Island. Marie Kruger
und Süden wächst, da es nach Norden und Westen vom Wasser begrenzt ist. In den 1960er Jahren entsteht auf Forderung der großen Gewerkschaften mit Breiðholt ein Satellitenstädtchen mit günstigen Wohnungen in Hochhäusern, während gleichzeitig danach gestrebt wird, noch freie Flächen in zentraler gelegenen Gebieten zu bebauen. So sollen Familien mit wenig Geld bezahlbaren Wohnraum bekommen und die provisorischen Siedlungen aus den Kriegsjahren verschwinden.
Ab den 1950er Jahren wird Reykjavík vor allem autogerecht ausgebaut. Größere Neubauviertel besitzen zwar wie Breiðholt ein eigenes Zentrum und Fußwege, die zu Schulen und Einkaufsmöglichkeiten führen, mit der Reykjavíker Innenstadt sind sie jedoch nur über mehrspurige Schnellstraßen verbunden. Gerade diese prägen heute die Hauptstadt. Übergangsstellen für Fußgänger gibt es oft nur im Abstand von Kilometern, und die wenigen vorhandenen Bürgersteige sind sehr schmal. So schneiden die Straßen regelrechte Schneisen in die Stadt und isolieren die Stadtteile voneinander.
Dabei erstreckt sich Reykjavík heute geradezu endlos in die Weite und ist mit den Nachbarstädten Seltjarnarnes, Mosfellsbær, Kópavogur, Garðabær und Hafnarfjörður zu einem unverhältnismäßig großen urbanen Ballungsraum angewachsen. Die bebaute Fläche des sogenannten Hauptstadtgebietes umfasst etwa 100 Quadratkilometer. In Island verteilen sich auf diese Fläche 228 000 Einwohner, während in einem vergleichbar großen Gebiet in Paris mehr als zwei Millionen Menschen leben. Je weiter man sich vom »alten« Stadtkern in Richtung Osten bewegt, desto neuer und öder werden die Viertel, denn sie sind entweder als reine Wohnsiedlungen oder als reine Industriegebiete gedacht. Man erledigt seine Einkäufe in einem der großen Supermärkte und fährt auch die kürzesten Wege mit dem Auto. Die Grenze zwischen Vierteln, die gefühlt nicht mehr in der Stadt liegen, und den wirklichen Vororten bzw. Nachbargemeinden ist fließend. In Letzteren überwiegen die Einfamilienhäuser, deren Fronten zur Straße hin oft von mehreren Garagentoren dominiert werden. Hier leben die Isländer den amerikanischen Traum von Einfamilienhaus und Auto und nehmen das Fehlen einer Kiezkultur genauso in Kauf wie immer länger werdende Wege.
Doch diese Situation wird zunehmend als Mangel empfunden. Hinzu kommen der wachsende Verkehr und die Tatsache, dass die zweithöchste monatliche Ausgabe der isländischen Privathaushalte die Mobilitätskosten sind – noch vor den Aufwendungen für Essen und Trinken. Auf 1000 Einwohner kommen in Island mehr als 700 PKW. Deshalb gibt es seit Beginn des Baubooms nach dem Ende der Krise deutliche Tendenzen zur Verdichtung. Viertel, die in den 1960er und 1970er Jahren als reine Industriegebiete vor der Stadt errichtet wurden und durch die fortschreitende Verstädterung plötzlich zentraler liegen, werden nun um Wohnhäuser bereichert. Populäre Brachen, wie eine stillgelegte Startbahn am Inlandsflughafen in der Innenstadt, entlang der Küste oder rund um die Niederlassung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks, werden ebenfalls mit Wohnungen bebaut. Fuß- und Radwege entstehen, und die öffentlichen Busse fahren auch in der Woche bis etwa Mitternacht. Dennoch bilden sich zu den Stoßzeiten lange Staus: morgens auf den Zufahrtsstraßen nach Reykjavík, abends in umgekehrter Richtung, und nur selten haben die Autos im Berufsverkehr mehr als einen Insassen.
Als ich das erste Mal nach Reykjavík kam, wusste ich nicht, wie sehr die Stadt an den Bedürfnissen von Autobesitzern ausgerichtet ist. Also schöpfte ich alle Möglichkeiten, mir Mobilität zu verschaffen, aus. Zuerst kaufte ich mir für viel Geld eine Monatskarte für den Bus, um die Male, wenn ein Anschluss klappte oder ich bequem von einem Ort zum anderen kam, an einer Hand abzählen zu können. Als ich in Breiðholt wohnte, zerflossen meine Vermieter fast vor Mitleid darüber, dass ich tapfer den Bus nehmen wollte, und boten mir, wann immer es ging, ihre Dienste als Chauffeure an. Dabei brauchte ich bloß zu wissen, wann einer der drei Busse pro Stunde »in die Stadt« fuhr und vor allem, wann der letzte »aus der Stadt« in Richtung Breiðholt aufbrach. Bei meinem zweiten Islandaufenthalt nahm ich mein Fahrrad mit und suchte mir eine Wohnung direkt in der Innenstadt. Das ging so lange gut, bis mich Ende September der erste wirkliche Herbststurm vom Sattel fegte und ich drei Wochen später, obwohl ich mich an den Ratschlag eines Fahrrad fahrenden Bekannten hielt und immer auf dem Bürgersteig fuhr, von einem abbiegenden Auto umgestupst wurde, das – durchaus nicht unüblich – unsauber abbog und dabei einen Teil des Bürgersteigs mitnahm. Meine isländischen Bekannten bestätigten mir, dass sie sich als Autofahrer nur schwerlich auf mögliche Fahrradfahrer einstellen. Den Begriff Schulterblick konnten wir nicht ins Isländische übersetzen. Also versuchte ich es zu Fuß und merkte erst dabei, wie lang manche Straßen sich hinziehen und dass viele Bürgersteige für die Kombination aus Regenwetter und mit Tempo 80 vorbeipreschenden Autos definitiv zu schmal sind. Außerdem ist es langweilig zu laufen, wenn man niemandem begegnet und große Bögen gehen muss, um eine Ampel zu finden. Ich bin stur geblieben, bewege mich auch heute hauptsächlich zu Fuß, per Rad und mit dem Bus durch das Hauptstadtgebiet und registriere erfreut, dass meine Wege hier und da kürzer, bequemer, sicherer und weniger einsam geworden sind.
