August Bebel - Die Frau und der Sozialismus. Bebel August
Menschen zu einem länger dauernden. Ein Paar, das in ein Eheverhältnis treten will, soll sich also darüber klar sein, ob sich die beiderseitigen Eigenschaften zu einer solchen Verbindung eignen. Die Antwort müßte aber auch unbeeinflußt erfolgen können. Das kann aber nur geschehen durch die Fernhaltung jedes anderen Interesses, das mit dem eigentlichen Zwecke der Verbindung, Befriedigung des Naturtriebs und Fortpflanzung des eigenen Wesens in der Fortpflanzung der Rasse, nichts zu tun hat und durch ein Maß von Einsicht, das die blinde Leidenschaft zügelt. Da jedoch diese Bedingungen in der gegenwärtigen Gesellschaft in ungemein zahlreichen Fällen nicht vorhanden sind, so ergibt sich, daß die heutige Ehe vielfach entfernt ist, ihren wahren Zweck zu erfüllen, und daß es daher nicht gerechtfertigt ist, sie als eine ideale Institution anzusehen.
Wie viele Ehen von ganz anderen Anschauungen aus, als den dargelegten, geschlossen werden, läßt sich nicht beweisen. Die Beteiligten sind interessiert, ihre Ehe vor der Welt anders erscheinen zu lassen, als sie in Wirklichkeit ist. Es besteht hier ein Zustand der Heuchelei, wie ihn keine frühere Gesellschaftsperiode in ähnlichem Maße kannte. Und der Staat, der politische Repräsentant dieser Gesellschaft, hat kein Interesse, Untersuchungen anzustellen, deren Resultat die Gesellschaft in ein bedenkliches Licht setzten. Die Maximen, die der Staat selbst in bezug auf die Verehelichung seiner Beamten und Diener verfolgt, vertragen einen Maßstab nicht, wie er der Ehe zugrunde liegen soll.
70. »Die Stimmungen und Gefühle, mit denen zwei Gatten sich nahen, üben unzweifelhaft einen ausschlaggebenden Einfluß auf die Wirkung des Geschlechtsaktes aus und übertragen gewisse Charaktereigenschaften auf das werdende Wesen.« Dr. Elisabeth Blackwell, The moral education of the young in relation to sex. Siehe auch Goethes »Wahlverwandtschaften«, der dort deutlich schildert, welche Wirkung die Gefühle ausüben, die zwei Menschen zu intimem Umgang führen.
71. Denkwürdigkeiten, 1. Band, S. 239. Leipzig, F. A. Brockhaus.
2. Der Rückgang der Geburten
Die Ehe soll eine Verbindung sein, die zwei Menschen aus gegenseitiger Liebe eingehen, um ihren Naturzweck zu erreichen. Dieses Motiv ist aber gegenwärtig in den seltensten Fällen rein vorhanden. Die große Mehrheit der Frauen sieht die Ehe als eine Versorgungsanstalt an, in die sie um jeden Preis eintreten muß. Umgekehrt betrachtet ein großer Teil der Männerwelt die Ehe vom reinen Geschäftsstandpunkt aus und erwägt und berechnet aus materiellen Gesichtspunkten die Vorteile und Nachteile derselben. Und selbst in die Ehen, für die niedrige und egoistische Motive nicht maßgebend waren, bringt die rauhe Wirklichkeit so viel Störendes und Auflösendes, daß nur in seltenen Fällen die Hoffnungen erfüllt werden, welche die Eheschließenden in ihrem Enthusiasmus erwarteten.
