SEELENHANDEL. Kealan Patrick Burke
aus. So ein Typ ist er. Aber während es ein Rätsel bleibt, warum er stumm ist, wissen wir immerhin, warum er »Wintry« genannt wird. Den Namen bekam er, weil er in einem alten Schuppen auf dem Gipfel von Grable Mountain haust, dem einzigen Berg in hundert Meilen Umkreis, der das ganze Jahr über Schnee hat. Daher ist Wintry immer in dicke Stiefel, Handschuhe und einen pelzgefütterten Parka gekleidet, aus dem sein großer schwarzer, haarloser Kopf wie der einer Schildkröte herausragt, die die Luft testet – selbst wenn hier unten im Tal eine erdrückende Hitze herrscht. Heute Abend testet er einen Scotch, unverdünnt. Und wenn er auch nicht in der Lage zu reden sein mag, so hört er doch sehr gerne zu.
Im Moment lauscht er Florence Bright. Sie sitzt seitlich auf ihrem Barhocker, mit ihrem schicken langen Rock über einem Paar Beine, von dem jeder Mann im Ort träumt. Sie hat ein passendes Trägertop an, dessen leichtes Baumwollmaterial ein weiteres Paar Attribute versteckt, von denen jeder Mann im Ort träumt. Flo ist die hübscheste Frau, die ich kenne. Erinnert mich ein wenig an Veronica Lake am Gipfel ihrer Karriere, inklusive der welligen blonden Haare und dunklen, perfekt gezupften Augenbrauen.
Florence hat in diesem Ort die dubiose Ehre, sowohl eine gefragte wie auch eine gefürchtete Frau zu sein, aber die Jungs betrinken sich genug, um zu vergessen, dass sie Angst vor ihr haben. Denn alle glauben, dass sie ihren Mann umgebracht hat, und während ich nicht mit Sicherheit weiß, ob sie’s getan hat oder nicht, reicht es doch, um mich daran zu hindern, mich in meinen traurigen kleinen, vor Liebeskummer vergehenden Stiefeln an sie ran zu schleichen. Zu der Zeit gab es hier kein effektives Rechtssystem, und ich tat, was ich im Rahmen der Untersuchung konnte, aber es gab weder inner- noch außerhalb der Stadtgrenze einen Bullen, der Flo die Schuld zuschieben konnte. Nichts ergab einen Sinn, und ich musste mich fragen, wie viele männliche – Teufel auch, vielleicht sogar weibliche – Polizisten damit keinerlei Problem hatten. Wer weiß, wie vielen sie zugeredet hat, bis sie ihre Position vergessen haben. Schließlich hatten wir hier eine Frau, die offensichtlich von ihrem Mann misshandelt wurde. Und dann findet man den gewalttätigen Ehemann nicht nur tot, sondern so tot, dass sogar der Leichenbeschauer die letzten Reste der Mahlzeit, die er sich in den Mund gestopft hatte, hochhustete, als er die Leiche sah. Etwas stimmte nicht. Entweder das, oder jemand hatte nicht das getan, was er sollte. Mehr als einmal habe ich mich selbst besonders intensiv unter die Lupe genommen, aber damit aufgehört, bevor ich zu nah an Dinge kam, die ich lieber nicht sehen wollte.
Das also ist Flo, und wenn man sie sich hier ansieht, ist Mörderin das Letzte, das man sie nennen würde. Natürlich könnte es einfach bedeuten, dass sie kaltherzig ist, aber ob sie nun Henry Bright erstochen hat oder nicht, seinen Körper mit Lampenöl übergossen und das Streichholz angezündet – ich muss doch gestehen, dass mich jedes Mal der Neid packt, wenn sie lacht und Wintrys Ellbogen berührt. Es ist lange her, seit ich eine Frau zum Lachen gebracht habe. Es ist lange her, dass ich eine Frau zu etwas anderem als zum Weinen gebracht habe.
Ich nehme mir einen Stuhl an einem der drei runden Tische, die zwischen der Theke und der Tür verteilt sind. Die große Menge Platz und der Mangel an Mobiliar lassen die Pinte leer erscheinen, egal wie viel Kundschaft da ist, obwohl die sieben Menschen, die nun hier sind (inklusive mir), so ziemlich das Höchstmaß an Betrieb darstellen. Abgesehen von Samstagabends natürlich, wo wir noch einen mehr erwarten. Die schlechte Beleuchtung durch die zwei einfachen Glühbirnen, die in grünen, gesprungenen Lampenschirmen stecken, wirft bloß ein Schlaglicht auf den Staub und bevölkert jeden Tisch mit Schatten.
Mir gegenüber schwitzt ein junger Mann im Holzfällerhemd und sieht mich finster durch seine dunklen Haare an. Die eine Hand hält eine Flasche Bier in weißknöcheliger Umklammerung, die andere liegt unterm Tisch, vermutlich auf einer Waffe. Es ist Kyle Turner, und er wünscht mich seit der Nacht tot, in der ich seine Eltern umgebracht habe. Das war letzten Sommer. Seitdem ist der Junge jeden Samstagabend hier, versucht sich dazu zu überreden, mit seiner Magnum .357 meinen Schädel zu durchlüften – aber bisher war er nicht fähig, sie unterm Tisch hervorzuziehen. Also sitzt er nur da und stiert, lässt sich von Gracie das Bier an seinen Tisch bringen, um nicht aufstehen zu müssen und die Waffe zu zeigen, von der er denkt, dass sie mir nicht bekannt ist.
