Vergangenheit, und die Zukunft war wieder einen Schritt voraus. Kein Tag würde mehr wie der andere sein und was gestern wahr erschien, war morgen nur noch Illusion. Ihm graute vor diesen Gedanken und er fühlte eine tiefe Leere in sich aufsteigen. Er ging auf die Knie, versank im Gebet.

      Mit der Gewissheit, nicht alleine zu sein, sondern vereint mit Gott, ging er zurück in seine Zelle. Dort wartete die Vergangenheit auf ihn im braunen Ledereinband. Noch wusste er das bereits Gelesene nicht zu deuten. Noch war die Vergangenheit ein Rätsel. Doch mit jeder Seite, die er las, kam die Vergangenheit ein Stück näher.

       Der Winter 1941/1942 war hart und kalt und mein Bauch wurde dicker. Die Fabrik musste immer mehr Munition liefern und Fritz durfte wieder aus dem Archiv. Nun wurde er tatsächlich gebraucht. Propofski war eines Tages nicht mehr in der Fabrik erschienen. Niemand wusste, wo er geblieben war. Es gab Gerüchte, die SS hätte ihn abends aus seiner Wohnung geholt. Ich schloss ihn noch stärker in meine Gebete ein und bestärkte Fritz in dem Gefühl, dass die Fabrik ohne ihn die Munition nicht liefern könne, die an der Front so dringend benötigt wurde. Die deutschen Soldaten saßen noch immer an der Ostfront im russischen Winter fest. Fritz saß abends im warmen Sessel und lauschte der Stimme im Radio. Die von den Russen im Schnee und Eis eingeschlossenen Verbände ließ der Führer von der Luft aus versorgen. Fritz bekam seine Kartoffelsuppe von mir immer ins Wohnzimmer getragen. Er freute sich auf sein drittes Kind und spielte mit den Zwillingen. Karl und Hermann entwickelten sich prächtig. Zwei gesunde Jungs hatte Fritz dem Führer geschenkt, war er sich sicher. Ich hatte da meine Bedenken. Heimlich hatte ich mir im Krankenhaus, wo ich als Schwester noch immer stundenweise tätig war, medizinische Fachliteratur angeschaut. Viel konnte ich nicht herausfinden. Was mich beruhigte, war die Erkenntnis, dass Epilepsie nicht vererbbar war. Die schlechte Nachricht war, dass es Ausnahmefälle gab. Diese waren aber anscheinend Grund genug, Epilepsieerkrankte im Hitlerdeutschland entweder sterilisieren oder ganz verschwinden zu lassen. Ich wollte kein Risiko eingehen und mischte die Tropfen fortan nicht nur in den Tee von Fritz, sondern auch in die Milch der Zwillinge.

       Im März 1942 brachte ich ein gesundes Mädchen auf die Welt. Wir nannten sie Erika. Ich war froh, dass es ein Mädchen geworden war. Auch sie bekam fortan die Tropfen. Nun hatte ich schon vier in der Familie, die ich mit der Medizin versorgte. Als mir Schwester Hildegard im Mai 1942 mitteilte, dass sie mir die Tropfen nicht mehr geben könnte, brach meine kleine heile Welt zusammen. Die Kranken wurden ausgerottet, die Medizin war überflüssig geworden. Fritz war mittlerweile wieder der festen Überzeugung, dass die Frühjahrsoffensive der Ostfront ohne ihn nicht stattfinden konnte. Nun hatte ich weder Propofski noch die Medizin, dafür drei Kinder, von denen ich nicht wusste, ob sie früher oder später von Krampfanfällen heimgesucht werden würden, und einen Mann, der eher früher als später wieder die Kontrolle über seine Muskeln verlieren würde.

      

      Dr. Breuer empfing Till in Bademantel und Hausschuhen. Er war bereits 79 Jahre alt, wie er Till nicht ohne Stolz mitteilte, und praktizierte nur noch sporadisch. Er kümmerte sich nur noch um einige spezielle Patienten. Magdalena Liebig war die Jüngste gewesen, die noch zu dem erlauchten Kreis seiner Kundschaft gehört hatte. Dr. Breuer besaß ein gepflegtes Zweifamilienhaus im Frankfurter Stadtteil Goldstein. In seiner Praxis im Erdgeschoss praktizierte ein junger Arzt aus Jordanien, der in absehbarer Zeit zurück in die Heimat wollte. Dann musste sich Dr. Breuer überlegen, ob er die Praxis ganz schließen oder einen neuen Kollegen ins Haus holen wollte. Das alles erzählte er Till auf dem Weg von der Haustür zur Wohnung in der ersten Etage. Dr. Breuer war ein gesprächiger Mann, der nach jeder zweiten Treppenstufe eine kleine Pause einlegte und Till ein wenig von sich preisgab. Als sie das Wohnzimmer betraten, nahm Till auf der Couch Platz.

      »Seit wann war Frau Liebig denn bei Ihnen in Behandlung?«, erkundigte sich Till, der bisher noch gar nicht zu Wort gekommen war.

      Der alte Arzt kratzte sich nachdenklich am Kopf. »Seitdem sie ein Kleinkind war. Wie lange ist das eigentlich her?«

      »Sie wurde 1965 geboren«, half Till ihm auf die Sprünge.

      »Wann wurden Sie denn geboren?«, erkundigte sich Dr. Breuer.

      Till schaute ihn mit großen Augen an. Entweder war der Mann völlig verwirrt oder ziemlich neugierig. Aber da sein Alter kein Staatsgeheimnis war, verriet er dem Arzt, dass er 1972 das Licht der Welt erblickt hatte.

      »Aha. Genau wie Abdul.«

      Till befürchtete, dass die Verwirrung bei seinem Gesprächspartner deutlich größer war als die Neugierde. »Abdul?«

      »Abdul. Der junge Mann, der in meiner Praxis arbeitet. Der aus Jordanien. Das habe ich Ihnen doch erst vor fünf Minuten erzählt. Sie scheinen mir etwas verwirrt zu sein, junger Mann. Sind Sie überarbeitet?«

      Till kam sich vor wie ein Boxer, der in der ersten Runde k.o. gegangen war. »Entschuldigung. Abdul aus Jordanien. Natürlich. Ich war mit meinen Gedanken ganz bei Magdalena Liebig. Sie war doch in so einer Art Selbsthilfegruppe, wissen Sie etwas darüber?«

      »Oh, die Selbsthilfegruppe. Ja natürlich, ich habe Magdalena dringend empfohlen, sich dieser Gruppe anzuschließen. Das arme Mädchen hatte ja kaum Kontakte zur Außenwelt. Sie ging als Kind nicht zur Schule, sondern wurde von Privatlehrern unterrichtet. Wenn Sarah, ihre Halbschwester, nicht gewesen wäre, hätte sie gar keine Gleichaltrigen gekannt. Weder als Kind noch als Jugendliche. Mit sechszehn hat Sarah das Haus verlassen. Ich glaube, sie ging nach Berlin und studierte dort. Magdalena bekam daraufhin Depressionen. Ihre Mutter war drauf und dran, sie zusätzlich noch in psychiatrische Behandlung zu geben. Da habe ich die Selbsthilfegruppe empfohlen. Möchten Sie einen Kaffee?«

      »Ein Tee wäre gut. Mein Bedarf an Kaffee ist für heute schon gestillt.«

      Dr. Breuer schlurfte im Bademantel in die Küche und


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