Das ist natürlich. Soll die Ehe beiden Ehegatten ein befriedigendes Zusammenleben gewähren, so erfordert sie neben der gegenseitigen Liebe und Achtung die Sicherung der materiellen Existenz, das Vorhandensein desjenigen Maßes von Lebensnotwendigkeiten und Annehmlichkeiten, das sie glauben für sich und ihre Kinder notwendig zu haben. Die schwere Sorge, der harte Kampf um das Dasein sind der erste Nagel zum Sarge ehelicher Zufriedenheit und ehelichen Glückes. Die Sorge wird daher um so größer, je fruchtbarer sich die eheliche Gemeinschaft erweist, also in je höherem Grade sie ihren Zweck erfüllt. Der Bauer zum Beispiel ist vergnügt über jedes Kalb, das seine Kuh ihm bringt, er zählt mit Behagen die Zahl der Jungen, die ein Mutterschwein ihm wirft, und mit Befriedigung berichtet er das Ergebnis seinen Nachbarn; aber er blickt düster, wenn seine Frau ihm zu der Zahl seiner Sprößlinge, die er glaubt ohne schwere Sorge erziehen zu können – und groß darf sie nicht sein –, einen neuen Zuwachs schenkt, um so düsterer, wenn das Neugeborene das Unglück hat, ein Mädchen zu sein.
Man darf also sagen, sowohl die Eheschließungen wie die Geburten werden von den ökonomischen Zuständen beherrscht. Am klassischsten zeigt sich dieses in Frankreich. Dort herrscht in der Landwirtschaft das Parzellensystem. Aber Grund und Boden, unter eine gewisse Grenze zerstückelt, ernährte keine Familie mehr. Daher das berühmt und berüchtigt gewordene Zweikindersystem, das sich in Frankreich zur sozialen Institution ausgebildet hat und sogar die Bevölkerung in vielen Provinzen, zum Schrecken der Staatslenker, fast stationär erhält, ja einen erheblichen Rückgang derselben verursacht. Was die Entwicklung der Warenproduktion und der Geldwirtschaft auf dem Lande verursacht, das erzeugt noch in stärkerem Maße die Industrie in den Städten. Hier nimmt die eheliche Fruchtbarkeit am schnellsten ab.
Die Zahl der Geburten fällt in Frankreich stetig, trotz Vermehrung der Zahl der Eheschließungen, aber nicht bloß in Frankreich, sondern in den meisten Kulturländern. Es drückt sich darin eine Entwicklung als Folge unserer sozialen Zustände aus, die den herrschenden Klassen zu denken geben sollte. In Frankreich wurden 1881 937.057 Kinder geboren, aber 1906 nur noch 806.847, 1907 773.969. Die Geburten blieben also im Jahre 1907 gegen das Jahr 1881 um 163.088 zurück. Charakteristisch ist aber, daß die Zahl der unehelichen Geburten, die in Frankreich im Jahre 1881 70.079 betrug und in der Periode von 1881 bis 1890 im Jahre 1884 mit 75.754 den höchsten Stand erreichte, 1906 immer noch 70.866 Köpfe stark war, so daß die Verminderung der Geburten ausschließlich auf die ehelichen fiel. Diese Abnahme der Geburten ist ein Charakteristikum, das durch das ganze Jahrhundert sich bemerkbar macht. Es fielen Geburten in Frankreich auf je 10.000 Einwohner im Jahre:
1801 – 1810 | 332 |
1811 – 1820 | 316 |
1821 – 1830 | 308 |
1831 – 1840 | 290 |
1841 – 1850 | 273 |
1851 – 1860 | 262 |
1861 – 1870 | 261 |
1881 – 1890 | 239 |
1891 – 1900 | 221 |
1905 | 206 |
1906 | 206 |
1907 | 197 |
Das ist eine Abnahme der Geburten im Jahre 1907 im Vergleich zu 1801 (333) um 136 auf je 10.000 Einwohner. Man kann sich vorstellen, daß dieses Resultat den französischen Staatsmännern und Sozialpolitikern große Kopfschmerzen bereitet. Aber Frankreich steht in dieser Beziehung nicht allein. Deutschland, insbesondere Sachsen, weist seit geraumer Zeit eine ähnliche Erscheinung auf, und die Abnahme der Geburtsziffer vollzieht sich noch schneller. So kamen in Deutschland auf je 10.000 Einwohner Geburten im Jahre:
1875 | 423 |
1880 | 391 |
1885 | 385 |
1890 | 370 |
1895 | 373 |
1900 | 368 |
1905 | 340 |
1906 | 341 |
1907 | 332 |
Die Mehrzahl der übrigen Staaten Europas zeigt uns ein ähnliches Bild. So kamen auf 1.000 Einwohner Geburten in: