Die letzten Zeugen. Birgit Mosser-Schuocker

Die letzten Zeugen - Birgit  Mosser-Schuocker


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können auf die Unterstützung des Deutschen Reiches zählen. »Kaiser Franz Joseph könne sich aber darauf verlassen, dass S[eine] M[ajestät] im Einklang […] und seiner alten Freundschaft treu an der Seite Österreich-Ungarns stehen werde«5, hat der deutsche Reichskanzler Theobald von Bethmann Hollweg nach Wien telegrafiert.

      Die europäischen Großmächte sind einander durch Beistandspakte verpflichtet, die Heere hochgerüstet und die Monarchen kriegswillig. Am 28. Juli 1914, dem Tag der Kriegserklärung an Serbien, verfasst der Kaiser ein Manifest, in dem er seine Entscheidung rechtfertigt. Es wird am 29. Juli in der Wiener Zeitung veröffentlicht. »An meine Völker! […] Die Umtriebe eines hasserfüllten Gegners zwingen Mich, zur Wahrung der Ehre Meiner Monarchie, zum Schutze ihres Ansehens und ihrer Machtstellung, zur Sicherung ihres Besitzstandes nach langen Jahren des Friedens zum Schwerte zu greifen […] Diesem unerträglichen Treiben muss Einhalt geboten, den unaufhörlichen Herausforderungen Serbiens ein Ende bereitet werden, soll die Ehre und Würde Meiner Monarchie unverletzt erhalten und ihre staatliche, wirtschaftliche und militärische Entwicklung vor beständigen Erschütterungen bewahrt bleiben […]. In dieser ernsten Stunde bin Ich Mir der ganzen Tragweite Meines Entschlusses und Meiner Verantwortung vor dem Allmächtigen voll bewusst. Ich habe alles geprüft und erwogen. Mit ruhigem Gewissen betrete Ich den Weg, den die Pflicht Mir weist.«

      Mit anderen Worten: Der Krieg wurde Österreich von seinen Feinden aufgezwungen. Die meisten Österreicher glauben ihrem Kaiser, der die Geschicke der Monarchie seit über 65 Jahren mit sicherer Hand leitet. Der greise Monarch ist längst zu einer Integrationsfigur Österreich-Ungarns geworden. »Gott erhalte, Gott beschütze, unsern Kaiser, unser Land«, wie es in der Hymne heißt, singen viele Menschen mit aufrichtiger Zuneigung. Für viele ist es undenkbar, dass der 84-jährige Franz Joseph eine falsche Entscheidung trifft.

      Trotz des Wissens um die bestehenden Kriegsbündnisse zwischen Österreich, Deutschland und Italien auf der einen Seite und England, Frankreich und Russland auf der anderen Seite sehen an jenem Sommertag auch Intellektuelle den Flächenbrand noch nicht am Horizont.

      So schreibt die Neue Freie Presse am Tag der Kriegserklärung an Serbien: »Der Weltkrieg könnte nur durch eine frevelhafte Sünde an der Menschheit entstehen. Der Krieg mit Serbien, dieses Strafurteil, das in einem fernen Winkel von Europa für eine beispiellose Herausforderung […] vollzogen werden soll, ist nichts, was die anderen Großmächte näher berühren, den Wohlstand der Völker zerstören und Jammer über die Erde verbreiten müsste.«

      Doch innerhalb weniger Wochen wird aus einer lokalen Auseinandersetzung zwischen Serbien und Österreich ein Krieg, der ganz Europa überzieht. Schon am 14. August titelt die Neue Freie Presse: »Die elfte Kriegserklärung: Kriegszustand zwischen der Monarchie und England und Frankreich.« Die Reichspost weiß von einem »beispiellosen, unbeschreiblichen, dröhnenden Jubelsturm« zu berichten.

      Gerade Dichter und Journalisten werden vom nationalen Taumel angesteckt und fördern durch ihre Artikel, Gedichte und Bücher die anfängliche Kriegseuphorie. Der Meraner Lokalpoet Karl Zangerle reimt unter dem Titel »28. Juli 1914!«:

      Sie gossen das Maß bis zum Rande voll

      Und waren auf Unfried erpicht,

      Bis endlich über die Save scholl:

      »Bis hierher und weiter nicht!

      Stellt ihr die tückische Hetze nicht ein,

      Und könnt ihr nicht redliche Nachbarn sein,

      Und wenn Euch der Friede nicht frommt,

      So zieht vom Leder und kommt!«6

      Der Krieg bricht auch in das beschauliche Leben der Familie Jeszenkowitsch ein. Friedas Vater ist Lehrer, die Familie lebt in Rust am Neusiedlersee. Noch liegt die Weinstadt nicht im Burgenland, sondern in Ungarn. »Die Kirchengemeinde hat dem Vater eine Wohnung zur Verfügung gestellt. Das war ein sehr nobles katholisches Haus, ein Gutshaus.« Der Krieg macht auch vor der Kinderwelt der fünfjährigen Frieda nicht halt: »Von den anderen Kindern hat man gewusst, dass der Vater fort ist. Der Vater ist Soldat oder der große Bruder ist Soldat. Viele sind nicht mehr nach Hause gekommen.«

