Island. Marie Kruger
rollte 1905, weil sich die Bedingungen in der Zwischenzeit zu Hause enorm verbessert hatten. Zwischen 1871 und 1914 haben nachweislich 16408 Isländer ihr Glück jenseits des Atlantiks gesucht – in den USA, in Kanada und in Brasilien. Dies entspricht durchschnittlich 380 Menschen pro Jahr, wobei in Hochzeiten 2000 Menschen jährlich das Land verließen. Nur wenige kehrten wieder nach Island zurück.
Die isländische Auswanderungsbewegung hebt sich durch zwei Eigenarten von den anderen in Europa ab. Zum einen verließen ungewöhnlich viele Frauen Island, während es anderswo immer deutlich mehr Männer waren. Dies lag eben daran, dass ganze Familien auswanderten und weniger Alleinstehende. Zum anderen gingen die meisten Isländer nach Kanada, das damals nach dem Vorbild der USA begonnen hatte, Einwanderer gezielt mit dem Versprechen von Grundbesitz zu locken. Deshalb siedelten sich viele Isländer rund um den Winnipegsee an, wo ihnen bis 1900 Exklusivrechte eingeräumt wurden, und blieben auch, als der Anfang sich aufgrund der Bodenqualität als schwierig entpuppte. Die Region New Iceland gehört heute zur Provinz Manitoba und ist besonders für den von den »Isländern« gefangenen Fisch bekannt – so ein kanadischer Bekannter.
Bei einer meiner ersten Reisen in Island teilte ich mir – es war September – eine ganze Jugendherberge mitten im nordisländischen Nirgendwo mit zwei älteren Damen, die mir großzügig anboten, das Abendessen mit ihnen zu verspeisen. Sie waren am Tage im Museum Vesturfarasetrið (»Westfahrerzentrum«) in Hofsós gewesen, wo die Geschichte der isländischen Auswanderer liebevoll aufbereitet wurde. Das eigentliche Ziel ihrer Reise in die eigene Vergangenheit sollte der Hof ihres Urahns werden, der zu den sogenannten West-Isländern gehörte, die sich in Manitoba niedergelassen hatten. Im Museum hatte man ihnen mit Rat und Tat zur Seite gestanden und für sie neue Informationen ans Tageslicht befördert, sodass sie den ganzen Abend von der Freundlichkeit und der Sachkenntnis der dortigen Ahnenforscher schwärmten.
Was mir die Damen dann aus Manitoba berichteten, war für mich äußerst überraschend, denn auch wenn keine von beiden Isländisch sprach, bezeichneten sie sich als Isländerinnen. Beide waren Abonnenten von Lögberg-Heimskringla, einer zweimal im Monat erscheinenden Zeitung, die sich nach dem Ort der mittelalterlichen Gesetzsprechung (Lögberg) und einer wichtigen mittelalterlichen Chronik (Heimskringla) benannt hat und um die Vermittlung isländischer Neuigkeiten – auf Englisch – in ganz Nordamerika kümmert. Voller Enthusiasmus erzählten sie mir vom Icelandic Festival of Manitoba, das von der isländischen Regierung bezuschusst wird, von ihrer Mitarbeit im Organisationskomitee und von ihren alten Trachten, die sie liebevoll pflegen. In der »isländischen Hauptstadt Kanadas« Gimli wird das Festival jedes Jahr Anfang August mit einem Festumzug eingeleitet. Danach gibt es sportliche Wettkämpfe, Markt, einen Gedichtwettbewerb, Eierkuchen und Volkstänze. Außerdem kann man während des Festivals wohl in einem Wikingerdorf wohnen, wo »historisch korrekt gekleidete« Pseudowikinger den wikingischen Alltag nachleben, aber auch wikingische Kampftechniken vorführen. Von den lebhaften Schilderungen äußerst beeindruckt, fragte ich die Damen frei heraus, was denn die Wikinger auf dem Festival zu suchen hätten, schließlich seien ihre Vorfahren doch erst im 19. Jahrhundert nach Kanada gekommen. Die Antwort kam prompt: »Na, Isländer halt!« Hier werden Besiedlungsmythen munter gemischt. Dass es schon schwierig ist, die ersten Isländer selbst als Wikinger zu verorten, ist bereits erklärt worden. Nun werden jedoch sogar eindeutig isländische, neuzeitliche Siedler mit etwas in Verbindung gebracht, mit dem schon ihre Urahnen nichts oder kaum etwas zu tun hatten. In jedem Falle bringt es, glaubt man den Fotos auf der Website des Festivals, Jung und Alt einen Heidenspaß.
Auch heute wandern die Isländer aus, wenn sich zu Hause die Bedingungen verschlechtern. Mit der Krise 2008 verschwand die Vollbeschäftigung, und gerade die nordischen Länder lockten mit attraktiven Arbeitsbedingungen. Damals zogen 15 von 1000 Einwohnern ins Ausland. Allein 2009 verließen fast 5000 Isländer ihre Heimat. Und auch wenn sich die wirtschaftliche Lage seit 2011 stetig bessert, lebten 2019 doch gut 50000 Isländer im Ausland, was immerhin fast 14 Prozent der Gesamtbevölkerung entspricht. Dabei orientieren sie sich zu kleineren Teilen über den großen Teich nach Kanada und die USA, nehmen aber vor allem Schweden, Norwegen, Deutschland und das Lieblingsauswanderungsland Dänemark ins Visier, wobei die Auswanderung dorthin ja traditionell hoch ist. Die Isländer sind deutlich mobiler als ihre nordischen Nachbarn. Die Wahrscheinlichkeit, dass ein Isländer im Laufe seines Lebens im Ausland lebt, ist doppelt so hoch wie bei den Dänen und sogar drei Mal höher als bei Schweden. Viele sehen diesen Schritt als zeitweilige Lösung und betrachten Island als ihre Heimat, in die sie – früher oder später – genau wie Laxness’ Steinar Steinsson zurückkehren möchten. Denn auch wenn Island ihnen zeitweise mal nicht so viel zu bieten habe, bleibe es trotzdem einfach best í heimi!