Dass es auch für die Isländer ohne Auto geht, zeigt ja gerade das alte Stadtzentrum, das die meisten Islandbesucher besichtigen und das deshalb für viele der bleibende Eindruck von Reykjavík ist. In den Vierteln Þingholt und Alte Weststadt herrscht Islands größte Dichte an engen Einbahnstraßen und 30er-Zonen. Das liegt zum einen natürlich daran, dass die Viertel aus dem Prä-Auto-Zeitalter stammen, zum anderen aber eben auch an einer intakten Infrastruktur. Hier laufen auch heute noch Privat- und Arbeitsleben parallel, und man kann alles zu Fuß erledigen. Es gibt kleine Geschäfte und Fachhändler, Kitas, Restaurants, Werkstätten, Kanzleien und Arztpraxen. Die Orientierung kann hier manchmal etwas schwierig sein, eben weil Þingholt und Alte Weststadt nicht vom Reißbrett stammen, sondern organisch gewachsen sind. Neuerdings hilft einem jedoch nicht nur die fast 75 Meter hohe Hallgrímskirche, die über der Stadt thront, den richtigen Weg zu finden, sondern auch der ein oder andere Wolkenkratzer. In den Jahren des wirtschaftlichen Booms vor der Krise 2008 deutete man die Idee von Verdichtung sehr amerikanisch und setzte mitten in die alte Bebauung und in die Sichtachse auf die Bucht schwarz verkleidete Türme aus Glas und Stahl, die nun nach allen Seiten gut sichtbar sind.
Außerdem empfiehlt sich ein Blick auf die Straßennamen. Diese greifen nämlich in den alten Vierteln die heidnischen Götter auf und heißen Óðinsgata (Odinstraße), Þórsgata (Thorstraße), Freyjugata (Freyjastraße), Týsgata (Tyrstraße), Lokastígur (Loki-steig), Baldursgata (Balderstraße), Nönnugata (Nannastraße), Bragagata (Bragistraße) oder Urðarstígur (Urdsteig). Nachdem die Götter alle untergebracht waren, griff man bei den etwas neueren Straßen die Namen der Saga-Helden auf, denen im modernen Island deutlich mehr Verehrung zukommt als den Göttern. Hier finden sich dann zum Beispiel die Njálsgata, die Gunnarsbraut und die Bergþórugata in Anlehnung an Njáll, Gunnar und Bergþóra aus der Njáls saga, die Grettisgata nach Grettir aus der Grettis saga, die Eiríksgata nach Erik dem Roten und die Leifsgata nach Leif Eriksson, dem »Entdecker Amerikas«. Damit war der Wortschatz in Sachen »isländische Persönlichkeit« ausgereizt. Hinzu kommt, dass das Isländische keine Nachnamen kennt, weshalb es nicht möglich ist, Straßen nach Menschen zu benennen, ohne dass es in isländischen Ohren komisch klingt. Deshalb hat man sich danach auf die topografischen Gegebenheiten konzentriert. Heute kann man an der Endung eines Straßennamens erkennen, in welchem Viertel man sich befindet. Die Gegend, wo alle Straßennamen auf melur enden, was etwa Sandhügel bedeutet, heißt deshalb Melar, die Sandhügel. Anderswo heißen die Straßen und somit auch die Viertel akur (Acker), hlíð (Hang), tún (Wiese), vogur (Bucht) oder teigur (Weide). So bleiben die ursprünglichen Bedingungen auch unter Asphalt, Beton und Parkplätzen gegenwärtig.
Kranzkuchen und Hamburger
Dass die nordischen Länder einen enormen Pro-Kopf-Kaffeeverbrauch haben, hat sich mittlerweile herumgesprochen. Finnland nimmt in den meisten Statistiken die Spitzenposition ein, und auch Norwegen, Schweden und Dänemark lassen sich nicht lumpen. Kommt Island in den Erhebungen vor, landet es ebenfalls weit oben, denn auch hier wird Kaffee zu allen Tages- und Nachtzeiten getrunken und hat eine wichtige soziale Funktion. Schaut man überraschend bei Verwandten vorbei oder besucht auf dem Land seine Nachbarn, muss man Zeit für mindestens zwei Tassen Kaffee einplanen – auch wenn es nach dem Abendbrot ist. Dankend abzulehnen, ist eigentlich nicht drin. Ich jedenfalls habe in Island