      In der Heimat muss das Leben weitergehen. »Der Krieg war für viele Familien sehr tragisch und hat die Familienverhältnisse verändert, weil der Ernährer nicht vorhanden war oder derjenige, der die Wirtschaft geführt hat. In jedem bürgerlichen Haus waren Angestellte. Jeder hat seinen Knecht gehabt, jeder hat sein Dienstmädel gehabt. Auch die Knechte wurden eingezogen.«

      Als Ersatz werden Kriegsgefangene auf die Höfe verteilt, auch daran erinnert sich die 101-Jährige noch lebhaft. »Eine Zeit lang waren in Rust russische Gefangene bei den Leuten beschäftigt, als Knechte. Sie haben in der Wirtschaft gearbeitet. Mein Großvater hat auch einen ›Iwan‹ gehabt. Die Wirtschaft ist halt behelfsmäßig geführt worden. Man hat weitergelebt, in bescheidenem Maße. Der Großteil der Menschen auf dem Land war Selbstversorger. Die Bauern haben Mehl und andere Produkte abliefern müssen. Man hat sich schon zu helfen gewusst, hat ein bisschen was zur Seite gelegt. Man hat es so eingerichtet, dass man sich etwas als Vorrat behalten hat.«

      1914

      Berta Stimpfl,

       geboren 1911, Südtirol

      Zwölf Kinder drängen sich in der Stube, aber es ist ungewöhnlich ruhig. Nur Berta und die beiden Jüngsten weinen. Auch sie verstehen schon, dass heute ein besonders trauriger Tag ist. Der Vater muss fort, fort in den Krieg. Die älteren Kinder versuchen, nicht zu zeigen, wie ihnen zumute ist. Sie wollen es dem »Tata« nicht noch schwerer machen, als es ohnehin schon ist. Wie die Mutter, die immer stark und gefasst ist. Bald schon werden sie allein sein mit ihr und der vielen Arbeit auf dem Hof. Die Geschwister wissen, dass sie jetzt noch stärker werden mitanpacken müssen. Sie werden hart arbeiten. Alles werden sie tun, was getan werden muss. Wenn nur der Vater wieder heimkommt.

      Den Abschied von ihrem Vater an einem kalten Herbstmorgen 1914 hat Berta Stimpfl ihr Leben lang nicht vergessen: »Wir waren alle traurig. Sie können sich das vorstellen, der Vater fort von uns und so viele Kinder. Er muss in den Krieg. Wir haben schon verstanden, was Krieg ist. Wir wussten nicht, ob er noch einmal kommt. Diese Sorgen hat man schon als Kind, als Kleinkind. Das wichtigste Ereignis war, dass der Vater fort war und wir alleine mit der Mutter. Die Mama ist traurig gewesen, alleine mit den vielen Kindern. Zwölf Kinder sind wir gewesen und sie musste arbeiten.«

      Die Mutter versucht, den Kindern ihre Sorgen nicht zu zeigen. »Geweint hat sie nur im Stillen, nicht vor uns Kindern. Sie wollte es uns ersparen, diesen Verdruss. Aber Sie können sich vorstellen, mit so vielen Kindern, daheim, alleine. Zum Arbeiten hat man niemanden bekommen. Die Männer mussten alle in den Krieg gehen, alle waren weg von daheim.«

      Innerhalb weniger Tage wird Ende Juli 1914 die Generalmobilmachung der k. u. k. Armee bis in die entlegensten Weiler spürbar. Die bürokratische Maschinerie ist gut geölt. Schon in den ersten Kriegstagen werden alle wehrfähigen Männer einberufen und in des »Kaisers Rock« gezwungen. Der Wiener Feuilletonist Raoul Auernheimer erlebt den Wandel von der Idylle zur Kriegsgesellschaft im scheinbar unendlich friedlichen Ort Altaussee im Salzkammergut. Er schreibt darüber in der Wiener Neuen Freien Presse. Sein Bericht erscheint am 1. August. Es ist der Tag der Kriegserklärung Deutschlands an das russische Zarenreich. »Viele von uns hat ja die Kriegserklärung in der Sommerfrische überrascht, in irgendeinem stillen, weltabgeschiedenen Tal, wohin sie sich zurückgezogen hatten, zurückgezogen haben glauben. Denn die Ereignisse wussten sie zu finden und machten sie zu Zeugen derselben Szenen, wenn auch in anderer Form. Die Einberufung ist eine wirkliche Einberufung; denn der Gendarm geht herum, von einem Hof zum anderen, und ruft die wehrfähigen Männer im Namen des Kaisers auf: Und wirklich ist auch der Abschied des Einberufenen von den Seinen, wirklich sind die Tränen der Frau, die angstvolle Neugier der kleinen Kinder. Die Ereignisse nehmen eine Gestalt an, und die Neuigkeiten


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