Oesterreich im Jahre 2020. Josef von Neupauer

Oesterreich im Jahre 2020 - Josef von Neupauer


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in sein Wohnzimmer, um dort in Ruhe mit uns Gedanken auszutauschen über das, was uns hauptsächlich beschäftigte. Seine Stube war einfach, aber hell, rein, gut gelüftet und für die jetzige Jahreszeit angenehm kühl. Das Mobiliar schien sehr spärlich und einfach, aber es fehlte nichts, was zur Bequemlichkeit dient. Die Stube lag im dritten Stockwerke nach einer Seite, wo besondere Ruhe herrschte, und Zwirner hatte diese Lage gewählt, weil er beschaulich war und gerne seine Muße mit Studien verbrachte. Wir sahen eine ungeheuere Menge von Büchern aufgestapelt, viele auch in englischer Sprache, dann viele Jahrgänge alter Zeitungen und Fachschriften, welche Aufschluß geben über den Stand der Socialwissenschaft im 19. Jahrhundert, über die Statistik damaliger Zeit und über die Bewegung, die damals durch alle Völker ging, und wie ein Wetterleuchten das Nahen eines erfrischenden Gewitters verkündete. Zwirner klärte uns darüber auf, wie er in den Besitz des Materials gelangt sei. Er sagte, daß niemand Privateigenthum habe und alle Bücher in öffentlichen Bibliotheken verwahrt würden. Wien habe zehn große öffentliche Bibliotheken, jede mit Millionen von Bänden, da dort nach und nach alle Privatbibliotheken Aufnahme fanden und seit Einführung der Gemeinwirthschaft alljährlich eine halbe Million Bände den Centralbibliotheken zuwüchsen.

      Die Wiener Bibliotheken umfaßten unter anderem alle Unica und bezögen seit Jahren alles, was auf dem ganzen Erdkreise jährlich erschienen, ohne einen Unterschied der Sprache. Mit allen communistischen Staaten stehe die Regierung im Büchertausche und beziehe auf diesem Wege alljährlich viele Tausende von Werken, da beispielsweise Deutschland allein jährlich 12 000 Werke herausgebe gegen etwa 7000 Werke im 19. Jahrhundert.

      Gemeiniglich sende man sich nur ein Probeexemplar zu, finde aber die Reichsbibliotheksverwaltung, daß das Volk an etwas Interesse nehmen dürfte oder daß die Verbreitung eines Werkes nützlich sei, so bestelle man eine große Anzahl von Exemplaren, auch bis zu hundert, so daß jeder Kreis mit einem Exemplar versorgt werden könne. Am Schlusse des Jahres verrechne man sich wechselseitig und rechne man gemeiniglich Band für Band, den Band zu 500 Seiten, die Seite zu 250 Worten. Den inneren Werth eines Werkes ziehe man nicht in Betracht, weil es sich ja doch nur um einen Abdruck handle und die Staaten untereinander den Grundsatz beobachten, daß Wissenschaft und Kunst international seien.

      “Und die Schriftsteller erhalten auch kein Honorar?” warf ich ein.

      “Diese erhalten natürlich kein Honorar in Geld, da die Geldwirtschaft abgeschafft ist, aber man hat von alter Zeit her den Gebrauch, für geistige Arbeit von höherem Werthe besondere Vortheile und Begünstigungen einzuräumen.”

      “Wie bemißt man aber diese und wer schätzt den Werth der Arbeit ab?”

      “Den Werth der Arbeit schätzt die Regierung ab, wie man im 19. Jahrhundert die Verdienste eines Staatsbeamten abschätzte und entlohnte, theils durch Beförderung, theils durch Auszeichnungen, theils doch auch durch Prämien!”

      “Da kann man sich die Protectionswirthschaft vorstellen,” fluchte Mr. Forest, “und wer gegen die Regierung schreibt oder den Ministern nicht den Hof macht, wird natürlich umsonst auf Belohnung warten.”

      “Man schreibt in Österreich nicht für und nicht gegen die Regierung, denn, nachdem der Classenstaat durch Verstaatlichung des Besitzes sich in einen Volksstaat verwandelt hat, haben alle politischen Fragen an Bedeutung verloren und es kann höchstens Verdienst oder Verschulden Einzelner in Frage kommen, wobei Wissenschaft und Kunst nicht betheiligt sind. Allerdings ist bei der Bewerthung geistiger Arbeit ein sicheres Urtheil nicht zu gewinnen, aber es wird damit folgendermaßen gehalten. Man unterscheidet in der Literatur Wissenschaft und Kunst. In der Wissenschaft handelt es sich um Forschung und Mittheilung ihrer Ergebnisse oder um bloße Tradition. Erstere veröffentlicht der Forscher in den Fachblättern oder in selbstständigen Werken. Gehört er dem officiellen Verbande der wissenschaftlichen Körperschaften, also einer Akademie, einer Hochschule oder einem vom Staate eingerichteten wissenschaftlichen Institute an, so gilt das Ergebniß seiner Forschung als geistiges Eigenthum des Staates, der ihm Unterhalt gewährt und alle Forschungsbehelfe zur Verfügung stellt. Das schließt aber nicht aus, daß für epochemachende Entdeckungen besondere Entlohnungen in munificenter Weise bewilligt werden, wie es überhaupt mit der Belohnung besonderer Verdienste gehalten wird.”

