Gesammelte Erzählungen von Anatole France. Anatole France
untersuchte, ob sie sich beim Fall irgendwelche Verletzungen zugezogen hatte, gab Buquet ihr ein Glas Zuckerwasser mit Melissenessenz zu trinken.
»Komm, Liebling, erhole dich, was zum Teufel hast du gesehen, was sagst du da?«
»O!« sagte sie, indem sie von neuem erbleichte, »ich habe Marcel gesehen«.
»Merkwürdig! sie hat Géraud gesehen«, rief Buquet.
»Ja, ich habe ihn gesehen, fuhr sie in ernstem Ton fort, er sah mich an, ohne ein Wort zu sagen – so sah er mich an«, rief sie mit verstörtem Blick.
Buquet sah mich forschend an.
»Beunruhigen Sie sich nicht«, sagte ich, »diese Störung hat nichts auf sich. Es kann sein, daß es aus dem Magen kommt. Wir werden das in aller Ruhe untersuchen. Für den Augenblick braucht man sich keine Gedanken darüber zu machen. Ich habe im Krankenhaus einen gastrischen Patienten, der sieht unter allen Möbeln Katzen.«
Als Frau Buquet sich dann nach einigen Minuten ganz erholt hatte, sah ihr Gatte auf die Uhr und sagte zu mir gewandt:
»Wenn Sie meinen, Laboullé, daß ihr das Theater nicht schaden kann, so ist es Zeit aufzubrechen. Ich werde Sophie sagen, daß sie uns einen Wagen holt.«
Adrienne setzte hastig ihren Hut auf.
»Paul, Paul,« rief sie erregt, »Herr Doktor, hören Sie, lassen Sie uns zu Géraud fahren. Ich bin furchtbar unruhig, viel mehr, als ich euch sagen kann.«
»Ach, du bist verrückt,« rief Buquet. Was willst du eigentlich, was soll ihm wohl passiert sein? Er war gestern doch noch ganz gesund!«
Sie warf mir einen jammervollen, flehenden Blick zu, der mich tief bewegte.
»Helfen Sie mir Laboullé!« bettelten ihre Augen.
Ich gab ihr das stumme Versprechen. Sie hatte mich so eindringlich gebeten.
Paul knurrte, er wollte den ersten Akt nicht versäumen.
Ich sagte:
»Lassen Sie uns erst zu Géraud fahren, der Umweg ist ja nicht groß.«
Der Wagen wartete schon. Ich rief dem Kutscher zu:
»Fahren Sie Rue du Louvre 5, und fahren Sie flott, hören Sie!«
Géraud bewohnte drei Zimmer in der Rue du Louvre 5, die immer ganz voll waren von den schönsten Krawatten. Das war der große Luxus, den der gute Junge sich leistete.
Wir hielten kaum vor dem Hause, als Buquet schon heraussprang, an die Pförtnerswohnung trat und fragte:
»Wie geht es Herrn Géraud?«
»Herr Geraud ist um fünf Uhr nach Hause gekommen,« antwortete die Pförtnersfrau »und hat seine Briefe mit hinaufgenommen. Wenn Sie ihn zu sprechen wünschen, er wohnt im vierten Stock rechts.«
Aber Buquet war schon wieder am Wagenschlag und rief:
»Siehst du, Kind, du bist nicht recht klug, Géraud ist zu Hause! Kutscher fahren Sie ins Komödienhaus.«
Aber Adrienne warf sich halb aus dem Wagen.
»Paul, ich beschwöre dich, geh hinauf, sieh nach ihm, du mußt es tun!«
»Die vier Stockwerke hinaufklettern«, sagte er achselzuckend, »Adrienne, es ist deine Schuld, wenn wir die Vorstellung versäumen, aber wenn die Frauen sich etwas in den Kopf gesetzt haben!«
Ich blieb allein mit Frau Buquet im Wagen zurück, ihre Augen funkelten in der Dämmerung, und unbeweglich starrte sie auf die Haustür.
Endlich kam Paul zurück.
»Weiß der Himmel, ich habe dreimal geklingelt, aber es meldet sich kein Mensch, Kindchen, er wird seine Gründe haben, warum er nicht gestört sein will, vielleicht hat er Damenbesuch. Das wäre doch nicht so merkwürdig.« In Adriennes Augen trat ein so tragischer Ausdruck, daß sich unwillkürlich auch in mir ein Gefühl von Unruhe zu regen begann.
»Warten Sie hier einen Augenblick auf mich!« sagte ich, »ich will mal mit der Pförtnerin reden.«
Die Frau schien auch erstaunt, daß Géraud nicht, wie er sonst zu tun pflegte, zum Abendessen ausgegangen sei. Da sie seine Zimmer rein zu machen hatte, besaß sie den Schlüssel zu seiner Wohnung. Sie nahm ihn vom Schlüsselbrett und erbot sich, mit mir hinaufzugehen. Als wir oben angekommen waren, schloß sie die Tür auf und rief vom Vorzimmer aus zwei-, dreimal: »Herr Buquet!«
Aber niemand antwortete. Es war völlig dunkel, und wir hatten keine Streichhölzer.
»Auf dem Nachttisch muß eine Schachtel mit Streichhölzern stehen,« sagte die Frau mit zitternder Stimme und wagte sich nicht von der Stelle. Ich tastete mich vorwärts. Auf dem Tisch griffen meine Finger in eine klebrige Masse.
»Das kenne ich,« dachte ich bei mir, »es ist Blut.«
Als wir endlich eine Kerze angezündet hatten, sahen wir Géraud mit zerschmettertem Schädel auf seinem Bett liegen. Sein Arm hing auf den Teppich herab, wohin der Revolver gefallen war. Ein blutbefleckter Brief lag unverschlossen auf dem Tisch. Er war an Herrn und Frau Buquet gerichtet und begann mit den Worten:
»Liebe Freunde, Ihr wart die Freude und das Glück meines Lebens…« Dann teilte er ihnen seinen Entschluß, daß er sterben wolle, mit, ohne ihnen irgendeinen Grund dafür anzugeben. Aber er deutete an, daß Geldverlegenheiten ihn dazu getrieben hatten. Ich konstatierte, daß der Tod vor ungefähr einer Stunde eingetreten war. Er hatte sich also in demselben Augenblick das Leben genommen, als Frau Buquet ihn hinter sich im Spiegel erblickt hatte.
» Ist dies nicht,« wie ich dir sagte, »mein Lieber, ein absolut erwiesener Fall von doppeltem Gesicht, oder um es präziser auszudrücken: ein Beispiel von merkwürdigem physischem Synchronismus, den die Wissenschaft heute mit mehr Eifer als Erfolg zu erforschen bemüht ist?«
»Vielleicht hatte dies doch noch eine andere Ursache,« erwiderte ich. »Hast du niemals bemerkt, daß zwischen Géraud und der Frau Buquet etwas spielte?«
»Wieso? nein, ich habe nie etwas bemerkt, und wenn auch, was hätte das damit zu tun…«
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