Die nördlichste Hauptstadt der Welt
Wenn man die nordischen Metropolen Stockholm, Helsinki, Oslo und Kopenhagen kennt, wird man von Reykjavík überrascht. Hier gibt es keine alte Markthalle, kein hanseatisch anmutendes Kaufmannsviertel, nur ein kleines Nahverkehrssystem mit Bussen, keine richtige Fußgängerzone und auch kein Schloss, denn Reykjavík ist erstens neu und zweitens auf das Auto ausgerichtet. Auch vertraute Straßennamen, die auf bekannte nordische Persönlichkeiten hinweisen, wird man hier nicht finden. Dabei hätte alles ganz anders laufen können …
Im 18. Jahrhundert gründet Skúli Magnússon, den man getrost als Vater Reykjavíks bezeichnen kann, eine sogenannte Teilhabergesellschaft. Der dänische König überlässt der Gesellschaft mit Reykjavík den Flecken Land, auf dem schon seit Besiedlungsbeginn gelebt wird. Nun soll hier auf Skúlis Vorschlag hin das Handwerk – besonders in Wollverarbeitung, Schwefelgewinnung und Gerberei – blühen. Außerdem macht er sich für den Schiffbau und den Fischfang stark. Am Ende des 18. Jahrhunderts muss der Bischof samt Schule aus dem Landesinneren vor den Folgen eines Vulkanausbruchs fliehen. Beide Institutionen lassen sich in Reykjavík nieder, und viele andere Einrichtungen und der Handel tun es ihnen gleich. Deshalb sind hier bald nicht nur Handwerker und Bauern zu finden, sondern auch Beamte und Kaufleute. Ab etwa 1750 geht Reykjavík also den Sonderweg, der es später zu Islands Hauptstadt werden lässt, und bekommt 1786 mit etwa 170 Einwohnern das Stadtrecht verliehen.
Es nimmt dann eine typisch isländische Entwicklung, da sich extreme Hochphasen und Krisen ständig ablösen. Ausschlaggebend für den jeweiligen Status quo sind zwei Faktoren: Wetter und Handel. Kalte Winter können die Einwohnerzahl genauso reduzieren wie Kriege in Europa, deretwegen der Export erlahmt. Ab etwa 1830 kann man jedoch von einem relativ konstanten Aufschwung sprechen, der bis heute anhält. Als 1845 das Alþingi nach 45 Jahren Pause erstmals in Reykjavík und nicht in Þingvellir zusammentritt, ist die Hauptstadtrolle endgültig besiegelt.
Im Jahr 1900 hatte Reykjavík 5800 Bewohner, 1910 waren es 11 450 und 1926 schon doppelt so viele. Die Stadtbewohner leben nicht mehr in Torfhütten, sondern zunehmend in einfachen Stein- und Holzhäusern, die mit Wellblech verkleidet werden und heute den alten Teilen Reykjavíks, Hafnarfjörðurs, Akureyris und Isafjörðurs ihren rostig-bunten Charme verleihen. Unter dem Druck des Zuzugs werden Wasser- und Abwasserleitungen verlegt und ein Kraftwerk zur Stromversorgung errichtet. Parallel dazu muss der Hafen um- und ausgebaut werden, da zunehmend im großen Stil mit Trawlern gefischt wird. Ab den 1920er Jahren nimmt der Bau von Wohnungen massiv zu und die lauschige »Alte Weststadt« (Gamli Vesturbærinn) westlich des Stadtteichs entsteht. In den 1930er Jahren entdecken die Isländer die Möglichkeiten der Erdwärme und legen Leitungen für heißes Wasser in die Stadt, die so weitestgehend vom Kohlequalm befreit wird. Wohnraum ist zwar die ganze Zeit über knapp, trotzdem beginnt organisierte Stadtplanung erst in den 1920er Jahren. Bis dahin wird einfach vor sich hin gebaut, was die kleine Altstadt nördlich und östlich des Stadtteichs und unterhalb der Hallgrímskirche heute so gemütlich sein lässt. Hier verlaufen die Straßen krumm und schief, und die Häuser haben die unterschiedlichsten Höhen, Farben und Formen.
Nach dem Zweiten Weltkrieg gehen immer mehr Isländer zum Studium ins Ausland und bescheren Island so seine ersten eigenen Architekten und Stadtplaner. Da der Menschenfluss nach Reykjavík nicht abreißt, werden neue Konzepte erprobt und vermehrt Reihen- und Mehrfamilienhäuser, aber auch provisorische Siedlungen zum Beispiel aus den Baracken der US-Armee errichtet. Noch 1963 leben