Eines Tages wird er vielleicht den Mut haben, es zu tun, und dann werden sie ihn vermutlich rausschmeißen, aber nur wegen Ruhestörung und nicht, weil er mein Gehirn mit ein paar Schuss der Art durchgequirlt hat, die in Bars nicht serviert werden sollten. Ich muss aber zugeben, dass ich Spaß an ihm habe, und wenn er nicht da wäre, würde ich ihn mit Sicherheit vermissen. Durch den Hass, den er auf mich hat, komme ich mir fast wie Wild Bill Hickock vor.
Ich weiß, dass ein Nicken zur Begrüßung ihn nur noch mehr aufstacheln wird, und so schaue ich stattdessen in die andere Richtung, weg von der Theke, zurück zur Tür und dem Tisch, der rechts davon ganz an die Wand gerückt ist. Kadaver sitzt dort, ganz im Schatten versteckt, obwohl ich ihn sofort gerochen habe, als ich hereinkam. Ich habe ihn nicht begrüßt, weil man das nicht machen soll, solange er‘s nicht zuerst tut. Da es eine Tradition ist, die schon bestand, bevor ich das erste Mal herkam, halte ich mich daran, ohne zu wissen warum.
»‘n Abend, Tom«, sagt er mit dieser Stimme, die sich anhört, als ob jemand ein Gitarrenplättchen über eine Basssaite zieht. Er hat ein künstliches Metallkästchen, wo sein Kehlkopf hätte sein sollen, was wohl das Resultat von sechzig Jahren Rauchen ist, und sein Gesicht ist so tief eingefallen, dass man fast die Konturen seiner abgesplitterten Zahnfüllungen unter der Haut sehen kann. In einem Auge hat er einen Katarakt, über dem andern hängt das Lid halb herunter, und eine beeindruckend breite Narbe zerteilt sein Gesicht von der Stirn bis zum Grübchen in seinem Kinn. Er sieht wild aus und weiß es, weshalb er die Dunkelheit bevorzugt, in der er die Pennys in seiner Tasche zählt und sie in Reihen aufstapelt, wieder und wieder und wieder, bis das Geräusch vom Aufeinandertreffen der Münzen anfängt, sich wie ein Messen der Zeit anzufühlen.
Kein Zweifel, ein hässlicher Mann, aber verdammt, er riecht so gut, dass ich mich wegen meines billigen Rasierwassers schäme. Er lässt mich wünschen, dass ich daran gedacht hätte, eine Flasche Calvin Klein oder etwas Derartiges zu kaufen. Etwas Teures. Man kann viele Schlüsse aus dem Geruch von jemandem ziehen. Kadaver benützt seins, um den Geruch nach Tod zu verbergen.
»‘n Abend«, antworte ich ihm und spüre sein verzerrtes Lächeln mehr, als dass ich es sehe.
»Frag mich, wer heute Abend wohl fährt«, sagt er, und ein knackendes Schlucken trennt jedes Wort. Ich sollte das nicht sagen, aber ich wünschte mir, er würde nicht reden. Ein Mann ohne menschliche Stimme schweigt besser, und ich weiß, dass auch alle andern diese mahlende Elektrosprache unheimlich finden.
»Wenn ich das bloß wüsste«, sage ich und drehe mich zur Theke. »Gracie?«
»Komm schon.« Sie wirft den schmutzigen Lappen auf die Bar, mit dem sie den Tresen abgewischt hat. »Warm oder kalt?« Das ist ihre Art zu fragen, ob ich Bier oder Whiskey will. Eine Strähne ihres kastanienbraunen Haars fällt ihr über die Augen, als sie auf meine Antwort wartet, und sie wirft sie so gereizt zurück, dass ich plötzlich froh bin, dass sie kein Kind als Prügelknaben für ihre Unzufriedenheit hat.
»Beides«, antworte ich, denn es ist der richtige Abend dafür.
Als ob ich sie gebeten habe, mein verdammtes Auto zu waschen, seufzt sie und macht sich daran, meine Getränke zu holen.
Ich lasse meinen Blick auf den Spiegel hinter der Bar fallen und sehe, wie Wintry die Hand hebt. Sein Spiegelbild wackelt die Finger, wackelt sie wie eine Spinne, die einen Seidenfaden herunterklettert, bis die Hand außer Sichtweite ist. Dann nickt er zwei Mal und wendet sich wieder seinem Drink zu.
»Ich hab‘s gehört«, sage ich zu seinem breiten Rücken. »Wir könnten welchen gebrauchen.« Ich sehe kurz zu dem Bengel rüber, bemerke seine verwirrte Miene, bevor er mich dabei ertappt, ihn anzusehen, und schnell wieder finster dreinschaut. Sein Arm spannt sich, und für einen Moment frage ich mich, ob ich eine Kugel durch meinen Schoß oder mein Knie reißen fühlen werde. So wie die Waffe zielt, wünsche ich mir fast, dass er das verdammte Ding einfach ziehen und auf meinen Kopf zielen würde. Aber ich nehme an, dass er mich möglichst stark leiden lassen will.
»Wintry meint, dass Regen kommt«, erkläre ich, vorsichtig bemüht, es wie eine allgemeine