August Bebel - Die Frau und der Sozialismus. Bebel August
Über die Lage der Frauen als Geschlechtswesen äußert sich Professor v. Krafft-Ebing 68: »Eine nicht zu unterschätzende Quelle für das Irresein beim Weib liegt dagegen wieder in der sozialen Position desselben. Das Weib, von Natur aus geschlechtsbedürftiger als der Mann, wenigstens im idealen Sinne, kennt keine andere ehrbare Befriedigung dieses Bedürfnisses als die Ehe (Maudsley).
Diese bietet ihm auch die einzige Versorgung. Durch unzählige Generationen hindurch ist sein Charakter nach dieser Richtung hin ausgebildet. Schon das kleine Mädchen spielt Mutter mit seiner Puppe. Das moderne Leben mit seinen gesteigerten Anforderungen bietet immer weniger Aussichten auf Befriedigung durch die Ehe. Dies gilt namentlich für die höheren Stände, in welchen die Ehen später und seltener geschlossen werden.
Während der Mann als der Stärkere, durch seine größere intellektuelle und körperliche Kraft und seine freie soziale Stellung, sich geschlechtliche Befriedigung mühelos verschafft, oder in einem Lebensberuf, der seine ganze Kraft beansprucht, leicht ein Äquivalent findet, sind diese Wege ledigen Weibern aus besseren Ständen verschlossen. Dies führt zunächst bewußt oder unbewußt zu Unzufriedenheit mit sich und der Welt, zu krankhaftem Brüten. Eine Zeitlang wird vielfach in der Religion ein Ersatz gesucht, allein vergeblich. Aus der religiösen Schwärmerei, mit oder ohne Masturbation, entwickelt sich ein Heer von Nervenleiden, unter denen Hysterie und Irresein nicht selten sind. Nur so begreift sich die Tatsache, daß die größte Frequenz des Irreseins bei ledigen Weibern in die Zeit des 25. bis 35. Lebensjahres fällt, das heißt die Zeit, wo Blüte und damit Lebenshoffnungen schwinden, während bei Männern das Irresein am häufigsten im 35. bis 50. Jahre, der Zeit der größten Anforderungen im Kampfe ums Dasein, auftritt.
Es ist gewiß kein Zufall, daß mit der zunehmenden Ehelosigkeit die Frage der Frauenemanzipation immer mehr auf die Tagesordnung gelangt ist. Ich möchte sie als Notsignal eines mit der fortschreitenden Ehelosigkeit immer unerträglicher werdenden sozialen Verhältnisse des Weibes in der modernen Gesellschaft betrachtet wissen, einer berechtigten Forderung an diese, dem Weibe ein Äquivalent für das zu verschaffen, worauf es von der Natur angewiesen ist, und was ihm die modernen sozialen Zustände zum Teil versagen.«
Und Dr. H. Ploß sagt in seinem Werke »Das Weib in der Natur und Völkerkunde« 69, indem er die Wirkungen erörtert, die mangelnde Befriedigung des Geschlechtstriebs für unverheiratete Frauen im Gefolge hat: »Es ist im höchsten Grade bemerkenswert, nicht allein für den Arzt, sondern auch für den Anthropologen, daß es ein wirksames und niemals versagendes Mittel gibt, diesen Prozeß des Verwelkens (bei alternden Jungfrauen) nicht nur in seinem Fortschreiten aufzuhalten, sondern auch die bereits geschwundene Blüte, wenn auch nicht ganz in der alten Pracht, doch in nicht unerheblichem Grade wieder zurückkehren zu lassen, nur schade, daß unsere sozialen Verhältnisse in den allerseltensten Fällen seine Anwendung zulassen und ermöglichen. Dieses Mittel besteht in einem regelmäßigen und geordneten Geschlechtsverkehr. Man sieht nicht eben selten, daß bei einem bereits verblühten oder dem Verwelktsein nicht mehr fernstehenden Mädchen, wenn sich ihm noch die Gelegenheit zur Ehe bietet, bereits kurze Zeit nach seiner Vermählung alle Formen sich wieder runden, die Rosen auf den Wangen zurückkehren und die Augen ihren einstigen frischen Glanz wieder erhalten. Die Ehe ist also der wahre Jugendbrunnen für das weibliche Geschlecht. So hat die Natur ihre feststehenden Gesetze, welche mit unerbittlicher Strenge ihr Recht fordern, und jede vita praeter naturam, jedes unnatürliche Leben, jeder Versuch der Anpassung an Lebensverhältnisse, welche der Art nicht entsprechen, kann nicht ohne bemerkenswerte Spuren der Degeneration an dem Organismus, dem tierischen sowohl als auch dem menschlichen, vorübergehen.«
Es entsteht nun die Frage: Erfüllt die Gesellschaft die Anforderungen an eine vernünftige Lebensweise insbesondere des weiblichen Geschlechts? Und falls sie verneint wird, entsteht die Frage: Kann sie dieselben erfüllen? Müssen aber beide Fragen verneint werden, so entsteht die dritte: Wie können dieselben erfüllt werden?