      “Wie kann das doch mit den communistischen Principien in Übereinstimmung gebracht werden und wie stimmt das mit der Forderung der Gleichheit?” fragte Forest.

      “Wir halten Gleichheit nicht für eine Forderung des Communismus in dem Sinne, daß Mann für Mann dasselbe genießt. Wir verstehen unter Gleichheit einmal die Festhaltung der gleichen Würde für jeden Menschen. Jeder ist Mensch und das ist der höchste Adelsbrief. Gleichheit herrscht ferner darin, daß jeder eine vollkommene Erziehung und eine vollkommene Ausbildung erhält, so daß alle seine geistigen und leiblichen Anlagen zur vollen Entfaltung gelangen, gleichviel, wer sein Vater oder seine Mutter wäre. Wir verstehen ferner unter Gleichheit, daß jedem in seinem Berufe alle jene Erleichterungen gewährt werden, die ihn in den Stand setzen, das Höchste zu leisten. Nur durch höhere Leistungen kann sich der Mensch noch ein wenig über seine Mitmenschen erheben. Die Geburtsvorrechte wurden eben deshalb abgeschafft, damit jeder nach Verdienst geehrt und entlohnt werden kann. Das heißt, damit die natürliche Ungleichheit zu voller Entfaltung soll gelangen können hat man alle künstliche und aus der Knechtung entstandene Ungleichheit abgeschafft.”

      “Wir sind ferners der Überzeugung, daß, wenn man jedem die gleiche Gelegenheit bietet, das Höchste zu leisten, wozu ihn die Natur befähigt hat, darin allein auch wieder der angemessene Lohn liegt; denn, wenn man einem Manne, der zweimal so stark ist, als sein Nebenmann und daher zweimal so große Lasten bewegt, auch zweimal soviel Nahrung gibt, so ist das eher gleich, als wenn man diesen verschiedenen Leuten genau gleichviel Nahrung zumessen wollte. Keinesfalls bewirkt das eine sociale Ungleichheit und so wenig man daran denken könnte, einer hundertpferdigen Dampfmaschine genau so viele Kohlen zuzuführen, wie einer einpferdigen, ebensowenig könnte man jedem Arbeiter genau und mechanisch dieselbe und gleichviel Nahrung zumessen.”

      “Erwägen wir aber genauer, welcher Art die Güter sind, auf welche hervorragende Künstler, Forscher und Erfinder vorzugsweise Anspruch erheben werden, so werden sie wohl unter den Begriff geistiger Nahrung fallen. Das Volk also, der Abnehmer aller geistigen und materiellen Werthe, die durch Menschenarbeit geschaffen werden, hat selbst ein Interesse daran, daß höheres Verdienst auch höheren Lohn findet. Er stellt sich nämlich als produktive Auslage dar.”

      “Unsere verhältnismäßige Gleichheit folgt weit genauer dem Verdienste, als die Gesellschaftsordnung des 19. Jahrhunderts, die Milliarden des Jahresproduktes an Leute verschwendete, welche überhaupt gar nichts leisteten. Aber wir meinen, daß jeder Arbeiter, schaffe er mit den Händen oder mit dem Kopfe oder mit den Nerven, wo z. B. gespannte Aufmerksamkeit notwendig ist, sich einigermaßen aufreibt, einen Theil seines Lebens einsetzt, und das eben in verschiedenem Maße, nach Art und Menge seiner Leistung, und nach diesem Verhältnisse muß der Lohn abgestuft werden. Wie man dem Acker selbst wieder gibt, was man ihm in der Landwirthschaft entzieht, wie man den Ackergaul selbst verschieden füttert, je nachdem er mehr oder weniger angestrengt arbeitet.”

      Da unterbrach ihn das Glockenzeichen, das zur Abendmahlzeit rief, und wir pilgerten, ehe wir noch erfahren hatten, wie es mit der Kunst in der Literatur gehalten wird, nach dem großen Speisesaale. Unser Weg führte am Schwimmbecken vorüber, in dem sich noch Jung und Alt beiderlei Geschlechts tummelte, und durch den Blumengarten, der den Zwischenraum der Häuser ausfüllt. Wir fanden den Speisesaal hell erleuchtet und kaum zur Hälfte gefüllt. Man kam und ging und die hübschesten jungen Mädchen dienten als Heben von Tisch zu Tisch.

       Inhaltsverzeichnis

      Wir wollen nun mit wenigen Worten der beiden nächsten Tage gedenken, wo wir uns mehr überlassen waren, weil Zwirner sehr hart arbeiten mußte. Wir fuhren den nächsten Tag auf den Kahlenberg, wohin die Eisenbahn und eine Zahnradbahn, die vor 150 Jahren erbaut, seither aber sehr verbessert worden war, führt und von wo wir zuerst Wien, mit viel weniger Thürmen, als


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