Die letzten Zeugen. Birgit Mosser-Schuocker

Die letzten Zeugen - Birgit  Mosser-Schuocker


Скачать книгу
der Stachel empfundenen Unrechts. Dorothea Haider, 95-jährige Mutter des verunglückten Kärntner Landeshauptmanns Jörg Haider, wurde 1918 in Südtirol geboren. Sie berichtet vom Schock, als italienische Truppen Südtirol besetzen, erzählt von ihrer Mutter, die im Ersten Weltkrieg beim Roten Kreuz im Lazarett von Bruneck Kriegsopfer gepflegt hat, und erinnert sich an den Vater, der als Regimentsarzt von Belluno nach Südtirol versetzt worden ist.

      Das Ende einer Welt, der Verlust der Sicherheit, das Fehlen eines über Generationen erlernten Orientierungsrahmens macht die Generation der »letzten Zeugen« anfällig für radikale Strömungen. Dazu kommt die Umkehrung sozialer Positionen. Die Inflation macht Wohlhabende arm, spült Kriegsgewinnler nach oben. Über Generationen angesparte Vermögen zerrinnen wie Sand. Geld ist das Papier nicht wert, auf dem es gedruckt ist. Die glänzende Metropole Wien ist verkommen. Seit Kriegsbeginn schon ist nichts neu gebaut worden, nun werden Häuser und Wohnungen nicht renoviert, verfallen private und öffentliche Einrichtungen. Ein Volk lebt von der Substanz. Die Menschen tragen abgeschabte alte Kleider. Wien wird vom Gestank des Mülls und von Fliegenschwärmen geplagt. Es gibt keine Taschentücher. Es wird gehustet, gespuckt und gerotzt.

      Die Krise trifft die Proletarier in den Vorstädten, mehr noch aber den einstigen Mittelstand. Denn während die Löhne der Arbeiter, so sie Arbeit haben, an die Teuerung gekoppelt sind, verlieren die Beamtengehälter rasend an Wert. Auch die Mieten bleiben weitgehend auf Kriegsniveau und so können viele bürgerliche Familien nur durch das Untervermieten von Räumen in ihren Wohnungen überleben.

      Der Jurist und spätere Bankier Treichl erlebt in der Folge die bittere, auch persönliche Niederlage seines Vaters, dessen von ihm geleitetes Bankhaus Biedermann im Strudel der Finanzkrise 1929 untergeht. Parallelen zu heutigen Krisen möge der Leser nicht ziehen. Doch: Mit der größenwahnsinnigen Expansion der einst biederen – und grundsoliden – Bodencredit-Anstalt und ihrem Scheitern verstärkt sich die schwere Depression der österreichischen Wirtschaft im weltweiten Kontext, die vom Börsenkrach an der Wallstreet ausgegangen ist. Die bankrotte »Bodencredit« muss auf massiven politischen Druck der damaligen Bundesregierung vom Bankverein der Creditanstalt, die im Mehrheitsbesitz der Familie Rothschild steht, aufgefangen werden. Die »Rothschild«-Bank mit ihren weitverzweigten Beteiligungen an den österreichischen Industrieunternehmen und ihrer starken Position in den ehemaligen Kronländern und am Balkan kann die Last nicht tragen und bricht zusammen. 1931 muss die Republik Haftungen für die Einlagen und Anleihen der Creditanstalt übernehmen. Mit einem Volumen von rund einer Milliarde Schilling beträgt diese Haftung damals fast 70 Prozent des Jahresbudgets. Österreichs Regierung ist damit praktisch handlungsunfähig und kann kaum auf die dramatische Arbeitslosigkeit reagieren. Politisch führt dieses Unvermögen zu einer weiteren Radikalisierung und Militarisierung der Gesellschaft.

      Die kurzen zwanzig Jahre zwischen dem Kriegsende und dem März 1938 werden durch wenige Jahreszahlen buchstäblich gebrandmarkt.

      1927 revoltieren Arbeiter gegen das Urteil im Prozess gegen die Todesschützen von Schattendorf und zünden dabei den Justizpalast an. In der burgenländischen Gemeinde Schattendorf haben sogenannte »Frontkämpfer« auf Mitglieder des Republikanischen Schutzbundes gefeuert und dabei einen 34-jährigen Eisenbahner und einen achtjährigen Volksschüler getötet. Schattendorf und der Brand des Justizpalastes werden zum ersten gewalttätigen Fanal der jungen Ersten Republik. Der Arbeiterprotest lässt sich von der sozialdemokratischen Parteiführung um Otto Bauer und Karl Seitz nicht mehr kontrollieren und führt zu Gewaltaktionen, die von der Polizei mit scharfer Munition bekämpft werden. Wiens Innenstadt wird am 15. Juli Schauplatz von stundenlangen Straßenschlachten. Mehr als hundert Menschen sterben an diesem Tag. Der Justizpalast-Brand verschärft die Gegensätze zwischen den Bürgerlichen und der »Linken« im Land. Die österreichische Gesellschaft ist bis in die Grundfesten gespalten. Was die eine Seite als »friedliche Demonstration« wertet, sieht die andere Seite als das blindwütige Zerstören des Mobs. Geburt, Sozialisierung entscheiden über den historischen Standpunkt. Gewalt als Mittel der Politik ist zum Alltag geworden. Das Ende der Republik zeichnet sich knapp neun Jahre nach ihrer Gründung bereits ab.

      1933 beseitigt die christlichsoziale Regierung unter Bundeskanzler Dollfuß die demokratischen Institutionen und beginnt mit der Ausschaltung der Sozialdemokratie und der Nationalsozialisten, die seit 1932 bei regionalen Wahlen Erfolge verbuchen. Für den jungen sozialdemokratischen Arbeiter Fritz Propst agiert und reagiert seine Partei in jenen Tagen zu vorsichtig, zu lasch. »Meine Freunde und ich waren schon schwer enttäuscht. Es wäre nötig gewesen, schon bei der Auflösung des Parlaments einen Generalstreik auszulösen. Damals waren die Arbeiter noch kampfbereit.« Der junge Sozialdemokrat radikalisiert sich. Er wird zum Kommunisten und will so den Faschismus bekämpfen.

      Der unkoordinierte Aufstandsversuch des sozialdemokratischen Schutzbunds endet im »kalten Februar« 1934 schon nach wenigen Tagen mit einer Katastrophe. Im sogenannten »Bürgerkrieg« sterben Hunderte Österreicher: sozialdemokratische Schutzbündler, Soldaten des Bundesheeres, Polizisten und Unbeteiligte. Die Führung der Sozialdemokraten setzt sich kurz nach Beginn des Aufstandsversuchs in die Tschechische Republik ab. Bundeskanzler Engelbert Dollfuß nützt den blutigen Sieg der Regierung über die oppositionellen Sozialdemokraten. Er lässt Hunderte Funktionäre internieren, löst die Sozialdemokratische Partei und alle ihre Vorfeldorganisationen auf. Dollfuß will mit einem straff geführten Staatswesen nach dem Vorbild des faschistischen Italien Österreichs Unabhängigkeit gegen Nazi-Deutschland verteidigen. Das wird eine Illusion bleiben. Schon wenige Monate nach dem Februar 1934 wird Dollfuß Opfer eines nationalsozialistischen Putschversuchs. Er wird im Bundeskanzleramt von SS-Angehörigen überrascht und kaltblütig mit zwei Schüssen niedergestreckt. Die Putschisten lassen den schwer verletzten Kanzler auf einem Sofa am Ballhausplatz verbluten. Der von Deutschland aus gelenkte Umsturzversuch der Nationalsozialisten scheitert nach wenigen Tagen, obwohl von Bayern aus Bewaffnete der von den Nazis finanzierten »Österreichischen Legion« an mehreren Stellen die Grenze nach Österreich überschritten haben. In Kollerschlag kommt es zu einer Schießerei. Als Achtjähriger erlebt Franz Saxinger den Überfall: »Nach Mitternacht war ein Krawall auf der Straße. Der Vater hat die Erdöllampe angezündet und wollte rausleuchten und schauen, was da los ist. Er wurde von draußen angeschrien: ›Licht aus! In den Häusern bleiben!‹ Derweil der Vater rausgeleuchtet hat, hat er das Hakenkreuz auf einer Uniform gesehen.«

      Der Umsturzversuch scheitert, auch weil Italiens Diktator Benito Mussolini vier Divisionen an der österreichisch-italienischen Grenze mobilisiert. Hitler will keinen Krieg riskieren, noch nicht. Der Reichskanzler erleidet eine peinliche Niederlage und distanziert sich rasch vom gescheiterten Putsch. Dollfuß wird von der Propaganda des Ständestaats zum »Märtyrerkanzler« stilisiert. Im März 1938 wird sich Hitler für diese Schlappe rächen und »seine Heimat« mit dem Einmarsch von deutschen Truppen an sein Großdeutsches Reich anschließen.

      Während am Horizont schon die Blitze aufleuchten und das Grollen nicht zu überhören ist, wiegt sich Wiens bessere Gesellschaft im Walzertakt. Christl Schönfeldt, die spätere langjährige »Opernball-Mutter«, plaudert kurz vor ihrem Tod über seliges Erleben. »1937 war mein erster Opernball. Damals musste ich noch mit jedem Schilling rechnen, an dieses Gefühl kann ich mich noch lebhaft erinnern. Durch besonders gute Verbindungen konnten wir, meine Freunde und ich, Komiteekarten ergattern, obwohl wir gar nicht eröffnet haben. Was für ein Glück: Sie kosteten nur 5 statt 25 Schilling. So ist mir – nach Bezahlung der Garderobefrau – noch genau ein Schilling für den restlichen Abend geblieben. Aber es war wunderbar.«

      Die letzten Zeugen: Sie waren dabei. Sie haben es erlebt. Sie erinnern sich.

       Zu diesem Buch

      »Ich bin eine hoffnungslose Österreicherin. Ich liebe meine Heimat unglaublich«, bekannte Christl Schönfeldt in unserem Gespräch mit einem entwaffnenden Lächeln.

      Die Menschen, um die es in diesem Buch geht, haben eine Zeit erlebt, als die Liebe zu diesem Land, genauer gesagt zur Republik Österreich, keineswegs selbstverständlich war. Die Erste Republik, der »Rest« der Donaumonarchie, wurde von ihren Gründervätern mit der Absicht ins Leben gerufen, sie so rasch als möglich durch Vereinigung mit dem Deutschen Reich zu liquidieren. Der übermächtige


Скачать книгу