65. Dr. G. Schnapper-Arndt, Sozialstatistik. S. 196. Leipzig 1908.
66. F. Prinzing, Handbuch der medizinischen Statistik. S. 356. Jena 1906.
67. H. Krose, Die Ursachen der Selbstmordhäufigkeit. S. 28. Freiburg 1906.
68. Lehrbuch der Psychiatrie. 1. Band, 2. Auflage. Stuttgart 1883.
69. Achte Auflage, 2. Band, S. 606. Leipzig 1905.
Achtes Kapitel
Die moderne Ehe
1. Die Ehe als Beruf
»Ehe und Familie sind die Grundlagen des Staates, wer daher Ehe und Familie angreift, greift die Gesellschaft und den Staat an und untergräbt beide«, rufen die Verteidiger der heutigen Ordnung. Die monogamische Ehe ist, wie zur Genüge bewiesen wurde, Ausfluß der bürgerlichen Erwerbs- und Eigentumsordnung, sie bildet also unbestreitbar eine der wichtigsten Grundlagen der bürgerlichen Gesellschaft, ob sie aber den natürlichen Bedürfnissen und einer gesunden Entwicklung der menschlichen Gesellschaft entspricht, ist eine andere Frage. Wir werden zeigen, daß diese auf den bürgerlichen Eigentumsverhältnissen beruhende Ehe mehr oder weniger Zwangsehe ist, die viele Übelstände aufweist und vielfach ihren Zweck nur unvollkommen oder gar nicht erreicht. Wir werden ferner zeigen, daß sie eine soziale Einrichtung ist, die für Millionen unerreichbar bleibt und keineswegs jene auf freier Liebeswahl beruhende Ehe ist, die, wie ihre Lobredner behaupten, allein dem Naturzweck entspricht.
Mit Bezug auf die heutige Ehe ruft John Stuart Mill: »Die Ehe ist die einzige wirkliche Leibeigenschaft, welche das Gesetz kennt.« Nach der Auffassung Kants bilden Mann und Frau erst den ganzen Menschen. Auf der normalen Verbindung der Geschlechter beruht die gesunde Entwicklung des Menschengeschlechtes. Die Befriedigung des Geschlechtstriebs ist eine Notwendigkeit für die gesunde physische und geistige Entwicklung des Mannes wie der Frau. Aber der Mensch ist kein Tier, und so genügt ihm für die höhere Befriedigung seines ungestümsten Triebes bloß physische Stillung nicht, er verlangt auch geistige Anziehungskraft und Übereinstimmung mit dem Wesen, mit dem er eine Verbindung eingeht. Ist diese nicht vorhanden, so vollzieht sich die geschlechtliche Vermischung rein mechanisch, und sie ist alsdann eine unsittliche. Der höherstehende Mensch verlangt, daß die beiderseitige Anziehungskraft auch über die Vollziehung des Geschlechtsaktes hinaus dauere und seine veredelnde Wirkung auf das aus der beiderseitigen Verbindung entsprießende Lebewesen ausdehne 70. Die Tatsache, daß solche Ansprüche in der heutigen Gesellschaft an unzählige Ehen nicht gestellt werden können, veranlaßt auch Varnhagen v. Ense, zu schreiben: »Was wir in dieser Art vor Augen hatten, sowohl von geschlossenen als von noch zu schließenden Ehen war nicht gemacht, uns von solcher Verbindung einen guten Begriff zu geben; im Gegenteil, die ganze Einrichtung, der nur Liebe und Achtung zugrunde liegen sollte, und die wir in allen diesen Beispielen eher auf alles andere gegründet sahen, wurde uns gemein und verächtlich, und wir stimmten schreiend in den Spruch von Friedrich Schlegel ein, den wir in den Fragmenten des ›Athenäums‹ lasen: Fast alle Ehen sind Konkubinate, Ehen an der linken Hand oder vielmehr provisorische Versuche und entfernte Annäherungen zu einer wirklichen Ehe, deren eigentliches Wesen nach allen geistigen und weltlichen Rechten darin besteht, daß mehrere Personen nur eine werden sollen« 71. Das ist ganz im Sinne Kants gedacht.
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