Mami Staffel 6 – Familienroman. Claudia Torwegge
Vater und so nett, dachte sie glücklich. Nun habe ich einen Vater wie alle meine Freundinnen. Nun werde ich nie mehr ausgelacht oder dumm angeguckt, wenn ich nicht sagen kann, wer mein Vater ist. Inge wird sich hüten, mit den anderen Kindern über mich zu tuscheln. Ihr werde ich es schon zeigen! Warte nur, wenn ich erst mit meinem Vater zum Kindergarten komme! Alle werden sie staunen, besonders die Inge!
Ein wenig bang war ihr schon zumute, als sie vor der großen, hellerleuchteten Villa vorfuhren. Und noch banger wurde ihr, als die Frau mit den rotangemalten Lippen und den rotlackierten Fingernägeln auf sie zukam und sie aus ihren hellen Augen musterte.
»Das ist sie also«, stellte sie fest, und es klang nicht einmal unfreundlich, nur entsetzlich gleichgültig und ein bißchen enttäuscht. »Ich habe sie mir kleiner vorgestellt, irgendwie niedlicher…«
»Sie ist kein Baby mehr, das habe ich dir doch schon gesagt«, antwortete er, und es war eine gewisse Schärfe in seiner Stimme, die Amelie zusammenzucken ließ. »Sie ist fünf, und sie kommt nächstes Jahr in die Schule.«
Amelie versteckte sich halb hinter Ulf Tiefenbergs Rücken und musterte die Frau mit den langen, roten Fingernägeln, die wie Krallen aussahen, aus sicherer Entfernung. Mit dem feinen Gespür des Kindes fühlte Amelie, daß diee Frau ihr nicht gerade wohlgesonnen war. Wer war sie? Und was hatte sie mit ihrem Vater zu tun?
»Das ist Yvonne, meine liebe Frau«, sagte Ulf, als hätte er ihre unausgesprochene Frage vernommen. »Sie wird dir dein Zimmer zeigen. Wir haben ein schönes Zimmer für dich vorbereitet.«
Yvonne streckte Amelie die Hand entgegen, aber das kleine Mädchen wich noch mehr zurück. Hinter ihrer klaren Stirn wirbelten die Gedanken. Sie wußte nicht, was sie von all dem halten sollte.
»Yvonne, meine liebe Frau«, hatte ihr Vater gesagt. Aber wo blieb da ihre Mami? Ihre heißgeliebte Mami?
»Wo ist meine Mami? Wo ist meine Mami?« brachte sie beklommen heraus. Doch dann, als Ulf keine Antwort gab, sagte sie angriffslustig: »Du hast gesagt, wir gehen zu meiner Mami!«
»Nun ja«, meinte er verlegen, aber Amelie ließ nicht locker.
»Du hast es versprochen!« rief sie. »Ich will zu meiner Mami!«
Ulf wechselte einen etwas hilflosen Blick mit seiner Frau.
Tu etwas, hieß das. Beruhige das Kind, du weißt, worauf es ankommt.
Ja, Yvonne wußte es ganz genau, denn im Schlafen und im Wachen gellten ihr Ulfs Worte im Ohr: »Es ist die einzige Möglichkeit, unsere Ehe zu retten…«
Sie ging auf die Kleine zu, legte ihr mit einer herrischen Geste den Arm um die schmalen Schultern und führte sie unnachgiebig die Treppe hinauf, wo im oberen Stockwerk das neu eingerichtete Kinderzimmer lag.
»Komm mit, es wird dir gefallen, wir haben alles neu gekauft, das Bett, den Schrank, die hübschen Vorhänge, die Spielsachen, ja – es gibt sogar ein großes Puppenhaus«, redete sie auf das Kind ein. Sie hielt es fest – ein wenig zu fest – umfangen, und zog das widerstrebende Kind neben sich her. Amelie warf einen flehenden Blick auf Ulf, der unten in der Halle stand und ihnen nachsah. Es erfüllte ihn mit ungeheurer Befriedigung, daß Yvonne auf ihre Art versuchte, mit dem Kind Freundschaft zu schließen. Sie hatte das Kinderzimmer selbst eingerichtet und – das mußte er wirklich anerkennen – keine Mühe und keine Kosten gescheut, um es besonders hübsch zu machen. Es war alles vorhanden, was ein Kinderherz höher schlagen ließ. Amelie würde sich, dessen war er gewiß, nach einer kurzen Zeit der Eingewöhnung bei ihnen sehr wohl fühlen. Kinder waren ja so anpassungsfähig und gewöhnten sich so leicht in einer anderen Umgebung ein. Das wußte er von den kleinen Patienten im Krankenhaus. Schon nach wenigen Tagen fühlten sie sich dort wie zu Hause. Er sah nicht die verzweifelten Blicke des Kindes, nicht die abwehrende, verkrampfte Haltung des kleinen Körpers, wollte es nicht sehen, nicht wahrhaben.
