Leben statt kleben. Birgit Medele
offen für Neues, kunstinteressiert, Reformer, Revolutionärin, ein guter Vater… Ich habe Tiefgang, den Durchblick, Interesse an persönlicher Entwicklung...“ Was steht als Überschrift auf Ihren Regalen, in unsichtbarer Tinte?
Wir wollen respektiert und geliebt werden und benutzen Dinge, um zu kommunizieren: „So einzigartig bin ich! Bitte mögt mich dafür!“ Dabei wissen wir: Andere schätzen uns nicht wegen unseres Krams. Wenn wir Leute oft zum Lachen bringen, brauchen wir keine siebzehnbändige Witzeedition, um das der Welt zu beweisen. Und wenn wir nicht mit einem Übermaß an Humor gesegnet sind, nützt leider auch der ausgefallenste Fundus nichts. Wir kommunizieren durch unser So-Sein. Was wir sind, überstrahlt alles was wir sagen, horten oder tun.
Beim Thema Status vielleicht mal kurz wegdenken vom Klischee des roten Sportwagens. Statussymbole sind Hilfsmittel, um ein Image zu vermitteln und wir alle haben welche. Sie kommen in den unterschiedlichsten Formen daher. Für die einen sind es Marken, für andere der Protest gegen die Wegwerfgesellschaft: nur Bio- und Gebrauchtwaren, um sich von konsumberauschten, oberflächlichen Verschwendern abzugrenzen. Die große Erleichterung kommt mit der Erkenntnis, dass wir andere nicht nur nicht beeindrucken müssen, es funktioniert sowieso nicht. Wir sind nicht, was wir haben. Wir sind was wir sind. Unsere Geschichte. Ein Puzzle aus universalen Erfahrungsbausteinen, angeordnet in einzigartiger Variation. Wie wär‘s mit der Erweiterung einer ganz besonderen, vor Jahren begonnenen Kollektion? Es fehlt sicher noch einiges zur Komplettierung. Eine Traumreise vielleicht, ein Kurs oder eine Begegnung. Etwas, was wir schon immer mal ausprobieren wollten. Unsere Sammlung von Erfahrungen müssen wir nie abstauben. Und das Beste: Wir können sie am Ende sogar mitnehmen.
Das „Richtige“ tun
Der Entsafter steht seit Ewigkeiten unbenutzt im Schrank. Weit mehr als nur ein verstaubendes Küchengerät symbolisiert er unsere Ambitionen auf einen gesunden Lebensstil. Wir können uns nicht trennen, da wir das Richtige tun wollen. Keine Fehler machen, nichts verschwenden, niemanden verletzen und Applaus dafür. Wir sind besondere Blumen, wir blühen am liebsten, wenn gerade jemand hinschaut. Anerkennung ist ein Grundbedürfnis. Daher tun wir uns schwer, endgültige Entscheidungen zu treffen, Schlussstriche zu ziehen und Geschenke oder Ererbtes weiterzugeben. Um Schuldgefühle zu vermeiden, lassen wir uns zu Erstaunlichem verführen. Eine Klientin nahm am Ende eines Fluges zwanzig Plastikbeutel mit dem Logo der Fluglinie, Mini-Zahnpastatuben und Einmalbesteck mit, da das sonst im Müll gelandet wäre. Wir belasten uns mit Unbrauchbarem, da wir „Verschwendung“ nicht ertragen. Direkt unter der Staubschicht liegt die Schuldschicht. „Das hat soviel gekostet.“ Die Fehlinvestition lässt sich durch Nichtstun nicht rückgängig machen. Warum lenken wir uns mit selbsterfundenen Währungen ab, statt die wirklichen Kostbarkeiten als teuer zu bezeichnen? Warum zählen wir Lebenszeit nur bei Neugeborenen ehrfürchtig in Tagen?
Andere Klebstoffe: „Das wollte ich doch irgendwann nochmal (fertig) machen.“ Wollen wir wirklich? Wann? „Diesen Ring hat schon meine Urgroßmutter getragen.“ Wir verletzen das Andenken an Verstorbene nicht, wenn wir deren Dinge in Frieden weiterziehen lassen. Eine Seminarteilnehmerin hatte ihr kleines Wohnzimmer mit Klavier und Orgel ihrer verstorbenen Mutter verbarrikadiert, obwohl sie diese Instrumente nie spielen wollte. Der Raum war so voller Erinnerungen, dass sich die Tür kaum öffnen ließ. Sie hatte jahrelang keinen Zugang zum Herzstück ihrer Wohnung, konnte sich nicht mehr mit Freunden auf die Couch setzen. Weil sie es nicht über’s Herz brachte „meine Mutter wegzuwerfen.“ Unsere lieben Verstorbenen erwarten nicht, dass wir uns aus Trauer und Verpflichtungsgefühlen gleich mitbegraben. Sie wollen, dass wir glücklich sind.
In unseren Breitengraden ist es Tradition, Wertschätzung durch die Überreichung eines Gegenstands auszudrücken. Das Geschenkpapier ist ab: „Oh nein, bitte, was ist das denn?!“ Gleichzeitig versuchen, ein Lächeln auf die Lippen zu zaubern und Enthusiasmus aufzubringen für Pullunder oder Blümchenvase, die mit unserem Stil rein gar nichts zu tun haben. Wenn wir trotzdem ein herzliches Dankeschön sagen, ist das keine Heuchelei. Wir bedanken uns für Mühe, Zeit und Geld, die die Schenkenden investiert haben, um uns eine Freude zu machen. Wir nehmen die Essenz voller Dankbarkeit an: Liebe – symbolisiert in einer Gabe. Wenn wir diesen Schatz im Herzen bewahren, können wir den Gegenstand weiterziehen lassen. Im Vertrauen darauf, dass er ein Zuhause findet, wo er geschätzt und gebraucht wird. Geschenkideen sind eine Herausforderung, da wir in der Regel bereits mehr besitzen, als sich sinn- und lustvoll in unser Leben integrieren lässt. Eine Klientin erzählte, dass ihre Mutter sie eines Tages bat, ihr nur noch Dinge zu schenken, die sie wieder zurückhaben wollte. Seitdem gibt‘s zum Geburtstag Einladungen ins Theater oder Restaurant. Keinerlei Sorgen, ob die Beschenkten die Erfahrung etwa schon haben. Schöne Erlebnisse nehmen keinen Platz weg und haben kein Verfallsdatum!
„Ich habe da dieses kostbare Ding, möchte es aber nicht ‚verschwenden‘ und daher nur in gute Hände abgeben.“ Am liebsten mit schriftlicher Bestätigung, dass die Empfänger sich als garantiert würdig, bedürftig und zutiefst dankbar erweisen. – Sind wir das? Ist das Ding bei uns in guten Händen? Gibt es eine tragischere Vergeudung, als etwas unbenutzt vor sich hin verstauben zu lassen? Stellen wir uns vor, welche Begeisterung das Teil bei jemand anderem auslösen könnte. Wir stehen dieser Freude im Weg, solange wir nicht loslassen wollen. Musikinstrumente, bei uns für immer verstummt (nein, die Kinder wollen sie in 35 Jahren auch nicht haben), könnten anderswo weiterklingen.
Ein beliebter Vorwand, um an Unbenutztem kleben zu bleiben: „Ich weiß nicht, wo ich das hingeben kann und einfach wegwerfen will ich es nicht.“ Wo ein Wille ist, findet sich der Weg. Am Tag nach der Kleidersortieraktion landet ein Wurfzettel im Briefkasten: eine Wohltätigkeitsorganisation holt Ende der Woche Kleidung ab. Es weiß immer jemand Bescheid, wo gerade gesammelt wird. Kinderheim, Frauenhaus, Obdachlosenunterkunft, die innere Mission oder Oxfam entlasten uns gerne. Als Mitglied bei www.de.freecycle.org genügt eine E-Mail und jemand holt sperrigeren Kram ab. Auf der nächsten Party verkündet ein Karton voller aussortierter Bücher den Gästen in Druckbuchstaben: „Wer will mich? Geschenke für alle!“ Solche Freudenbringer stehen auch gerne in Treppenaufgängen im Block herum und beglücken die Nachbarn. Oder sie wagen sich bis auf die Straße hinaus, unerschrocken auf dem Weg in ihr neues sinnerfülltes Leben. Gewächse samt Übertopf ziehen aus. Wir sind ihrer überdrüssig geworden, rebellieren gegen ihr Immer-noch-dasein oder Zu-groß-gewachsen-sein mit der Weigerung, sie umzutopfen. Enthalten ihnen sogar das Wasser vor und haben ob dieser schleichenden Vernichtung ein riesig schlechtes Gewissen. Wir wollen ja niemanden umbringen. Nur diesen Gummibaum nicht mehr in unserem Leben haben. Vor’s Haus damit, anderen fehlt zum vollendeten Wohnungsglück nur noch die überdimensionale Grünpflanze. Die neuen Besitzer werden sie mit aller Liebe und allem Wasser überschütten, die sie braucht. Wir sind wieder ein freier Mensch. Alle glücklich.
Wenn wir uns um die angebliche Verschwendung von Jackett oder Bildband sorgen, versuchen wir, auf einem Rettungsring aus Stoff und Papier der Verantwortung davonzutreiben. Rettungsringe basteln bringt willkommene Ablenkung von ernsthafterer Vergeudungsgefahr – der von Lebenszeit. Tage wollen nicht herumgebracht werden. Zeit ist nicht zum Totschlagen da. Die herzzerreißendste Verschwendung liegt jenseits der Dingewelt. Im Verplempern einer Woche, eines Nachmittags. Wir machen uns in den Stunden breit, als ob das nächste Morgengrauen auf Ewig garantiert wäre.
Was wir tun, verblasst vor dem wie. Wie wollen wir durch das Geschenk dieses einmaligen Tages gehen? Kein Lächeln mehr verpassen. Nicht übersehen, wie der Nebel in den Bäumen hängt und der Wind mit den Blättern fangen spielt. Mitsummen, einstimmen, in den luftig klingenden Glanz des Jetzt.
Innere Rebellionen ausleben
Wenn wir in einem Umfeld aufwuchsen, in dem Aufräumen Strafe war, setzen wir Unordnung vielleicht mit Freiheit gleich. Allen Klischees zum Trotz gedeiht Kreativität aber nicht im Chaos. Nach der Genialphase braucht die zündende Idee ihre bodenständigeren Geschwister Disziplin und Organisation, um erfolgreich umgesetzt zu werden. Organisieren heißt nicht, auf ewig Etiketten zu kleben und jeglicher Spontaneität auf Nimmerwiedersehen zu winken. Im Gegenteil. Je größer das Chaos, desto mehr Notfalleinsätze und Ausbügeln, Zeit zum Auftanken wird knapp, Staunen und Lebendigsein zum Luxus. Organisation bringt ein Ende des Stillstands und Freiraum für Entwicklung. In der Natur bleibt