»Macht euch ein paar schöne Stunden, ihr beiden«, rief er wohlgelaunt. »Ich muß noch mal kurz weg – in die Klinik.«
»Nein!« schrie Amelie auf. »Du darfst nicht fortgehen! Du darfst mich nicht mit der da alleine lassen! Du hast gesagt, wir gehen zu meiner Mami! Du hast es versprochen!«
Ihre Lippen zitterten, und sie fing bitterlich an zu weinen.
»Ich will zu meiner Mami!« schluchzte sie, und der kleine Körper bebte. »Ich will zu meiner Mami!«
»Aber Kind, sieh mal, Yvonne ist doch so etwas wie eine Mami. Schau dir doch nur einmal an, was sie alles für dich gekauft hat – Spielsachen, Bilderbücher und hübsche Kleidchen. Sogar ein eigenes Zimmer hat sie dir eingerichtet mit schönen, neuen Möbeln. Das hat sie getan, weil sie dich sehr, sehr gern hat«, bot Ulf all seine väterlichen Überredungskünste auf, aber Amelie ließ sich nicht beruhigen. Sie weinte nur noch mehr und stieß unbeherrscht mit den Füßen nach Yvonne, die sie immer noch festhielt.
»Ich will aber keine Spielsachen und keine Bilderbücher und keine Kleidchen!« schrie sie. »Und ich will auch kein eigenes Zimmer! Ich will meine Mami!«
Ungeduldig sah Ulf auf die Uhr, denn er wurde zu einer dringenden Sitzung in der Klinik erwartet. Er runzelte ungehalten die Stirn.
»Hör mal, Kind, wir unterhalten uns später darüber«, sagte er gereizt. »Im Moment habe ich wirklich keine Zeit. Du bleibst jetzt schön hier, bist ganz lieb und spielst mit deinen neuen Sachen. Du solltest dich freuen, denn es gibt wenige Kinder, die so viele, so wunderhübsche Spielsachen bekommen.«
»Ich will sie aber nicht haben!« heulte Amelie. »Ich will zu meiner Mami! Bring mich zu meiner Mami!«
»Sei still, sei endlich still!« herrschte Ulf sie an. Er war in Zeitdruck und in Eile, und außerdem war er mit seiner Geduld am Ende. »Ich habe gesagt, wir reden später darüber. Jetzt muß ich gehen. Ich bin schon…«
… viel zu spät dran, wollte er sagen, aber er wurde von einem schrillen, anhaltenden Klingeln unterbrochen. Verärgert drückte er auf die Sprechanlage. Das fehlte gerade noch, daß jetzt, ausgerechnet jetzt jemand kam!
»Wer ist dort?« rief er wütend. Sein Gesicht war rot vor Zorn, aber es wurde einen Schatten blasser, als Nina sich zu erkennen gab. So schnell hatte er sie nicht erwartet, und bestimmt nicht bei sich zu Hause. Er hatte gehofft, sie in der sterilen, neutralen Atmosphäre der Klinik abfertigen zu können. Daß sie so unverzüglich zu seinem Privathaus kommen würde, damit hatte er beileibe nicht gerechnet.
»Ist Amelie, ist meine Tochter bei dir?« fragte sie mit mühsam beherrschter Stimme.
»Ja, sie ist bei mir, und es geht ihr gut. Sie war sehr krank, und ich habe es aus ärztlicher Sicht für notwendig gehalten, sie in häuslicher Umgebung zu beobachten«, sagte er mit erzwungener Ruhe.
»Sie ist gesund, und ich will sie nach Hause holen«, sagte Nina. Ihre Stimme bebte vor Empörung.
»Wir können morgen darüber sprechen. Ich habe keine Zeit, ich bin auf dem Weg in die Klinik, ein dringender Fall«, log er.
»Mach die Tür auf – oder ich schreie die ganze Nachbarschaft zusammen«, sagte Nina gefährlich leise.
»Das wirst du nicht tun!« gab er heftig zurück.
»O doch, das werde ich tun! Ich werde Zeter und Mordio schreien, damit alle Leute hören, daß du mein Kind entführt hast!«
Im gleichen Moment fing auch Amelie wieder an zu weinen.
»Sei still!« herrschte er das Kind an, aber sie weinte nur noch lauter. »Bring sie doch endlich weg, Yvonne! Was stehst du noch hier herum!«
Es blieb ihm wahrhaftig nichts anderes übrig, als Nina einzulassen. Er konnte sie nicht draußen vor dem Gartentor stehen lassen, sie wäre imstande und würde wirklich ihre Drohung wahr machen. Zögerlich drückte er auf den Summer, und das Tor öffnete sich. Er sah Nina den kiesbestreuten Gartenweg heraufkommen – Hand in Hand mit einem jungen Mann. Ihre Wangen waren gerötet, die Augen blitzten vor Zorn, ihr Haar war zerzaust – und trotz alledem war sie ihm noch nie so schön, so begehrenswert vorgekommen wie in diesem Augenblick.